Die Logik von Mathematik und Astrologie

Von Uwe Springfeld |
China. Das Land der aufgehenden Sonne. Doppelt so groß wie die Europäische Union, drei mal so viele Einwohner und 2100 Jahre kontinuierlicher kultureller Entwicklung von der Reichsgründung vor Christus bis zum Ende des Kaiserreichs am 12. Februar 1912. Unbestritten, eine Hochkultur. Allerdings: Wo ist aus dieser Zeit Chinas Beitrag zu den Naturwissenschaften? Gab es sie dort? Ließen sich aus der Kultur und Denkweise des alten China überhaupt moderne Naturwissenschaften und entwickeln?
Wir schreiben das fünfte Jahrhundert vor Christus. Überall auf de Welt regt sich etwas, aus dem sich die modernen Wissenschaften entwickeln könnten. Im antiken Griechenland spekulieren die Philosophen über die Natur: Nicht das unerklärliche Wirken von Göttern sei für die Phänomene verantwortlich. Keine übernatürlichen Kräfte wirken auf die Natur ein. Sondern die Natur selbst bringt all die Phänomene hervor, die den Menschen unerklärlich erscheinen.

Das fünfte Jahrhundert vor Christus, am gegenüberliegenden Ende des eurasischen Kontinents. Auch hier zeigen sich zarte Spuren einer aufkommenden Naturwissenschaft, sagt der Sinologe Doktor Joachim Kurtz von der Emory University in Atlanta, Georgia, USA.

„Es gab einen Philosophen namens Moh-Di, der im 5. bis 12. Jahrhundert vor Christus gelebt hat und der hatte verschiedene Schulen von Adepten. Und eine dieser Schulen hatte uns den mohistischen Kanon hinterlassen, eine Sammlung von Fragmenten, die teilweise sich auf die Mechanik beziehen, teilweise auf die Optik und teilweise scheinen sie sich auf die Logik zu beziehen.“

Zu Moh-Dis Zeiten ist es unruhig in der Region, in der einmal das chinesische Kaiserreich entstehen wird. Man spricht von der Zeit der streitenden Reiche. Teilweise über 70 verschiedene Fürstentümer kämpfen um die Vorherrschaft in der Region. In all dem Wirrwarr entsteht ein Beruf, den sechzig Jahre vor Moh-Di schon dessen Vorgänger, Konfuzius, ausgeübt hat: der Wanderphilosoph. Männer, unzufrieden mit der gesellschaftlichen Situation, ziehen durch die Lande, um die Herrscher für ihre Ideen zu gewinnen.

Joachim Kurtz: „Diese Fürstenberater haben versucht, ihre Dienste zu verkaufen und ihre Dienste waren vor allem theoretischer Art. Und eine Möglichkeit, ihre Dienste zu verkaufen, war, dass sie ihren Fürsten zeigen konnten, sie waren in der praktischen Diskussion, in der Debatte ihren Widersachern überlegen. Und aus dieser kontroversen Form der Diskussion haben sich Ansätze einer Theorie der Logik entwickelt.“

Wie alle Wanderphilosophen beschäftigen sich auch Moh-Di und Konfuzius mit Fragen einer perfekten Gesellschaftsordnung. Trotzdem haben ihre Überlegungen auch Auswirkungen auf die Naturwissenschaften.

Im Kern beider Philosophien steht die Ordnung im Staat, in der Natur und im ganzen Kosmos. Nach Konfuzius geht diese Ordnung von der Achtung der Menschen voreinander aus und gipfelt in einer Weltanschauung, in der die zwischenmenschliche Ordnung zu einer allumfassenden Harmonie in der Natur und dem Kosmos heranwächst. Solch eine Harmonie gibt es aber nur, wenn beispielsweise der Kosmos und das gesamte Verhalten der Natur das soziale Verhalten der Menschen beeinflussen kann. Mit dieser Sichtweise stößt Konfuzius die Tür zur Astrologie und der Orakelkunde auf.

Moh-Di ist realistischer, weniger auf Schmusekurs mit dem Universum als Konfuzius vor und Lao-Tse nach ihm. Dreh- und Angelpunkt der staatlichen Ordnung ist für ihn der Eigennutz. Seiner Vorstellung nach handelt jedermann zum eigenen Vorteil. Deshalb müssen die Menschen mit Strafe und Belohung zur Rechtschaffenheit geführt werden. Nur: Wenn besondere Gesetze für Menschen erlassen werden, warum kann es dann nicht auch spezielle Regeln für den Kosmos, die Natur und die ganze Welt geben?

Allein der Gedanke an die Nützlichkeit steht den Naturwissenschaften vorläufig noch im Wege. Also eine Frage, wie man sie auch heute oft stellt. „Wofür kann man's brauchen?“ Oder: Welche Produkte lassen sich daraus entwickeln?

Dieser Gedanke „es muss sich irgendwie lohnen“ unterscheidet Moh-Dis Philosophie auch von den Gedanken am anderen Ende des eurasischen Kontinents. Wie sein griechischer Kollege Archimedes hat auch er sich beispielsweise mit dem Hebelgesetz beschäftigt. Während Moh-Di daraus eine Balkenwaage konstruiert, ruft Archimedes zutiefst philosophisch: „Gebt mir einen festen Punkt und ich hebe euch die Welt aus den Angeln.“ – ein Gedanke, der sich bis heute in der Astronomie und Physik wiederfindet.

Doch allein das Denken „Was hab ich denn davon“ verhindert keine Naturwissenschaften. Zu Moh-Dis Zeiten, in der Ära der streitenden Reiche, stehen die Fürsten vor einem einfachen, politischen Problem. Wie setzt man in diplomatischen Verhandlungen die eigenen Argumente durch? Wie bringt man die anderen Fürsten dazu, die eigenen Argumente als wahr und stichhaltig anzusehen? Moh-Di entwirft die Anfänge einer Rhetorik. Seine Schüler jedoch formalisieren diese Ansätze. Sie entwickeln daraus Grundzüge einer formalen Logik, sagt Joachim Kurtz.

„Wir haben gewisse Textfragmente der Mohistischen Schule, etwa 3. Jahrhundert vor Christus, wo wir Elemente finden, die sich auch in Aristoteles‘ Theorie des formalgültigen Schließens finden. Unter anderem ist da eine Theorie der Definitionen, eine Theorie von Analogien, wie man Analogien gültig ziehen kann, und es gab so etwas ähnliches wie Klassenlogik. Also was sind Klassen von Dingen und wie können die miteinander verglichen werden. Das ist allerdings alles, was wir haben.“

Grundsätzlich ist Logik eine feine Sache. Man befolgt ein paar Regeln und bekommt heraus, was wahr ist und was falsch. Im fernen Griechenland hat sie Aristoteles formalisiert. Syllogismus nennt er die wiederkehrende Argumentationsstruktur. Zu deutsch: Logischer Schluss. Damit hat diese Wissenschaft ihren Namen bekommen: Logik. Erst macht man die eine Voraussetzung, dann die zweite, dann liegt die Schlussfolgerung auf der Hand.

Ein Beispiel: Wer als Mieter keine Miete zahlt, fliegt aus seiner Wohnung. Ich bin Mieter und zahle keine Miete. Also: Trübe Aussichten.

Was soll an solchen Gedanken verkehrt sein? Hundert Jahre nach Moh-Di widerspricht der Schriftsteller Zhuāngzi. Zhuāngzi ist nicht irgendwer, sondern Autor des Buches „Vom südlichen Blütenland“, des zweiten Hauptwerks des Taoismus, neben dem Daodejing. Darüber hinaus ist Zhuāngzi der Philosoph, der erstmals sagt, die mythische Lebenskraft Qi sei die Grundlage allen Lebens.

Zhuāngzi will die Bedeutung der Logik nicht in den Kopf. Er will keine Wissenschaft, die zwischen wahr und falsch unterscheidet, zwischen recht haben und nicht recht haben. Im politischen Streit, so argumentiert er, behaupte jeder, er habe recht. Wo aber sei der höhere Richter, der das entscheide, der dieses Recht spreche?

Joachim Kurtz: „Zhuāngzi war ein großer Skeptiker und Relativist, ein Philosoph, der Humor hatte und der sagte: Alles, was wir im Leben tun können, ist zu versuchen, keine Unterscheidung in der Welt zu treffen. Sobald wir eine Unterscheidung treffen, dieses ist gut und dieses ist schlecht, geraten wir in Streitigkeiten, und Streitigkeiten enden meist gewaltsam. Das war eine Grunderfahrung seines Daseins. Das war ‚ne Theorie des Überlebens, die aus der Erfahrung der streitenden Reiche geboren war.“

Bevor sich im alten China die Logik auch nur hätte so weit entwickeln können, dass sich für sie ein originär chinesisches Wort gefunden hätte, ist sie schon wieder verschwunden. Ähnlich ergeht es den anderen Naturwissenschaften. Aus kulturellen Gründen haben sie sich in China nie entwickelt, sagt der Grandseigneur der chinesischen Wissenschaftsgeschichte, Doktor Nathan Sivin von der University of Pennsylvania, Philadelphia, USA:

„Wenn wir über Wissenschaft sprechen, neigen wir dazu anzunehmen, wir meinen Physik, Biologie und so weiter. Das ist aber ein speziell westlicher Gesichtspunkt. Jede Kultur hat ihre eigene Vorstellung von der Natur entwickelt. Aber die Art, wie sie sich entwickelt und was sie hinzulernt, ist von den anderen verschieden.“

Wir schreiben das Jahr 221 vor Christus. Das chinesische Kaiserreich wird gegründet. Die mohistische Philosophie hat sich aber nicht durchsetzen können. Der geschichtliche Moment, in der die modernen Wissenschaften hätten Wurzeln schlagen können, ist vorbei. Der Konfuzianismus und der Taoismus sind die herrschenden Lehren im Reich. Man glaubt an eine Harmonie im Kosmos, Natur, Staat und Familie. Dieses Denken schließt schon die Idee von Naturgesetzen aus.

Nathan Sivin: " Denn das setzt einen Gesetzgeber voraus. Jemanden, der ein Gesetz erlässt und es per Edikt verkündet. Und die Chinesen waren da anderer Meinung. Sie glaubten nicht, dass die Welt erschaffen wurde; sie brauchten keinen Schöpfer. Der Gedanke, dass die Welt erschaffen wurde, kam erst später im Westen auf, aber niemals in China."“

Typisch chinesische Wissenschaften entwickelten sich. Bei einer Reihe von ihnen geht es um Störungen von etwas, das der Philosoph Zhuāngzi entdeckt hat und der Taoismus Qi nennt. Das Qi selbst ist der Ursprung der Welt, die Lebenskraft im Universum. Das Qi der Sonne beispielsweise trägt zum Wachstum der Pflanzen bei. Im Menschen verteilt das Qi der Leber das Blut im Körper. Das Qi der Mutter behütet das Kind, das Qi der Erde trägt das Haus. Dieses Qi muss fließen und die Raumplanung Feng Shui zum Beispiel manipuliert diesen Fluss. Die traditionelle chinesische Medizin dagegen untersucht die Leiterbahnen des Qi im menschlichen Körper, die Meridiane, und versucht, Stauungen durch Akupunktur aufzulösen oder durch die Bewegungsübungen Qigong zu verhindern.

Andere Wissenschaften beschäftigen sich dagegen mit der Vorhersage von Schicksalen. Die Orakelkunde beispielsweise liest die Zukunft aus dem Vogelflug. Die Astronomie beschäftigt sich nicht, wie in Europa, mit der Position von Sternen und Planeten. Zusätzlich interpretierte sie den Himmel. Sonnen – und Sonnenfinsternisse, Planetenkonstellationen, Sternbilder.

Nathan Sivin: „Teil der Ideologie, wie sie im 3. und 2. Jahrhundert vor Christus für das Kaiserreich herausbildete, war die Vorstellung, der Kaiser sei Mittler zwischen der kosmischen und der gesellschaftlichen Ordnung; eine Art Warnsystem, das ihm von der kosmischen Ordnung garantiert wird.“

Die chinesische Astrologie beschäftigt sich dagegen mit unvorhersehbaren Himmelsereignissen wie dem plötzlichen Auftauchen von Kometen.

Lediglich die chinesische Mathematik ähnelt der europäischen. Jedoch nur als angewandte Mathematik. Was lässt sich berechnen, was kann man kalkulieren. Eine reine Zahlenlehre, wie am anderen Ende des eurasischen Kontinents von Pythagoras entwickelt, gibt es nicht.

Wir sind in der Zeit um 180 vor Christus.

Mao Tian: „Das hier ist das ‚Buch der neun Kapitel‘. Eine Art mathematischer Gleichung befindet sich in diesem Kapitel. Es gibt keine Buchstabenform der Gleichungen. Die mathematischen Aufgaben sind folgendermaßen angeordnet. Die Gleichungen – wir hatten keine schriftliche Form wie heute – sind senkrecht angeordnet. Etwa: Drei Teile der geernteten Hirse waren sehr gut, zwei Teile gingen so und ein Teil war schlecht. Zusammen wurden 39 Bündel geerntet. Wenn die Ernte eines anderen Dorfes zu zwei Teile sehr gut ist, drei Teile mittlere Qualität haben und ein Teil schlecht ist, sie jedoch zusammen 34 Bündel ergeben, wie viel wurden dann insgesamt von jeder Qualität geerntet? – Wenn man die beste Qualität x nennt, die mittlere y und die schlechteste z, erhält man ein System von Gleichungen mit mehreren Unbekannten.

Vielleicht kann ich Ihnen zeigen, wie es geht. Lassen Sie uns zuerst die Ziffern 3,3,2,1 schreiben. Das Ergebnis lautet: 39. Und dann die 2,3,1. Das Ergebnis ist 34. Nun ziehen sie hier ab. Das ergibt dann Null und jetzt können sie die Unbekannten nacheinander ersetzen und ausrechnen.“

Eine zentrale Staatsmacht muss rechnen: Wie lange braucht ein Bote von hier nach da, wie viel Verpflegung muss man für das Heer bereitstellen, wie ist die Ernte? Wie man solche Probleme in den Griff bekommt, finden die Mathematiker in einem Buch, das lange vor der Reichseinigung geschrieben wurde, sagt Miao Tian, Wissenschaftshistorikerin an der Akademie der Wissenschaften in Peking.

„Das erste Buch hieß ‚Die Bände des Suan Shu‘. Oder ‚die Bücher des Suan Shu‘. Also Suan Shus Mathematik oder Buch des Rechnens. Die Rechenmethode. Das heißt, das Buch beschreibt eine Rechenmethode, die auf neun Kapitel aufgeteilt wurde.“

Chinesischen Mathematikern steht für ihre Kalkulationen ein recht modernes Instrumentarium zur Verfügung. Sie unterscheiden zwischen einem Wort und dem Symbol für eine Zahl, die Ziffer. Dabei verwenden sie das Dezimalsystem.

Mao Tian: „Von Anfang an gab es eine Art Dezimalsystem in China. Erst kürzlich wurde in einem Grab ein Buch namens Sun Sushu also Bambus-Buch gefunden. Die Zahlen dort wurden im Dezimalsystem angeordnet.“

In der europäischen Antike kennt man keine Ziffern. Man schreibt Zahlen und Buchstaben mit den selben Zeichen. Das macht die Mathematik kompliziert. Man merkt es heute noch, wenn man an einem Bauwerk eine römische Jahreszahl entschlüsseln will. Dann steht man vor einer Kette in Stein gemeißelter Buchstaben und kalkuliert: M D CC L X – egal.

Schriftliches Rechnen, wie man es bis in die Schulen einer Vorära der Taschenrechnerzeit lernt, ist mit solchen Buchstaben-Zahlen nicht möglich. Beim routinierten Rechnen mit Zahlzeichen hingegen fallen einem Regelmäßigkeiten auf. Solche Wiederholungen machen das Kalkulieren auf Dauer leicht. Man kann daraus feststehende Rechenregeln ableiten. Eben Mathematik. Und wenn man jetzt noch ein mechanisches Schreibwerkzeug hat, kann man diese Regeln in schlichte Handlungsanweisungen übersetzen. Wenn du addierst, mach das so und so. Einfache Stempel genügen dafür.

Mao Tian: „Sie gebrauchten kleine Stempel. Kleine Stempel zum Rechnen. In der Art, wie sie die Ziffern anordneten. Eine eins war so, zwei, drei, vier – man nahm einfach kleine Stempel. Und fünf geht so.“

Im Jahr 263 nach Christus wird das Buch der neun Kapitel neu geschrieben. Autor: Der Mathematiker Liu Hui. Er geht dabei einen entscheidenden Schritt weiter als alle chinesischen Mathematiker vor ihm. Er schreibt nicht nur seine Ergebnisse hin und sagt: Glaubt mir. Er ist der erste, der beschreibt, wie er rechnet, sagt Miao Tian.

„Der Grund, weshalb er solche Kommentare schrieb, war schlicht und einfach die Beweisführung. Das ist die Mathematik der klassischen Antike. Die klassische Aussagenlogik, bei der man beweisen musste, dass man Recht hatte. Dieser Nachweis ist also der mathematische Beweis. Anders in China. Hier wollte man die Mathematik verdeutlichen, die Gründe hinterm mathematischen Vorgehen.“

Liu Huis mathematische Leistungen kann man Weltspitze nennen. Er löst lineare Gleichungssysteme, berechnete die Zahl Pi so genau wie kaum zuvor, und kalkuliert die Volumina verschiedener geometrischer Körper.

Auf diesem Stand des Wissens angekommen, ist die Stellung der Mathematik noch für Jahrhunderte unangefochten. Der chinesische Staat kommt ohne seine Rechenkünstler nicht mehr aus.

Wir schreiben das fünfte Jahrhundert nach Christus, tausend Jahre nach dem Wirken des Philosophen Moh-Di. Dem Land bietet sich eine große wissenschaftliche Chance. Aber man erkennt sie nicht – man kann sie nicht erkennen. Wie auch? Die Logik, Grundlage der Mathematik, war als angewandte Wissenschaft mit ihrem Kundenkreis, den Fürsten der streitenden Reiche, ausgestorben. Nun kommen buddhistische Missionare ins Land und bringen genau diese Form des Argumentierens mit. Logik. Dazu Joachim Kurtz.

„Wir haben eine Theorie des formalgültigen Schließens zum ersten Mal ausformuliert auch im Chinesischen in dieser Zeit. Das Problem dabei war, dass chinesische Rezipienten dieser Theorie natürlich gemerkt haben, dass sie von Buddhisten vorgebracht wird und dass sie sehr stark mit deren religiösen Absichten verbunden war. Und deshalb hatten sie eine gewisse Skepsis.“

Ein Literat nimmt sich dieser Logik an. Xuanzang. Ein weit gereister Mensch. Über die Seidenstraße und Samarkand führt sein Weg ins Harsha-Reich, im Gebiet des späteren Indiens. Er will den Buddhismus an seinem Ursprung studieren. Er übersetzt Texte zur Logik aus dem Sanskrit. Doch berühmt wird er durch einen chinesischen Roman, der sein Leben beschreibt: „Die Reise nach dem Westen.“

Die buddhistischen Missionare haben keinen Erfolg. Ihre Logik bleibt auf die Klöster im Lande beschränkt. Und als etwa 1000 Jahre später christliche Jesuiten China mit derselben Methode, der Logik, missionieren wollen, stoßen sie auf die gleichen Probleme. Ob Indisch oder Aristotelisch, man hört den Logikern höflich zu und geht dann seiner Wege.

Zur selben Zeit, als buddhistische Missionare vergeblich auf die Überzeugungskraft ihrer Logik setzen, merkt der Staat: Ohne ihre Rechenkünstler kommt er nicht aus, sagt Miao Tian.

„Ab dem 7. Jahrhundert wurde die Mathematik in die Ausbildung an der wissenschaftlichen Akademie des Kaiserlichen Hofes aufgenommen. Insbesondere das Buch der neun Kapitel war hier das Standard-Lehrbuch für den Unterricht.“

Was können im 7. Jahrhundert chinesische Rechenkünstler alles berechnen. Multiplikation und Division, Wurzel ziehen, Reihenbildungen und Gleichungen mit X-Quadrat, X hoch drei – kein Problem. Damit kalkulieren sie Mondfinsternisse, den Stand von Planeten, Sterne und Steinen auf dem chinesischen Brettspiel Go. Steueraufkommen, Arbeitseinsätze für große Bauwerke, die Logistik der Armee. Solche Notwendigkeiten, könnte man glauben, bilden ein sicheres Fundament für einen ungeahnten mathematischen Aufschwung. Falsch.

Im 14. Jahrhundert versteigen sich die Rechenkünstler derart in ihre Wissenschaft, dass sie die Realität aus den Augen verlieren, sagt Miao Tian.

„Da stellen sich neue Aufgaben, zum Beispiel, wenn man ein solches Projekt in Angriff nimmt, ein Bauwerk beispielsweise, wie viele Leute braucht man? Das Ergebnis könnte dann so aussehen: Wir benötigen 500 Arbeiter und einen drittel Arbeiter. Natürlich wissen wir, dass es einen drittel Arbeiter nicht gibt. Aber den Mathematikern war das egal. Sie haben gerechnet und kamen nun mal zu diesem Ergebnis.“

Auch echte mathematische Leistungen stellen der Wissenschaft ein Bein. Man soll das berechnen, was gebraucht wird. Im 13. Jahrhundert sind chinesische Mathematiker allerdings so weit, dass sie an Gleichungen arbeiten, in denen ein X hoch 14 steht. Also an wirklich schwierigen und komplexen Aufgabenstellungen. Dafür gibt es aber keine konkreten Anwendungen. Nichtmathematiker wissen mit solchen Fragestellungen nichts anzufangen und wollen sie auch nicht verstehen. Trotzdem haben sie das Sagen in der Mathematik, sie sind die Kunden. Also wird die mathematische Forschung an der kaiserlichen Akademie eingeschränkt. Die Mathematik selbst reduziert sich aufs Rechnen, aufs Kalkulieren des Notwendigen. Das erscheint zwar gegenwarts- und praxisnah, entpuppt sich aber als eine sehr kurze Sackgasse für den Fortschritt.

Die Logik von Mathematik und Astrologie – die Geschichte der Wissenschaften in China. Wo soll man einen vorläufigen Schlusspunkt setzen? Im Jahr 1982, als der Chinese Shing-Tung Yau, geboren in Shantou und heute Professor an der Harvard-University, mit der Fields-Medaille ausgezeichnet wurde, dem Nobelpreis für Mathematiker? Oder um die Wende zum 20. Jahrhundert, als sich China buchstäblich einen Begriff von der Logik machte?

Joachim Kurtz: „Heute heißt sie Loa-ti – das ist im Grunde eine phonetische Übersetzung. Nach dem englischen Logic. Aber es gab auch andere Vorschläge. Ein Vorschlag war: Wir könnten sie ja nennen die Theorie der Namen. XXX. Weil es diese Schule der Namen, der Dialektiker, die ich vorhin genannt hatte, früher gab – und man im Grunde versucht hat, da einen Zusammenhang herzustellen über die Übersetzung des Wortes.“

Wie kamen die modernen Wissenschaften nach China, wenn sie dort nicht selbst erfunden wurden? Wenn die chinesische Kultur des Kaiserreichs derart resistent gegen wissenschaftliche Ideen war? Die Antwort liegt auf der Hand: Krieg. Krieg, der die chinesische Kultur an den Rand des Zusammenbruchs führt.

Mitte des 19. Jahrhunderts. Die europäischen Kolonialreiche Großbritannien, Frankreich und Deutschland stehen an Chinas Grenzen. 1840: erster Opiumkrieg. 1857: zweiter Opiumkrieg. Hinzu einer der brutalsten Bürgerkriege der Menschheitsgeschichte. Der zum christlichen Mystiker gewordene Hong Xiuquan kämpft im Taiping-Aufstand um ein Gottesreich auf Erden. 30 Millionen Menschen verlieren dabei ihr Leben.

Zweitausend Jahre chinesischer Kultur sind fast komplett zerschossen und zerbombt. Aber westliche Wissenschaft und westliches Denken scheinen erfolgreich zu sein. Beides hat Kanonenboote auf den Yangzi gebracht und fanatischen Konvertiten die Stadt Nanjing beschert. Aber kann es Naturwissenschaften in chinesischer Tradition geben? Beispielsweise eine chinesische Logik?

Joachim Kurtz: „Das wird nur sehr vereinzelt behauptet, dass es eine Logik des Ostens geben könne. Im Grunde nehmen das Logiker in China nicht ernst. Es gibt auch in China natürlich das, was im Westen unter dem Namen der Esoterik firmiert, dass es nämlich ein bestimmtes ganzheitliches Denken gäbe, aber das ist auch in China eine Minderheitenposition.“

Erste Studenten gehen ins Ausland und importieren westliche Naturwissenschaften. Diese Wissenschaften werden später an eigenen Bildungsstätten unterrichtet. Philosophisch beruft man sich dabei weniger auf Konfuzius und den Taoismus, sondern wieder auf die erhaltenen Fragmente des Mohistischen Kanons. Moh-Di gibt heute das irrige Bewusstsein, eigentlich hätte man die modernen Naturwissenschaften auch in China entwickeln können. Doch die Geschichte lief anders. Heute gibt es kaum einen Unterschied zwischen einem logischen Gedanken aus China, den USA oder Deutschland. Kein Unterschied darin, wie Physik, Mathematik, Biologie, Chemie und Astronomie betrieben werden.

Joachim Kurtz: „In China ist das so, es ist einfach ein Teil der wissenschaftlichen Weltgesellschaft und es gibt immer noch so ein bisschen diese historischen Bemühungen, die chinesische Tradition zu archivieren und man stellt sich immer noch die Frage: Warum hatten wir keinen Aristoteles – aber ich glaube, das wird sich totlaufen.“

China. Das Land der aufgehenden Sonne. Doppelt so groß wie die Europäische Union, drei mal so viele Einwohner und 2100 Jahre kontinuierlicher kultureller Entwicklung von der Reichsgründung vor Christus bis zum Ende des Kaiserreichs am 12. Februar 1912. Unbestritten, eine Hochkultur. Allerdings eines ließ sich aus dieser Kultur heraus nicht entwickeln: die Naturwissenschaften.