Die Liebe im Zentrum

Klaas Huizing im Gespräch mit Herbert A. Gornik |
Der Theologe Klaas Huizing plädiert in seinem Buch "Fürchte dich nicht - Die Kunst der Entängstigung" für einen richtigen Umgang mit der Angst. Gerade die Literatur sei "ein idealer Übungsraum", so Huizing.
Herbert A. Gornik: Wir sind live auf der Frankfurter Buchmesse. Hörerinnen und Hörern des Deutschlandradio Kultur ist Klaas Huizing gut vertraut als Buchautor, "Calvin ... und was vom Reformator übrig blieb", und als wortgewandter Kenner calvinistischer Kulturmuster in unserer großen Sendung aus Genf damals zum 500. Geburtstag des Reformators im Juli. Sein neues Buch: "Fürchte dich nicht. Die Kunst der Entängstigung" heißt dieses Buch und ist in der edition chrismon wiedererschienen. Zunächst habe ich Klaas Huizing gefragt, was er denn als Theologe unter Entängstigung versteht.

Klaas Huizing: Die Religion hat, wenn sie denn einen Sinn hat, wirklich den Sinn, dass sie die Angst nimmt, nicht dass sie Angst macht. Das ist zwar häufig passiert in der Kirchengeschichte, aber zumindest was die Quellen angeht, der Erzähler, Jesus von Nazareth, ist jemand gewesen, der seinen Zuhörern, denen, die ihm gefolgt sind, versucht hat, die Angst zu nehmen, definitiv. Und Entängstigung, das ist so ein Begriff, den ich ein bisschen liebgewonnen habe, den gibt's eigentlich nicht, ist ein Neologismus, aber er sagt im Grunde genommen, Entängstigung heißt, man muss die Angst ein Stück wegnehmen. Wir können alle ohne Angst nicht leben, aber wir brauchen einen richtigen Umgang mit der Angst. Und da versuche ich die Geschichte zu erzählen, wie man einen richtigen Umgang mit der Angst einüben kann.

Gornik: Wie kann man das?

Huizing: Also mir ist irgendwann aufgefallen, dass vor allen Dingen die Literatur ein idealer Übungsraum ist, um Angst zu nehmen, und zwar deshalb, weil Literatur exemplarische Lebensentwürfe vorspielt, Schicksale beschreibt, plötzliche Unwägbarkeiten thematisiert. Und das heißt, wenn Sie sich entsprechend mit der Hauptfigur identifizieren oder mit einer der Nebenfiguren, können Sie klug werden im Umgang mit unvorhersehbaren Ereignissen. Also Sie können klug werden im Umgang, was gerne Kontingenzen nennt, also im Umgang mit Kontingenzen, die Angst machen. Was macht Angst? Das, was uns plötzlich überfällt, wo wir nicht mit gerechnet haben, was uns verunsichert, was unseren Lebensplan durcheinanderwirft. Und da ist die Literatur vielleicht geeignet, einen idealen Umgang damit einzuüben.

Gornik: Ich halte fest: Sie interpretieren die Funktion von Religion und von Theologie aus der Botschaft des Jesus von Nazareth heraus, Sie sagen, genau das ist einer, der entängstigen wollte, der Menschen die Angst nahm. Vermutlich sind auch die Beispielgeschichten, die er erzählt, in Ihrem literarisch verstandenen Sinne Angleichungsgeschichten, ich kann mich dort eintragen. Aber Rückfrage: Geht das wirklich? Was bleibt denn von Religion und Theologie eigentlich übrig, wenn man die Angst wegnimmt? Gehört nicht zu einer Gottesbeziehung auch der Respekt, ja die Furcht vor dem Heiligen, dass ich zur Rechenschaft gezogen werde für meine Taten, dass nicht einfach so verantwortungslos das Leben vor sich hin plätschern kann?

Huizing: Na ja, biblisch heißt es ja zunächst einmal, Furcht ist nicht in der Liebe. Das steht da nun mal ganz eindeutig, und das würde ich auch immer sagen. Erfahrungen der Liebe sind doch Erfahrungen, dass man etwas gewissermaßen unverdient bekommt. Und das ist etwas, was einem wirklich die Angst nimmt, sodass ich wirklich denke, dass ich damit schon den Zentralpunkt religiöser Tradition versucht habe auch einzufangen. Und mir ist ja wichtig zu zeigen, alle großen Wissenschaften, die sich damit beschäftigen, wie man mit der Angst umgeht – die Psychologie, die Philosophie, die Theologie – haben alle, wenn man sehr genau hinschaut, eine große Nähe zur Literatur entwickelt. Und das Spezifikum – so schließt sich der Kreis – der Theologie oder der biblischen Geschichten ist, dass die Geschichten gut ausgehen, das tröstet enorm. Wenn Sie einmal sonst in die Romanliteratur hineinschauen, dann sehen Sie, viele der Romane enden als Fragment, sie enden doch mit einem großen Drama, unter Umständen wirklich mit einem schlechten Ende. Das ist übrigens auch, in Klammern gesagt, sehr schwierig, einen Roman zu schreiben, der gut ausgeht. Die biblischen Geschichten, vor allen Dingen Beispielerzählungen, vor allen Dingen die Beispielerzählungen des Lukas, sind so strukturiert, dass sie wirklich gut ausgehen, ohne dass sie dabei kitschig wirken. Das ist große Kunst, wie ich finde, und das ist deshalb vielleicht sogar so zu bewerten, dass man sagt, vielleicht sind diese Geschichten besonders gut geeignet, Angst zu nehmen.

Gornik: Wollen wir eine dieser Geschichten einmal beispielhaft nehmen? Eine Geschichte Ihrer Wahl, an der Sie aus dem Neuen Testament uns bitte einmal illustrieren, wie dort Angst wahrgenommen wird, bearbeitet wird, aufgenommen wird und verändert wird, also umgeformt wird.

Huizing: Ja, nehmen Sie zum Beispiel die "blutflüssige Frau", also eine Frau, die, wenn man das übersetzt, jeden Tag menstruiert. Und das war natürlich für die jüdische Gesellschaft, in der sie lebte, ein großes Problem. Sie galt als unrein und war in dieser Hinsicht wirklich von der Gesellschaft ausgeschlossen. Und die Geschichte erzählt im Grunde genommen – das ist ein wunderbarer Perspektivenwechsel –, wie diese Frau über ihre Angst sich hinwegsetzt, weil sie da auf jemanden trifft, der sehr außergewöhnlich ist. Und sie berührt ihn, was strengstens verboten war in dieser Kultur, und prompt ändert sich im Grunde genommen das ganze Leben. Sie wird plötzlich wirklich wahrgenommen, sie wird von einem Mann auch berührt, also sie wird aus ihrer Isolation herausgenommen. Und das hat dann dazu geführt, dass unter Umständen auch ihr körperliches Leiden zurückgegangen ist, also sie wurde wieder eingegliedert in die Gesellschaft. Und das ist etwas, was natürlich Angst nimmt, sodass die Geschichten immer gerade auch für Außenseiter, für Extremsituationen sehr, sehr spannend sind. Ein anderes Beispiel wäre "Barmherziger Samariter" – "Barmherziger Samariter", das ist ja eine relativ auch noch bekannte Geschichte bei uns –, dass man sagt, warum gehen die anderen vorbei, der Levit und der Priester. Na ja, sie nehmen im Grunde genommen den Mann als unrein, als blutig, verdreckt und verschissen wahr und helfen nicht. Und ein anderer, der eine andere Brille hat, der gewissermaßen doch eher die Brille hat, dass man den anderen Menschen jenseits kultischer Regeln begegnen sollte, der auch schafft es, einen Zugang zu bekommen. Also dass man sagen muss, in den biblischen Geschichten wird in der Tat versucht, bestimmte Perspektiven, die wir auf die Welt haben, wo wir uns versuchen abzuschotten vor den anderen, damit sie uns nicht erschrecken, wird gerade abgebaut und es wird insofern wirklich so etwas wie, ja, wie Liebe neu inszeniert. Und was gibt's Größeres?

Gornik: Was sollen wir auf diese rhetorische Frage antworten? Nichts. Denn die Liebe in das Zentrum zu stellen, ist wahrscheinlich der Gegenbegriff zur Angst.

Huizing: So ist es, ja.

Gornik: Klaas Huizing, "Fürchte dich nicht. Die Kunst der Entängstigung", 164 Seiten, 16 Euro kostet das Buch und ist erschienen in der edition chrismon. Klaas Huizing, herzlichen Dank!

Huizing: Gerne!