"Die Leute haben geleugnet, dass sie ein Problem haben"

Moderation: Joachim Scholl |
13 Jahre lang hat die Berliner Barbara Monheim an dem Hilfsprojekt "Our Kids" in Kiew gearbeitet - nun wurde es eröffnet. Geld erhält es auch aus Deutschland. Das Projekt ist für Monheim ein erster Schritt hin zu ihrem Traum, dass die Länder Osteuropas zu einem wirklichen Teil Europas werden.
Joachim Scholl: Außenminister Guido Westerwelle war da, sogar der tschechische EU-Kommissar, als am Freitag in Kiew das Kinderheim "Our Kids" feierlich eröffnet wurde, ein Heim für Straßenkinder. Mit dabei war die Frau, ohne die es dieses Heim wohl nie gegeben hätte. Barbara Monheim aus Berlin. Sie ist bei uns im Studio. Guten Morgen, Frau Monheim!

Barbara Monheim: Ich grüße Sie, guten Morgen! Vielen Dank, dass Sie mich eingeladen haben!

Scholl: Ihre Familie stammt aus Galizien, wurde 1943 zur Flucht gezwungen. Sie sind in Polen aufgewachsen, seit 1981 leben Sie in Deutschland. Was hat Sie dazu gebracht, Frau Monheim, sich um ukrainische Kinder zu kümmern, die ohne Obdach auf der Straße leben?

Monheim: Eigentlich war das ein Zufall. Als ich in Deutschland gelandet bin, habe ich große Hilfsprojekte für Polen gemacht. Und irgendwann mal habe ich gedacht, die Polen sind so weit, dass sie gemeinsam mit den Deutschen für den anderen Nachbarn etwas machen könnten. Und da habe ich einen Verein gegründet, der sich um junge ukrainische, belarussische, litauische und russische Journalisten gekümmert hat. Ich wollte unbedingt meine Hilfe leisten in dem Transformationsprozess. Und wie kann man das am besten machen? Indem man Journalisten natürlich versammelt. Und ich habe viele Jahre, sicherlich acht Jahre lang, Seminare für Journalisten aus den vier Ländern, die an der polnischen Grenze liegen, in Polen organisiert.

2000 hatte ich in einem Seminar zwei wunderbare ukrainische Journalisten, die selber nicht auf der Straße - in der kommunistischen Zeit waren keine Kinder auf der Straße -, aber in schlimmsten Bedingungen in einem Waisenheim aufgewachsen sind. Und sie haben mir gesagt, wenn du jetzt, Barbara, nächstes Mal zur Rekrutierung von Journalisten kommst, möchten wir dir etwas zeigen. Und dann haben sie mich in diese Kanäle unter den Straßen, wo die Wärmerohre lagen, diese Stellen, wo die Straßenkinder lebten, und das war im Jahr 2000. Und es war so grässlich, und das war so herzzerreißend, dass ich einfach gedacht habe, ich muss etwas dagegen tun, ich muss helfen.

"Ich wusste, dieses Geld würde versickern"
Scholl: Zu dieser Zeit, Frau Monheim, da sprach man ja von Zehntausenden von Straßenkindern, und das war optimistisch geschätzt. Andere Zahlen gingen in die Hunderttausende. Die Tatsache wurde allerdings von den ukrainischen Behörden zunächst erst mal rundweg geleugnet: So was gibt es bei uns, in der modernen Ukraine ja gar nicht. Wie baut man denn dann ein solches Hilfsprojekt, wie es dann auch in den nächsten Jahren entstand und immer größer wurde, auf, und noch dazu ein privates aus dem Ausland?

Monheim: Es war, wie Sie sich denken können, weil es 13 Jahre gedauert hat, es reichlich schwierig. Diese Kinder, die ich damals getroffen habe, die wirkliche Straßenkinder waren, die sind ja heute erwachsen, und denen konnte ich nicht mehr helfen, weil in 13 Jahren – die waren damals zehn, zwölf, sechs -, ehrlich gesagt, habe ich auch keinen Kontakt mehr zu denen. Heute haben wir nicht in diesem Sinne jetzt Straßenkinder, die wir auf der Straße aufsammeln. Wir arbeiten sehr eng mit den städtischen Behörden, die sich um Minderjährige kümmern, die diese Kinder suchen, sie in Shelters bringen, sie vorbereiten – also sie werden entlaust und versorgt -, und die werden uns dann geschickt.

Denn in Kiew, heute, sieht man die Straßenkinder nicht mehr. Aber da sind eben diese Sozialwaisen, diese Kinder, die keine elterliche Fürsorge haben, und wenn wir nicht reagieren würden, würden sie natürlich auf der Straße landen. Insofern kann man heute sagen, unser Zentrum ist nicht direkt ein Zentrum jetzt für Straßenkinder, nur für Kinder, die wirklich in einer sehr schlimmen Lebenssituation sind, die zu uns kommen und unsere Philosophie ist auch eigentlich, sie so schnell wie möglich wieder in die biologischen Familien zu geben. Deshalb arbeiten wir also mit Familien in Krise. Die zweitbeste Lösung ist, wir haben in diesem Jahr neun Kinder zur Adoption abgegeben, denn ich will natürlich die Kinder in eine noch bessere Lage bringen, um Platz zu haben für die nächsten.

Scholl: Lassen Sie uns trotzdem noch mal zurückgehen zur Anfangszeit. Was waren damals, zu Beginn von "Our Kids" für Sie die größten Schwierigkeiten?

Monheim: Die größte Schwierigkeit war natürlich, dass die Leute es einfach geleugnet haben, dass sie überhaupt so ein Problem haben. Natürlich ist es ein peinliches Problem, ich kann das sehr gut verstehen, nur, das als peinlich zu erklären und dadurch die Hilfe zu verhindern, sind natürlich zwei ganz verschiedene Sachen. Wir waren am Anfang gar nicht willkommen. Man hat mir direkt gesagt, am besten sollte ich das Geld, das als Anschubfinanzierung zusammen gekommen ist, abgeben, und sie machen das Projekt und werden mir den roten Teppich ausrollen, und wenn ich komme, dann darf ich sehen, was sie gemacht haben. Aber ich kannte die Verhältnisse, ich wusste, dieses Geld würde versickern und es würde niemandem geholfen. Ich habe gesagt, nein, ich will jetzt dieses Projekt selber machen.

Und dann war das Objekt ein Problem, also, wo können wir das machen. Kleine Wohnungen gab es nicht, ich habe das erst mal angelegt für zehn Kinder vielleicht. Daraus ist jetzt ein riesengroßes Zentrum geworden mit anderthalb Hektar Land und drei Häusern und anderen Anlagen. Wir sind natürlich Pionier in vielen Sachen, wir sind das erste Public Private Partnership - funktionierend -,. wir kooperieren mit der Stadt, und wir sind das erste energieautarke Projekt. Wir haben Geothermie. Also wir nutzen die Wärme der Erde, um unsere Kinder zu wärmen mit warmem Wasser und Heizung.

"Ich möchte, dass dieser östliche Teil Europas wirklich zu Europa gehört"
Scholl: Am vergangenen Freitag war offizielle Eröffnung des Kinderheimes "Our Kids" mit, wie gesagt, viel politischer Prominenz auch. Wie haben Sie sich bei der Feier in Kiew gefühlt, Frau Monheim? Das muss ja doch sehr bewegend für Sie gewesen sein - nach all den Jahren.

Monheim: Das ist für mich sehr, sehr, sehr bewegend. Erstens: Nachher wurde das ein wirkliches Dreieck. Deutschland hat die Hilfe angefangen, und ohne Deutschland könnte ich das gar nicht machen. Deshalb war ich sehr, sehr – fühlte ich mich geehrt und möchte noch mal meinen tiefsten Dank dem Minister Westerwelle zum Ausdruck bringen, dass er gekommen ist und das eröffnet hat. Natürlich hatten wir auch den Vizepremierminister der Ukraine, und wir hatten auch einen sehr prominenten Vertreter aus Polen. Wissen Sie, es ist einfach – ich denke schon weiter. Ich denke, dass wir jetzt als solch wunderbares Projekt, das so multifunktionell ist - ich träume davon, dass wir auch in diesen anderen Ländern des Eastern Partnerships sozusagen multipliziert werden. Und deshalb war es für mich so schön, dass diese Länder sich auch gemeldet haben und sagten, sie würden dieses Modell gerne übernehmen.

Und das ist für mich etwas - ich möchte gerne, dass dieser östliche Teil Europas eines Tages wirklich zu Europa und zu der Europäischen Union gehört. Und deshalb war es für mich so wichtig, dass wir das Eastern Partnership, das heute noch keine großen Impulse für Inhalte hat, dass wir mit unserem Projekt an diesem zivilgesellschaftlichen Niveau diese Länder verlinken und sie zusammen zur Kooperation bringen. Und ich glaube, das ist uns sehr gut gelungen, und vielleicht haben Sie gehört, dass anlässlich unserer Eröffnung eben eine große internationale Konferenz stattgefunden hat, an der Minister Westerwelle und der Kommissar Füle eben teilgenommen haben. Wir hatten einmal die politische Diskussion und einmal die soziale Dimension, wo wir über Kinder und Jugend gesprochen haben.

Scholl: Sie geben den Stab von "Our Kids" in diesem Jahr weiter, Frau Monheim, engagieren sich aber auch mit einer Stiftung, die Sie 2009 gegründet haben: "Bela" nennt sie sich, eine englische Abkürzung. Da geht es in einem weiteren Sinne auch um europäische Verständigung. Was genau?

Monheim: Das ist es. Also "Bela" steht für "Broader European Leadership Agenda". Und für mich als jemand, deren Eltern in Galizien aufgewachsen sind, in diesem multikulturellen Melting Pot Europas, ist klar, dass eigentlich alle Europäer in Einklang und mit allen möglichen Konfessionen gemeinsam leben sollen. Und für mich, war der Tag, als Polen 2004 in die EU aufgenommen wurde, einer der glücklichsten Tage meines Lebens. Und wir Polen haben überhaupt – ich bin zwar heute eigentlich Deutsche, aber meine Wurzeln liegen schon in Polen – wir haben keine Berührungsängste mit dem Wort Elite.

Ich finde, wir brauchen eine Elite, also gut ausgebildete Leute, die auch diese Herzensbildung dazu haben, wenn wir Europa vorantreiben wollen. Und das war der Grund, dass ich sage, ich suche die nächste Staffel der Führungskräfte in Europa. Und mittlerweile haben wir große Erfolge zu verzeichnen und geben seit drei Jahren sogar unseren Bela-Award. Wir haben auch Claudio Abbado diesen Preis verliehen, Jean-Claude Juncker und dieses Jahr Mario Monti ist der Preisträger und wird jetzt im Herbst in Berlin verliehen.

Scholl: "Wenn es mehr solche Barbaras gäbe, wäre die Ukraine längst in der EU", hat ein ukrainischer Parlamentarier einmal über Sie gesagt, Frau Monheim. Herzlichen Dank für Ihren Besuch und alles Gute für Ihre Arbeit.

Monheim: Danke! Das ist übrigens mein Nachfolger. Ihm habe ich mein Projekt abgegeben. Vielen Dank!

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