Die Liebe - ein Tausendfüßler
Wer die im Untertitel angekündigten "166 Liebesgeschichten" liest, bekommt keine Herz-Schmerz-Schmonzetten präsentiert, sondern Geschichten von Figuren, die das schwer zu durchschauende Terrain der Liebe durchqueren. Erzählerisch gerade Wege werden nicht beschritten - wie in der Liebe.
Wer zufällig zu einem Buch von Alexander Kluge greift, das im Untertitel "166 Liebesgeschichten" verspricht, könnte erwarten, dass ihn der Autor in jene "Herz-Schmerz-Landschaften" entführt, in denen Protagonisten auftreten, die sich schmachtend vor Liebe verzehren. Doch der Büchnerpreisträger des Jahres 2003 erzählt andere Geschichten!
Der Zugang zu diesem Buch, das "Labyrinth der zärtlichen Kraft" heißt, erschließt sich aus der Bedeutung des Wortes "Labyrinth". Metaphorisch gebraucht drückt sich in dem Wort ein Hinweis auf eine verworrene, ausweglos anmutende Situation aus. Aufgehoben ist in dieser Wortbedeutung der Mythos von Ariadne und Theseus. Der Liebende befreit die vom Minotaurus im Labyrinth des Dädalus eingesperrte Geliebte und benötigt den berühmt gewordenen Ariadnefaden, um aus dem Labyrinth wieder herauszufinden.
Schließlich findet die Lust am Verstecken und Finden Eingang in die Gartenarchitektur, wo die Besucher in labyrinthisch angelegten Gärten nach dem rechten Weg, dem Ausweg, suchen sollen. In diesem nicht einfach zu durchschauenden Terrain sind Kluges liebende Figuren angesiedelt.
Schier ausweglos mutet es an, würde man beschreiben wollen, was Liebe ist. Die Liebe, so Alexander Kluge im Vorwort, ist "ein Tausendfüßler. Wenn man von ihr erzählt, sind Übersicht, Einteilung und Thesen die schwächste Tugend." Ihre Wege sind unergründlich, weshalb sich nie mit Sicherheit sagen lässt, was aus einer Liebe wird. Ob sie dauert oder ob sie vergeht, kann nicht zuverlässig vorhergesagt werden.
Alexander Kluge interessiert der Eigensinn der Liebenden, was sie motiviert, sie anspornt und unerschrocken auf ein Ziel zusteuern lässt. Dabei sind die Themenfelder ebenso weit gefächert wie die Zeiten, in denen Kluge seine Geschichten verortet. Die überraschenden zeitlichen Sprünge, die der Autor seinen Lesern zumutet, sind durchaus beabsichtigt. Auf einfachen, geraden Wegen findet man in diesem Buch ebenso wenig zum Ziel wie in der Liebe.
Unter der Überschrift "Liebestod" erzählt Kluge in "Blechernes Glück" von einer Frau, die Selbstmord begehen will und vom Mailänder Dom springt, aber auf einem Fahrzeug landet und überlebt. Von diesem "Missgeschick", das von den Boulevardblättern aufgegriffen wird, erfährt ein Mann, der sich ihrer in "Liebe" annimmt.
In "Sitz der Liebe" steht eine junge Frau im Zentrum, die überzeugt davon ist, dass die Liebe ihren Platz nicht in den Personen, sondern zwischen den Liebenden hat. Danach bestünde die Liebe aus einem zwischen den Liebenden gespannten Netz.
Streiten sich Liebende, dann, so liest man in "Die vielen Augen" sind nicht nur zwei Personen, sondern auch vier Augen anwesend. Zu denen aber müsse man noch die Augen der Eltern hinzuzählen. Diese genetische Anwesenheit ist ein Beleg für Kluges These, dass auch im Begehren und in der Liebe "in gewisser Hinsicht die Menschheitsgeschichte" anwesend ist. Liebe erscheint in Kluges Buch in vielfältigen Variationen, die tragisch, komisch und manchmal auch grotesk anmuten.
In der dem Buch beigefügten DVD "Nachrichten vom Tausendfüßler" werden 36 Komposita aufgelistet, in denen das Wort "Liebe" vorkommt. Dabei wird der Bogen von der "Affenliebe" über "Elternliebe", "Jugendliebe, "Soldatenliebe" und "Vaterlandsliebe" bis hin zur "Zwangliebe" gespannt. Mit diesen Begriffen korrespondieren die Geschichten des Buches.
Die Liebe ist ein weites Feld, ein Feld, das Alexander Kluge in "Das Labyrinth der zärtlichen Kraft" eindrucksvoll und tiefschürfend bestellt hat.
Besprochen von Michael Opitz
Alexander Kluge: Das Labyrinth der zärtlichen Kraft, 166 Liebesgeschichten
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009
607 Seiten, mit einer DVD
26,80 Euro
Der Zugang zu diesem Buch, das "Labyrinth der zärtlichen Kraft" heißt, erschließt sich aus der Bedeutung des Wortes "Labyrinth". Metaphorisch gebraucht drückt sich in dem Wort ein Hinweis auf eine verworrene, ausweglos anmutende Situation aus. Aufgehoben ist in dieser Wortbedeutung der Mythos von Ariadne und Theseus. Der Liebende befreit die vom Minotaurus im Labyrinth des Dädalus eingesperrte Geliebte und benötigt den berühmt gewordenen Ariadnefaden, um aus dem Labyrinth wieder herauszufinden.
Schließlich findet die Lust am Verstecken und Finden Eingang in die Gartenarchitektur, wo die Besucher in labyrinthisch angelegten Gärten nach dem rechten Weg, dem Ausweg, suchen sollen. In diesem nicht einfach zu durchschauenden Terrain sind Kluges liebende Figuren angesiedelt.
Schier ausweglos mutet es an, würde man beschreiben wollen, was Liebe ist. Die Liebe, so Alexander Kluge im Vorwort, ist "ein Tausendfüßler. Wenn man von ihr erzählt, sind Übersicht, Einteilung und Thesen die schwächste Tugend." Ihre Wege sind unergründlich, weshalb sich nie mit Sicherheit sagen lässt, was aus einer Liebe wird. Ob sie dauert oder ob sie vergeht, kann nicht zuverlässig vorhergesagt werden.
Alexander Kluge interessiert der Eigensinn der Liebenden, was sie motiviert, sie anspornt und unerschrocken auf ein Ziel zusteuern lässt. Dabei sind die Themenfelder ebenso weit gefächert wie die Zeiten, in denen Kluge seine Geschichten verortet. Die überraschenden zeitlichen Sprünge, die der Autor seinen Lesern zumutet, sind durchaus beabsichtigt. Auf einfachen, geraden Wegen findet man in diesem Buch ebenso wenig zum Ziel wie in der Liebe.
Unter der Überschrift "Liebestod" erzählt Kluge in "Blechernes Glück" von einer Frau, die Selbstmord begehen will und vom Mailänder Dom springt, aber auf einem Fahrzeug landet und überlebt. Von diesem "Missgeschick", das von den Boulevardblättern aufgegriffen wird, erfährt ein Mann, der sich ihrer in "Liebe" annimmt.
In "Sitz der Liebe" steht eine junge Frau im Zentrum, die überzeugt davon ist, dass die Liebe ihren Platz nicht in den Personen, sondern zwischen den Liebenden hat. Danach bestünde die Liebe aus einem zwischen den Liebenden gespannten Netz.
Streiten sich Liebende, dann, so liest man in "Die vielen Augen" sind nicht nur zwei Personen, sondern auch vier Augen anwesend. Zu denen aber müsse man noch die Augen der Eltern hinzuzählen. Diese genetische Anwesenheit ist ein Beleg für Kluges These, dass auch im Begehren und in der Liebe "in gewisser Hinsicht die Menschheitsgeschichte" anwesend ist. Liebe erscheint in Kluges Buch in vielfältigen Variationen, die tragisch, komisch und manchmal auch grotesk anmuten.
In der dem Buch beigefügten DVD "Nachrichten vom Tausendfüßler" werden 36 Komposita aufgelistet, in denen das Wort "Liebe" vorkommt. Dabei wird der Bogen von der "Affenliebe" über "Elternliebe", "Jugendliebe, "Soldatenliebe" und "Vaterlandsliebe" bis hin zur "Zwangliebe" gespannt. Mit diesen Begriffen korrespondieren die Geschichten des Buches.
Die Liebe ist ein weites Feld, ein Feld, das Alexander Kluge in "Das Labyrinth der zärtlichen Kraft" eindrucksvoll und tiefschürfend bestellt hat.
Besprochen von Michael Opitz
Alexander Kluge: Das Labyrinth der zärtlichen Kraft, 166 Liebesgeschichten
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009
607 Seiten, mit einer DVD
26,80 Euro