"Die Leute in Finnland sind nicht solidarischer als die Deutschen"
Eine Bertelsmann-Studie zum Gemeinsinn weist Deutschland einen guten Mittelplatz und Finnland einen der führenden Plätze auf. Der Autor Roman Schatz lebt seit vielen Jahren in Finnland und meint, dass der Gemeinsinn in Finnland nicht besser sei als in Deutschland.
Ulrike Timm: Deutschland nur auf Platz 14 von 34 Industrienationen, verbucht in einer Studie der Bertelsmann-Stiftung - Platz 14 bei Gemeinsinn, Zusammenhalt, Verantwortung füreinander, beim Index der menschlichen Entwicklung, so heißt das wirklich. Und all das war schon mal viel schlechter bei uns, aber eben trotz aufsteigenden Astes beim Gemeinsinn, ist Toleranz zum Beispiel immer noch nicht die deutsche Stärke.
Nun kann man deutsche Zahlen endlos auseinanderpuzzeln und als Barometer verstehen, oder man zerpflückt sie als Statistik und fragt sich, wer da wem zuliebe wie nun wieder was gemessen hat, oder man geht einen ganz anderen Weg, und das wollen wir jetzt machen. Wir fragen einen ziemlich polyglotten Menschen, der zumindest zwei europäische Länder richtig gut kennt, danach, wie er das erlebt:
Der Schriftsteller und Journalist Roman Schatz lebt seit 26 Jahren in Finnland und wurde für die Finnen so etwas wie der Deutsche vom Dienst, der Deutschsprachige, um genau zu sein, denn die Finnen verbuchten ihn als Österreich- und Schweizfachmann gleich mit. Roman Schatz schrieb mehrere Bücher, zuletzt die "Gebrauchsanweisung für Finnland".
Schönen guten Tag!
Roman Schatz: Guten Tag!
Timm: Herr Schatz, dass wir uns aufgrund einer Studie, die den Deutschen Mittelmäßigkeit beim Gemeinsinn unterstellt, sprechen und darüber besorgt sind, ist das typisch deutsch, würde man solche Diskussionen in Finnland auch führen?
Schatz: Ja, natürlich, und zwar vehement, weil Finnland als kleines Volk, als kleine Kultur und als kleine linguistische Einheit - diese Sprache spricht ja niemand außer uns und außer hier -, als so eine Kultur ist man ständig auf der Suche nach der eigenen Rolle und Identität. Was in Deutschland oft ein bisschen zu wenig diskutiert wird aus Vorsicht, wird in Finnland oft ein bisschen zu viel diskutiert.
Es gibt sogar, es gab mal einen Finnen, der hat behauptet, dass alle Zivilisation und Bildung der Welt aus Finnland stamme ursprünglich, und auch die Deutschen nur ein abtrünniger Staat der Finnen sind. Also das würde hier auf jeden Fall thematisiert werden, jedes Mal, wenn Finnland in irgendeiner ausländischen Zeitung zum zweitgemütlichsten Land der Erde oder so was gewählt wird, oder die PISA-Studie, da schwoll Finnland natürlich mächtig der Kamm.
Timm: Herr Schatz, alle nordischen Länder, auch Schweden, Norwegen, Dänemark, oder eben Finnland, die stehen bei Gemeinsinn und Zusammenhalt ganz oben - das erwartet man auch, schon vom Image her, aber was können die denn tatsächlich besser als die Deutschen?
Schatz: Zunächst müsste ich dazu anfügen, dass sich das auch verändert hat. In den letzten 25 Jahren, die ich in Finnland verbracht habe, hat sich diese Gesellschaft, nicht nur diese, sondern auch die anderen nordischen Ländern, Island auch, komplett und dramatisch verändert. Sie müssen sich vorstellen, als ich hier ankam in Finnland, 1986, gab es hier 16.000 Ausländer. Da gibt es wahrscheinlich in Recklinghausen mehr davon, als es damals in ganz Finnland gab, und heute sind es 160.000. Und natürlich war es für die Finnen relativ leicht, sehr solidarisch zu sein mit einer uniquen Sprache, umzingelt von Freunden sozusagen, das ändert sich aber, und das skandinavische Wohlfahrtssystem - in allen fünf nordischen Ländern - bröckelt langsam ab. Also wenn Sie in Finnland zu diesem berühmten Gratisarzt, der vom Staat gestellt wird, gehen, dann warten Sie drei Stunden und haben sich hinterher garantiert was eingefangen in diesem Wartezimmer - das ist nicht mehr so schön.
Der Wohlstand, den Nokia uns gebracht hat - ganz Finnland hat ja von Nokia profitiert, natürlich, der Umsatz von Nokia war zwischenzeitlich deutlich größer als der Staatshaushalt der Republik Finnland -, dieser Wohlstand hat sich natürlich insofern auch ausgewirkt, dass es gemütlich würde. Man muss ja nicht neidisch sein auf seinen Mitbewohner oder Mitmenschen, wenn man genug hat. Aber jetzt wird es wieder eng in Finnland, und es fängt auch wieder an zu knirschen.
Timm: Trotzdem ist der Wert von Zusammenhalt ja erstaunlich hoch, und nur die Gemütlichkeit und der Wohlstand und das solidarische Miteinander können das nicht sein, denn die USA und Kanada, die kommen in Sachen Gemeinsinn gleich nach den nordischen Ländern, und in diesen Ländern geht die Schere ja ganz weit auseinander.
Schatz: Na, als Beispiel im Vergleich zu Deutschland jetzt - ich entnehme der deutschen Presse oder den deutschen Medien in letzter Zeit immer öfter, dass es in Deutschland Mode geworden ist, seine dementen Alten verwandten irgendwo nach Osteuropa abzuschieben, weil dort eine Pflege noch erschwinglich ist. Und so was passiert bei uns noch nicht, und in Kanada und den USA eben auch nicht, die haben ja auch kein Osteuropa in Nordamerika, wo sie ihre Alten hinschicken könnten.
Das sind ja durchaus ziemliche Verschleißerscheinungen einer westlichen Zivilisation, wenn man seine Alten ins Ausland schicken muss, weil man sie nicht mehr selber pflegen kann.
Timm: Womöglich sind Zusammenhalt, Gemeinsinn, Solidarität, aber auch eine ganz natürliche Folge, wenn in einem Riesenland, wie eben Finnland, nur fünf Millionen Menschen leben - da freut man sich, wenn man wen trifft.
Schatz: Das wäre schön, wenn das so wäre, aber bei uns hat sich eine Höflichkeitskultur entwickelt, wo man sich nicht freut, wenn man jemanden trifft, sondern wo man die Leute maximal in Ruhe lässt. Also Deutsche beschweren sich in Finnland oft nach dem Sommerurlaub: Wir haben niemanden kennengelernt, es hat kaum jemand mit uns gesprochen - das ist hier höflich, hierzulande, wegen der dünnen Besiedlung. Jeder hat hier seinen eigenen See, und da will man keine Nachbarn sehen. Ein Nachbar ist potenziell eigentlich eher ein negatives Phänomen.
Was ich noch sagen wollte, in den 80er-Jahren war Finnland das westeuropäische Land, wenn man es überhaupt damals schon zu Westeuropa zählen konnte, mit den kleinsten Einkommensunterschieden, also vom Straßenfeger bis zum Professor gab es hier keine große Schere, das klaffte nicht weit auseinander. Und das hat sich in den letzten 25 Jahren rasant geändert, also ein finnischer Unternehmer verdient inzwischen 35-mal so viel wie seine Angestellten, und das war noch, glaube ich, zwölfmal so viel damals. Und deswegen glaube ich auch, dass der Zusammenhalt, der ist traditionell gut. Die nordischen Länder sagen gerne über sich selber, wir funktionieren noch, machen sich aber selber alle Sorgen um ihren Wohlfahrtsstaat und wie lange das noch gut geht gerade.
Timm: Deutschlandradio Kultur - wir sprechen mit dem Schriftsteller und Journalisten Roman Schatz, und wir sprechen aus Anlass einer Studie, die Deutschland einen ordentlichen Mittelplatz in Sachen Zusammenhalt und Gemeinsinn beschert, Finnland aber einen Führungsplatz.
Herr Schatz, das ist alles so vorbildlich in Finnland: die Schulen erfolgreich, der Zusammenhalt gut, die Kulturlandschaft ziemlich intakt, viele ungefährdete Theater und Orchester auch auf plattem Land - und dann kommt einer wie Aki Kaurismäki und dreht hochmelancholische Filme, in denen fast nicht geredet wird, unendlich viel gesoffen, und die Grundfarbe ist grau. Ist das eben auch Finnland, jenseits des UNO-Glückskoeffizienten?
Schatz: Genau, ja, natürlich, und das ist auch die Verantwortung von Leuten wie Aki Kaurismäki. Und es gibt auch noch ein paar andere, die uns daran erinnern, dass wir zwar schön aussehen in vielen internationalen Statistiken, dass bei uns aber der Winter selbst im Süden ein Minimum von sechs Monaten dauert. Bei uns in Helsinki ist es an Weihnachten 20 Stunden schwarz und vier Stunden dunkelgrau - das ist dann Tageslicht -, und der Preis, den wir bezahlen für unsere schönen Wohnungen und unser sauberes Essen und unsere skandinavisch-vorbildliche Gesellschaft, besteht auch in Alkoholismus und Depression, natürlich. Und was auch ganz wichtig ist, was man in Deutschland verstehen sollte, wenn man an Finnland denkt, Finnland ist ein ganz zentralistischer Staat.
Helsinki ist so eine Art Wasserkopf, wie Paris in Frankreich oder London in England. Jenseits unseres Stadtringes, da fängt die Wolfsgrenze an oder da verläuft die Wolfsgrenze, und es gibt ein ganz großes Stigma in Finnland zwischen der Landbevölkerung und der urbanen Bevölkerung. Die urbane Bevölkerung ist gut ausgebildet, die hat Kohle sozusagen und hat eine internationale Perspektive, und das Land verdorrt so langsam. Da werden Schulen zugemacht, kleine Fabriken schließen dauernd - es blutet aus, das Land. Und der Zusammenhalt zwischen dem ruralen Finnland und dem urbanen Finnland, der ist wohl am akutesten gefährdet.
Timm: Wie ist das, Sie leben nun als Deutscher in Finnland. Wenn Sie dort den Gemeinsinn erleben, und das wirklich mit Deutschland vergleichen, in Ihrem täglichen Erleben, würden Sie wirklich sagen, das ist in Finnland besser?
Schatz: Nein, ich würde ganz ehrlich sagen, dass der Gemeinsinn in Finnland nicht besser ist. Das hat allerdings damit zu tun, dass ich hier langzeit-ausgewanderter Deutscher bin. Ich bin an eine deutsche Kommunikationskultur gewohnt. Ich bin es gewohnt, dass meine Nachbarn Hallo sagen im Treppenhaus, ich bin es gewohnt, dass mich bei Aldi an der Kassenschlange wildfremde Leute eines Besseren belehren, die deutsche Besserwisser- und Einmischkultur, und weil man in Finnland seine Nachbarn so weit wie möglich in Ruhe lässt, werde ich auch als Promi einfach nur mal kurz schräg angeguckt, und keiner sagt Guten Tag.
Das ist hierzulande üblich. Die Leute in Finnland sind nicht solidarischer als die Deutschen, das würde ich auf gar keinen Fall so sehen. Danke schön für diese Statistik, und im Namen der Republik Finnland bedanke ich mich für diesen Spitzenplatz, aber ich sehe das Ganze nicht so rosig. Also wenn Sie zum Beispiel - in Finnland gibt es ja eben viele Alkoholiker, und wenn hier jemand mit drei Promille bei minus 30 Grad im Schnee liegt, ganz kurz vor dem Exitus, dann gehen die Finnen dran vorbei und scheren sich einen Dreck, so ist das hier mit dem Zusammenhalt.
Timm: Der Autor und Schriftsteller Roman Schatz lebt seit vielen Jahren in Finnland, und wir sprachen aus Anlass einer Bertelsmann-Studie zum Gemeinsinn, wo Deutschland einen guten Mittelplatz und Finnland einen der führenden Plätze aufweisen kann. Herzlichen Dank fürs Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Nun kann man deutsche Zahlen endlos auseinanderpuzzeln und als Barometer verstehen, oder man zerpflückt sie als Statistik und fragt sich, wer da wem zuliebe wie nun wieder was gemessen hat, oder man geht einen ganz anderen Weg, und das wollen wir jetzt machen. Wir fragen einen ziemlich polyglotten Menschen, der zumindest zwei europäische Länder richtig gut kennt, danach, wie er das erlebt:
Der Schriftsteller und Journalist Roman Schatz lebt seit 26 Jahren in Finnland und wurde für die Finnen so etwas wie der Deutsche vom Dienst, der Deutschsprachige, um genau zu sein, denn die Finnen verbuchten ihn als Österreich- und Schweizfachmann gleich mit. Roman Schatz schrieb mehrere Bücher, zuletzt die "Gebrauchsanweisung für Finnland".
Schönen guten Tag!
Roman Schatz: Guten Tag!
Timm: Herr Schatz, dass wir uns aufgrund einer Studie, die den Deutschen Mittelmäßigkeit beim Gemeinsinn unterstellt, sprechen und darüber besorgt sind, ist das typisch deutsch, würde man solche Diskussionen in Finnland auch führen?
Schatz: Ja, natürlich, und zwar vehement, weil Finnland als kleines Volk, als kleine Kultur und als kleine linguistische Einheit - diese Sprache spricht ja niemand außer uns und außer hier -, als so eine Kultur ist man ständig auf der Suche nach der eigenen Rolle und Identität. Was in Deutschland oft ein bisschen zu wenig diskutiert wird aus Vorsicht, wird in Finnland oft ein bisschen zu viel diskutiert.
Es gibt sogar, es gab mal einen Finnen, der hat behauptet, dass alle Zivilisation und Bildung der Welt aus Finnland stamme ursprünglich, und auch die Deutschen nur ein abtrünniger Staat der Finnen sind. Also das würde hier auf jeden Fall thematisiert werden, jedes Mal, wenn Finnland in irgendeiner ausländischen Zeitung zum zweitgemütlichsten Land der Erde oder so was gewählt wird, oder die PISA-Studie, da schwoll Finnland natürlich mächtig der Kamm.
Timm: Herr Schatz, alle nordischen Länder, auch Schweden, Norwegen, Dänemark, oder eben Finnland, die stehen bei Gemeinsinn und Zusammenhalt ganz oben - das erwartet man auch, schon vom Image her, aber was können die denn tatsächlich besser als die Deutschen?
Schatz: Zunächst müsste ich dazu anfügen, dass sich das auch verändert hat. In den letzten 25 Jahren, die ich in Finnland verbracht habe, hat sich diese Gesellschaft, nicht nur diese, sondern auch die anderen nordischen Ländern, Island auch, komplett und dramatisch verändert. Sie müssen sich vorstellen, als ich hier ankam in Finnland, 1986, gab es hier 16.000 Ausländer. Da gibt es wahrscheinlich in Recklinghausen mehr davon, als es damals in ganz Finnland gab, und heute sind es 160.000. Und natürlich war es für die Finnen relativ leicht, sehr solidarisch zu sein mit einer uniquen Sprache, umzingelt von Freunden sozusagen, das ändert sich aber, und das skandinavische Wohlfahrtssystem - in allen fünf nordischen Ländern - bröckelt langsam ab. Also wenn Sie in Finnland zu diesem berühmten Gratisarzt, der vom Staat gestellt wird, gehen, dann warten Sie drei Stunden und haben sich hinterher garantiert was eingefangen in diesem Wartezimmer - das ist nicht mehr so schön.
Der Wohlstand, den Nokia uns gebracht hat - ganz Finnland hat ja von Nokia profitiert, natürlich, der Umsatz von Nokia war zwischenzeitlich deutlich größer als der Staatshaushalt der Republik Finnland -, dieser Wohlstand hat sich natürlich insofern auch ausgewirkt, dass es gemütlich würde. Man muss ja nicht neidisch sein auf seinen Mitbewohner oder Mitmenschen, wenn man genug hat. Aber jetzt wird es wieder eng in Finnland, und es fängt auch wieder an zu knirschen.
Timm: Trotzdem ist der Wert von Zusammenhalt ja erstaunlich hoch, und nur die Gemütlichkeit und der Wohlstand und das solidarische Miteinander können das nicht sein, denn die USA und Kanada, die kommen in Sachen Gemeinsinn gleich nach den nordischen Ländern, und in diesen Ländern geht die Schere ja ganz weit auseinander.
Schatz: Na, als Beispiel im Vergleich zu Deutschland jetzt - ich entnehme der deutschen Presse oder den deutschen Medien in letzter Zeit immer öfter, dass es in Deutschland Mode geworden ist, seine dementen Alten verwandten irgendwo nach Osteuropa abzuschieben, weil dort eine Pflege noch erschwinglich ist. Und so was passiert bei uns noch nicht, und in Kanada und den USA eben auch nicht, die haben ja auch kein Osteuropa in Nordamerika, wo sie ihre Alten hinschicken könnten.
Das sind ja durchaus ziemliche Verschleißerscheinungen einer westlichen Zivilisation, wenn man seine Alten ins Ausland schicken muss, weil man sie nicht mehr selber pflegen kann.
Timm: Womöglich sind Zusammenhalt, Gemeinsinn, Solidarität, aber auch eine ganz natürliche Folge, wenn in einem Riesenland, wie eben Finnland, nur fünf Millionen Menschen leben - da freut man sich, wenn man wen trifft.
Schatz: Das wäre schön, wenn das so wäre, aber bei uns hat sich eine Höflichkeitskultur entwickelt, wo man sich nicht freut, wenn man jemanden trifft, sondern wo man die Leute maximal in Ruhe lässt. Also Deutsche beschweren sich in Finnland oft nach dem Sommerurlaub: Wir haben niemanden kennengelernt, es hat kaum jemand mit uns gesprochen - das ist hier höflich, hierzulande, wegen der dünnen Besiedlung. Jeder hat hier seinen eigenen See, und da will man keine Nachbarn sehen. Ein Nachbar ist potenziell eigentlich eher ein negatives Phänomen.
Was ich noch sagen wollte, in den 80er-Jahren war Finnland das westeuropäische Land, wenn man es überhaupt damals schon zu Westeuropa zählen konnte, mit den kleinsten Einkommensunterschieden, also vom Straßenfeger bis zum Professor gab es hier keine große Schere, das klaffte nicht weit auseinander. Und das hat sich in den letzten 25 Jahren rasant geändert, also ein finnischer Unternehmer verdient inzwischen 35-mal so viel wie seine Angestellten, und das war noch, glaube ich, zwölfmal so viel damals. Und deswegen glaube ich auch, dass der Zusammenhalt, der ist traditionell gut. Die nordischen Länder sagen gerne über sich selber, wir funktionieren noch, machen sich aber selber alle Sorgen um ihren Wohlfahrtsstaat und wie lange das noch gut geht gerade.
Timm: Deutschlandradio Kultur - wir sprechen mit dem Schriftsteller und Journalisten Roman Schatz, und wir sprechen aus Anlass einer Studie, die Deutschland einen ordentlichen Mittelplatz in Sachen Zusammenhalt und Gemeinsinn beschert, Finnland aber einen Führungsplatz.
Herr Schatz, das ist alles so vorbildlich in Finnland: die Schulen erfolgreich, der Zusammenhalt gut, die Kulturlandschaft ziemlich intakt, viele ungefährdete Theater und Orchester auch auf plattem Land - und dann kommt einer wie Aki Kaurismäki und dreht hochmelancholische Filme, in denen fast nicht geredet wird, unendlich viel gesoffen, und die Grundfarbe ist grau. Ist das eben auch Finnland, jenseits des UNO-Glückskoeffizienten?
Schatz: Genau, ja, natürlich, und das ist auch die Verantwortung von Leuten wie Aki Kaurismäki. Und es gibt auch noch ein paar andere, die uns daran erinnern, dass wir zwar schön aussehen in vielen internationalen Statistiken, dass bei uns aber der Winter selbst im Süden ein Minimum von sechs Monaten dauert. Bei uns in Helsinki ist es an Weihnachten 20 Stunden schwarz und vier Stunden dunkelgrau - das ist dann Tageslicht -, und der Preis, den wir bezahlen für unsere schönen Wohnungen und unser sauberes Essen und unsere skandinavisch-vorbildliche Gesellschaft, besteht auch in Alkoholismus und Depression, natürlich. Und was auch ganz wichtig ist, was man in Deutschland verstehen sollte, wenn man an Finnland denkt, Finnland ist ein ganz zentralistischer Staat.
Helsinki ist so eine Art Wasserkopf, wie Paris in Frankreich oder London in England. Jenseits unseres Stadtringes, da fängt die Wolfsgrenze an oder da verläuft die Wolfsgrenze, und es gibt ein ganz großes Stigma in Finnland zwischen der Landbevölkerung und der urbanen Bevölkerung. Die urbane Bevölkerung ist gut ausgebildet, die hat Kohle sozusagen und hat eine internationale Perspektive, und das Land verdorrt so langsam. Da werden Schulen zugemacht, kleine Fabriken schließen dauernd - es blutet aus, das Land. Und der Zusammenhalt zwischen dem ruralen Finnland und dem urbanen Finnland, der ist wohl am akutesten gefährdet.
Timm: Wie ist das, Sie leben nun als Deutscher in Finnland. Wenn Sie dort den Gemeinsinn erleben, und das wirklich mit Deutschland vergleichen, in Ihrem täglichen Erleben, würden Sie wirklich sagen, das ist in Finnland besser?
Schatz: Nein, ich würde ganz ehrlich sagen, dass der Gemeinsinn in Finnland nicht besser ist. Das hat allerdings damit zu tun, dass ich hier langzeit-ausgewanderter Deutscher bin. Ich bin an eine deutsche Kommunikationskultur gewohnt. Ich bin es gewohnt, dass meine Nachbarn Hallo sagen im Treppenhaus, ich bin es gewohnt, dass mich bei Aldi an der Kassenschlange wildfremde Leute eines Besseren belehren, die deutsche Besserwisser- und Einmischkultur, und weil man in Finnland seine Nachbarn so weit wie möglich in Ruhe lässt, werde ich auch als Promi einfach nur mal kurz schräg angeguckt, und keiner sagt Guten Tag.
Das ist hierzulande üblich. Die Leute in Finnland sind nicht solidarischer als die Deutschen, das würde ich auf gar keinen Fall so sehen. Danke schön für diese Statistik, und im Namen der Republik Finnland bedanke ich mich für diesen Spitzenplatz, aber ich sehe das Ganze nicht so rosig. Also wenn Sie zum Beispiel - in Finnland gibt es ja eben viele Alkoholiker, und wenn hier jemand mit drei Promille bei minus 30 Grad im Schnee liegt, ganz kurz vor dem Exitus, dann gehen die Finnen dran vorbei und scheren sich einen Dreck, so ist das hier mit dem Zusammenhalt.
Timm: Der Autor und Schriftsteller Roman Schatz lebt seit vielen Jahren in Finnland, und wir sprachen aus Anlass einer Bertelsmann-Studie zum Gemeinsinn, wo Deutschland einen guten Mittelplatz und Finnland einen der führenden Plätze aufweisen kann. Herzlichen Dank fürs Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.