Die Lust am Leben entdecken

Von Jörg Oberwittler |
Schönheit, Reichtum, Prominenz. Viele Mensch haben große Erwartungen und sind enttäuscht, wenn sich diese nicht erfüllen. In der heutigen Zeit gehe es vielen Menschen so, sagt die Philosophin Rebekka Reinhard, das sei aber kein Grund, unglücklich zu bleiben.
München, Glyptothek - Rebekka Reinhard hat das "Museum antiker Steinskulpturen" als Treffpunkt vorgeschlagen. Inmitten von griechischen und römischen Statuen, von nackten Jünglingen, leicht bekleideten Frauen und Männern mit Rauschebärten: Der Händedruck ist sanft, die 40-Jährige etwas aufgeregt und kommt schnell auf den Punkt.

"Wir leben in einer Zeit, in der es uns sehr gut geht. Verglichen mit anderen Jahrhunderten. Und insofern haben doch viele Menschen eine gewisse Anspruchshaltung gegenüber dem Leben: 'Glück muss doch etwas sein, das mir zusteht! Die anderen sind doch auch glücklich. Warum bin ich nicht so schön, wie jener andere Mensch.'Und das erzeugt natürlich so eine gewisse latente und dann auch oft chronisch werdende Unzufriedenheit, die einen um Glück und Lebenssinn bringt."

Jeder Zweite im deutschsprachigen Raum ist beim Blick in den Spiegel nicht glücklich, ergab eine Studie des Marktforschungsinstituts Marketagent. Männer wie Frauen. Jugendliche wie Erwachsene.

"Mein Anspruch ist es, nicht zu belehren, aber natürlich doch im philosophischen Sinne aufzuklären, damit sich die Leute situieren können. Damit sie auch verstehen, das ist nicht ihr Fehler, warum sie so anspruchsvoll sind oder so unglücklich, sondern es sind eben typische Symptome unserer Zeit. Und natürlich auch, um sie aufzuwecken, dass sie durch ihren Geist, durch ihre Lebensausrichtung, durch ihre Einstellung diese Situation ändern können."

Nicht nur das Aussehen, das Gesamtbild zählt
Noch nie hatten Menschen so viele Freiheiten und Möglichkeiten wie heute. Doch diese Freiheit wird von immer mehr Menschen eher als Last denn als Lust empfunden, stellt Rebekka Reinhard fest, eine blonde, zierliche Frau, der man die 40 Jahre keineswegs ansieht. Statt über den Sinn des Lebens nachzudenken, kreisen die Gedanken ums Aussehen.

"Ah, hier müsste Marc Aurel sein."

Rebekka Reinhard bittet in die Halle des "Kouros", einer antiken Statue, die in ihrem Buch eine zentrale Rolle spielt. Aufgerichtet steht ein junger Athlet in der Mitte. Muskulös, durchtrainiert und doch nicht perfekt.

"Die Taille ist sehr schmal, die Oberschenkel sind fast ein bisschen weiblich gerundet dagegen. Also, es sind so gewisse leichte Verzerrungen da. Aber nichtsdestotrotz: Was ins Auge sticht, wenn man sich das Gesamtbild anschaut, ist natürlich diese unglaubliche Ganzheit und vor allem diese dynamische Spannung. Er ist im Begriff sich zu bewegen, und das macht eben diese ungeheure Magie und Dynamik aus."

Wenn schon die Griechen zu dicke Oberschenkel in Stein meißelten, warum können wir uns dann nicht mit unseren zu kräftigen Beinen, zu breiten oder zu flachen Hintern abfinden, fragt die Philosophin.
Ortswechsel. Die Sonne scheint in das Museums-Café im Innenhof. Rebekka Reinhard setzt sich an einen der runden Tische. An den zierlichen Fingern trägt sie drei große Ringe mit farbigen Steinen. Erbstücke.

"Von meinem Umfeld war ich immer ein Kind, das halt sehr neugierig diese Warum-Fragen gestellt hat. Das immer aufs Wesentliche kommen wollte. Auch ein Kind, das sich nicht brav den anderen Kindern angeschlossen hat, sondern halt eher ein bisschen renitent war. Und das bin ich eigentlich bis heute. Also, ich hab ein großes Talent, mich immer zwischen die Stühle zu setzen."

Philosophie im Dialog
Schon als Mädchen hat sich Rebekka Reinhard für Philosophie interessiert. Sie wächst in München gut behütet als Einzelkind auf. Der Vater Anwalt, die Mutter Kunsthistorikerin. Die Eltern fördern ihr Interesse für die Geisteswissenschaften. Sie studiert Philosophie in München und Venedig und macht zusätzlich eine psychotherapeutische Ausbildung. Doch schnell merkt sie, dass sie in die Uni-Welt nicht passt. Sie will keine "Denk-Beamtin" sein. Dann das Schlüsselereignis: Ein guter Freund erkrankt an Schizophrenie.

"Dieses Erlebnis hat mich dazu motiviert, meine Schreibtischtheorie praktisch werden zu lassen. Ja, wie man einfach Philosophie im Dialog betreibt. Auch eben gerade im Dialog mit Nicht-Philosophen. Und das finde ich das Spannende. Also wirklich den unmittelbaren Zusammenprall von der Philosophie und vom Leben."

Mit Krebspatienten spricht sie darüber, wie sie die letzten Jahre oder Monate ihres Lebens erfüllt gestalten können. Vor Managern hält sie Vorträge über philosophische Strategien für den Umgang mit Stress, Leistungsdruck und Krisen. Und in ihrer Praxis in München berät sie in Einzelsitzungen.

Auch in ihren Büchern ist die Sinn-Frage immer wieder roter Faden. Rebekka Reinhard hält es ganz mit Immanuel Kant: Befreie dich aus deiner Passivität. Weg vom Gefallen-Wollen hin zu einem 'schönen Leben': ein engagiertes, aktives und unabhängiges Leben von den Meinungen anderer. Und mit einem gesunden Verhältnis zum Älterwerden. Und wie sieht sie sich selbst im Alter?

"Die Frau mit den fliegenden Strähnen vielleicht. Ich weiß es nicht. Ich denke, wenn man im Alter körperlich fit ist, dann kann es sehr bereichernd sein. Gerade, weil natürlich auch der Tod näher rückt und weil es einem viel leichter fällt oder zumindest leichter fallen sollte, Prioritäten zu setzen. Und eben vor allem auch die Dinge zu sehen, die man hat, und nicht immer nur das zu beklagen, was man nicht hat."