Die Linie wächst aus dem Punkt

Von Nicole De Bock |
In einer umfassenden Ausstellung mit über 200 Exponaten wird die allseits bekannte Kunst des "Blauen Reiters" und der "Brücke" in einem neuen Zusammenhang gezeigt. "Freiheit der Linie" heißt die Bilderschau, die im Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte in Münster präsentiert wird. Erstmals werden in dieser Ausstellung die Ursprünge des Expressionismus im Münchener Jugendstil um 1900 aufgezeigt.
"Dieses berühmte Bild 'der Kuss' macht deutlich worum es im Jugendstil geht: man sieht eigentlich nur zum Teil noch Gegenstände, nämlich zwei Gesichter, die sich begegnen und man sieht dann vor allem Linien."

Erich Franz ist Kurator der Ausstellung "Freiheit der Linie" im Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte in Münster. Er beschreibt den Holzschnitt "Der Kuss", ein Werk von Peter Behrens aus dem Jahre 1900. Zwei Gesichter, mit braunen, langen, welligen Haaren, die sich in schwungvollen, fließenden Bewegungen ineinander verschlingen und das ganze Bild umrahmen, ja bestimmen.

Hier transportiert die Formgebung der Haare den Inhalt des Bildes: Innigkeit! Die zentrale Figur des Münchener Jugendstils war Hermann Obrist. Wie viele andere Künstler um 1900 hatte er sich dem Kunsthandwerk zugewandt.

"Er hat tatsächlich mit einer Ausstellung von über 30 Stickereien in München Furore gemacht. Er hat wirklich eine Revolution in der Kunst bewirkt 1896. Da war eines der wichtigsten Werke diese Wandbehang mit Alpenveilchen, mit goldener Seide auf grünlichem Grund gestickt und dieses Alpenveilchen ist nun so abstrahiert worden, dass es in eine ungeheueren kurvigen Geschwindigkeit sich über diese Fläche bewegt und eigentlich nur noch Bewegung darstellt."

"Wie die jähen, gewaltsamen Windungen der Schnur beim Knallen eines Peitschenhiebes erscheint uns diese rasende Bewegung."

Schreibt damals ein Kunstkritiker. Extra für die Ausstellung wurde das brüchig gewordene Original des Wandbehangs, in mehr als 600 Stunden Handarbeit, nachgebildet und ist in Münster zu bewundern. Dass die Linien nicht mehr nur Grenzen von Formen sind, war damals neu. Im Münchener Kunstraum war Obrist der erste der durch Linien Gefühle zum Ausdruck brachte, ähnlich wie in der Musik, in der ja schon immer allein durch Bewegung und durch Formen Inhalte ausgedrückt wurden.

Neben Wandbehängen, Kunsthandwerk und Bildern zahlloser Jugendstilkünstler, zeigt die Ausstellung unter anderem Frühwerke von Wassily Kandinsky, Franz Marc und Paul Klee, denen sie jeweils einen kompletten Saal widmet.

Kandinsky, der seit 1896 in München Kunst studierte und 15 Jahre später die
Künstlergemeinschaft "Der Blaue Reiter" mitbegründete, war vom Jugendstil fasziniert. Der Jugendstil führte ihn dazu ungegenständliche Formen zu entwickeln.

"Tatsächlich war für Kandinsky die Entwicklung der Abstraktion unmittelbar damit verbunden, dass er die Linie befreit hat. Und zwar hat er sie befreit davon, dass sie Begrenzung von Flächen war. Und in der Zeit 1911 bis 1912 war es sein großes Abenteuer, das hat er selbst auch in einem Brief beschrieben, das die Linien nicht mehr mit den Flächen übereinstimmen."

In der Ausstellung sieht man wie Kandinskys früheste Werke unmittelbar vom Jugendstil beeinflusst wurden. In einem Entwurf für den Umschlag des Almanachs "Der Blaue Reiter"
spielt der Künstler mit verschiedensten Arten der Linienbewegung.

"Der Unterschied zum Jugendstil ist, dass sie nicht mehr miteinander harmonieren, sondern Gegensätze darstellen."

Franz Marc, ebenfalls Vertreter des Blauen Reiters, entwickelt durch die Begegnung mit dem Jugendstil frei verlaufende phantasievolle Linien, voller Gefühlsausdruck. Bei der Kohlezeichnung "Rehe an der Quelle" zitiert der Kurator den Künstler so:
"Man solle ein Reh malen, nicht so wie der Maler fühlt, sondern wie das Reh sich fühlt. Man soll sich in das Tier hineinfühlen und entsprechend zum Beispiel beim Pferd kraftvolle Kurven zeichnen und bei einem Reh schnelle und leichte Bewegungen, also entsprechend der Bewegungsart oder der Lebendigkeit der Tiere ein unterschiedlicher Bewegungsstil einsetzen."

Für den Blauen Reiter Künstler Paul Klee, setzt sich immer ein Punkt in Bewegung und wird zur Linie. In einem Vorlesungsmanuskript behauptet Klee:

"Der Punkt kommt in Bewegung und es wächst ein wesentliches Gebilde auf Gestaltung beruhend."

"Es gibt ganz unterschiedliche Arten wie sich die Bewegungen entwickeln, entweder wie bei einem Spaziergänger, der also durch ein Park schweift oder wie ein Hund ohne Leine, der also zu allen möglichen Laternenpfählen und allen möglichen Duftmarken hin und herwandert und auf diese Zeichnung sieht man genau diese beiden Bewegungsarten, ein Spaziergänger und ein Hund ohne Leine."

Was in der Ausstellung auf den ersten Blick wie eine kindliche Zeichnung anmutet, Gekritzel in dem man nichts erkennen kann als zwei völlig verschiedene Linienführungen, entpuppt sich beim näheren Betrachten als ein Manifest. Paul Klee macht deutlich, dass eine Linie nicht die Verbindung zwischen zwei Punkten ist, sondern gleich einer Pflanze organisch aus dem Punkt wächst und immer wieder andere Empfindungen hervorruft.
Der Einfluss des Jugendstils auf die Künstlergruppe "Die Brücke" , die 1905 gegründet wurde beschränkt sich im wesentlichen auf Ernst Ludwig Kirchner. Zwei Jahre vor dem Entstehen der Brücke, verblieb Kirchner in München, wo er Akt und Komposition bei Hermann Obrist studierte. In der Ausstellung sieht man Bilder Kirchners, die mit schnellem Strich gezeichnet sind und unmittelbar Aktion und Bewegung ausdrücken. So die Lithographie das "Tanzpaar" oder "Vier weibliche Akte im Atelier".
Die Ausstellung "Freiheit der Linie", sie deckt auf detaillierte Weise die zahllosen Parallelen auf zwischen Jugendstil und den frühen expressionistischen Arbeiten deutscher Künstler und eröffnet so eine neue Perspektive auf den Beginn der Moderne!


Service:
Die Ausstellung "Freiheit der Linie. Von Obrist und dem Jugendstil zu Marc, Klee und Kirchner ist im Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte in Münster bis zum 17. Februar 2008 zu sehen.