Die letzten Zeugen
Russland befindet sich nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in einer tiefen spirituellen Krise und sucht nach seinen Wurzeln. So fällt der Blick auch auf Tischanka, wo die letzen Zeugen einer vergangenen Welt leben: die Welt des orthodoxen russischen Bauerntums, das in einer blutigen Konfrontation mit den Bolschewiki untergegangen ist.
"Wem erzähle ich meine Trauer?
Wen rufe ich unter Schluchzen an?
Nur Du Herrscher, kennst meine Trauer
Nur Du mein Schöpfer,
der Überbringer alles Guten"
Tischanka, ein Dorf rund 100 Kilometer von Woronesch entfernt. In einem alten Holzhaus am Rand des Dorfes haben sich gut 30 Menschen zum Gottesdienst versammelt und singen. Die Mehrheit der Versammelten ist schon jenseits der 60 und alle, auch die wenigen jüngeren, tragen die altrussische Tracht. Die Frauen Röcke und Kopftuch, die Männer bestickte weite Hemden, die über dem Bauch mit einem Strick zusammengebunden sind und lange ungeschnittene Bärte. An hohen Feiertagen schickt das Regionalfernsehen aus Woronesch ein Team vorbei, um den Gottesdienst zu zeigen. Russland befindet sich nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in einer tiefen spirituellen Krise. So fällt der Blick auch nach Tischanka, wo die letzen Zeugen einer vergangenen Welt leben. Der Welt des orthodoxen russischen Bauerntums, das in einer blutigen Konfrontation mit den Bolschewiki untergegangen ist.
"Uns hat man von der Kindheit, von der Wiege an verfolgt. Wir blieben im Blickfeld, wie man so sagt, unser ganzes Leben lang."
Alexander Perepetschónow ist der älteste der kleinen Gemeinschaft. Trotz seiner Jahre, er ist 84, hält er sich noch sehr aufrecht.
"Mein Vater war bekannt als Mensch, der tief an Gott glaubte. Er trat in keine Kolchose oder Sowchose ein, nahm nirgendwo teil. Mich erzog er im Geist der Religion. Als die Gerüchte umgingen, dass man Vater festnehmen will, da sagte er zu Mutter: 'Sie werden mich abholen, lass die Kinder nicht zur Schule, damit man sie nicht zu den Pionieren zieht, in den Komsomol und zu Gottlosen macht.'... Da kamen die Lehrer an und fragten, warum er die Schule verbiete. Er antwortete: 'Ich erziehe die Kinder im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes. Amen. Aber ihr seid dagegen.'
Sie holten ihn ab und wir gingen nicht in die Schule. Und den Vater sperrten sie ein und dann mich."
Geschichten wie die von Alexander Perepetschónow haben sie alle erlebt. Alle der älteren der kleinen Gemeinschaft, die zäh an einer Lebensart festgehalten hat, die im restlichen Russland schon lange vergessen ist. Penibel halten sie alle kirchlichen Feiertage ein, fasten die 40 Tage vor Ostern und bevor sie sich zum Essen setzen, verneigen sie sich mehrmals vor den Ikonen in der Ecke, um Gott für seinen Segen zu danken. Den sowjetischen Staat haben sie nie anerkannt, sind in keine Organisation eingetreten, selbst Pässe haben sie abgelehnt und sich geweigert an religiösen Feiertagen zu arbeiten. Sie leben in einer anderen Zeit und einer anderen Welt.
"Man nannte es unser 'Heiliges Russland'. Man lebte damals in großen Familien. Früher, da gab es keine Gerichte, da wurde niemand verurteilt oder ins Gefängnis gesteckt, das Volk erzog sich selbst."
1923 geboren, ist Alexander Perepetschónow der einzige, der sich vage an die Lebensart erinnert, die noch vor einem Menschenalter das Land geprägt hat.
"Sagen wir jemand hat eine Garbe Roggen gestohlen. Dann entschied der Dorfälteste man solle ihm die Garbe auf den Rücken binden und er solle rufen, er sei ein Dieb. Ihm blieb nichts anderes übrig als zu gehorchen, denn andernfalls hätte man ihn durchgeprügelt. Also rief er laut, ich bin ein Dieb und später hat er sich nie wieder eine solche Schande erlaubt."
Es ist die archaische Welt der russischen Mir, der russischen Dorfgemeinschaft, die Alexander Perepetschónow beschreibt. Es gibt weder Richter noch Polizisten, alle wichtigen Fragen werden vom Starosten, vom Dorfältesten entschieden. Der Landbesitz des Einzelnen richtet sich nach der Zahl der Söhne und wird periodisch umverteilt. Noch bis Ende der 20er Jahre lebt die Mehrheit der Russen in solchen Gemeinschaften. Trotz Revolution und Machtergreifung der Bolschewiki.
Denn noch hat der neue Staat auf dem Land nichts an die Stelle der alten Ordnung setzen können. Wie seit alters her glauben die Bauern weiter an die wunderkräftige Macht der Ikonen, an Himmel und Hölle und das ewige Leben. Noch leben Einsiedler in den Höhlen am Don, ohne sie je zu verlassen und die Jurudowi, die heiligen Verrückten, werden vom Volk in höchsten Ehren gehalten.
Die kleine Gemeinschaft in Tischanka besteht aus den letzten Anhängern eines dieser Gottesnarren. Es ist Fjodor Rybalkin, ein einfacher Bauer, der 1922 zum ersten Mal in Erscheinung tritt.
"Er ging barfuß und ohne Kopfbedeckung. Es waren vierzig Grad minus und er ging auf den Jordan, auf den Don, und Dampf stieg von seinen Füßen auf.
Aus ganz Russland, ja sogar aus dem Ausland schlossen sich ihm Menschen an."
In den 20er Jahren folgen Tausende Fjodor Rybalkin. Aus dem Regionalarchiv von Woronesch ist bekannt, dass die Menschen zu Fuß hunderte von Kilometern zurücklegen, um den Gottesnarren zu sehen. An einem Sommertag 1926 sind es 7000, die seinen Predigten folgen.
"Könnte mir jemand eine Taube geben,
der ich alles erzählen kann
Ich würde sie zu Jakob schicken
Zu meinem Vater Israel
Ich vergieße Tränen zum Herrn
Über meine Trennung von Dir"
Die Welt der Bauern ist den Siegern im russischen Bürgerkrieg, den Bolschewiki, völlig fremd. Als sie nach der Revolution aufs Land kommen, um den neuen Fortschrittsglauben zu predigen, gibt es die ersten blutigen Zusammenstöße. Als schließlich die Rote Armee im Bürgerkrieg Getreide requirieren will, um die hungernden Städte zu versorgen, brechen überall Aufstände aus. Weite Teile des Landes geraten völlig außer Kontrolle. Erst als Lenin im Frühjahr 1921, eine "Neue ökonomische Politik" verkündet, ein Ende der Requirierungen und die Wiederzulassung des freien Handels, gehen die Aufstände langsam zu Ende. Noch kommen die Bolschewiki gegen die Bauernmassen nicht an.
Doch unter dem Deckmantel der neuen ökonomischen Freiheit bereiten die Bolschewiki einen weiteren Angriff vor. Und sie beginnen mit der letzten unabhängigen Institution im Land, der orthodoxen Kirche, die ihren Rückhalt besonders unter der Landbevölkerung hat.
Lenin schreibt in einem Brief vom 19. März 1922: "Je mehr Vertreter der reaktionären Geistlichkeit wir unter diesem Vorwand erschießen können, desto besser."
Der sowjetische Revolutionsführer schreibt diese Zeilen, nachdem sich Gläubige in der kleinen Stadt Schuja mit Gewalt gegen die Beschlagnahme von Ikonen gewehrt hatten. Genau darauf hat Lenin gewartet. Gewalt von Seiten Gläubiger, die man mit tausendfacher Gewalt vergelten kann. Und wie ruft man die Gewalt am besten hervor? Indem man sich an den in Gold gefassten Ikonen vergreift, die der orthodoxen Kirche heilig sind.
Gegen protestierende Geistliche wird mit aller Brutalität vorgegangen. Rund 10.000 Mönche, Nonnen und Priester werden hingerichtet und die orthodoxe Hierarchie enthauptet, der Patriarch von Russland, Tichon, unter Hausarrest gestellt.
Bis zu seinem Tod 1925 wird ihn kein Außenstehender mehr zu Gesicht bekommen.
Doch das ist erst der Anfang, auf dem Land sind die Kirchen weiter geöffnet. Noch fürchten die Bolschewiki neue Unruhen. Aber die Bauern spüren, es ist nur eine Atempause. Das beunruhigte Volk sucht nach Erklärungen. Und findet sie bei dem Gottesnarren Fjodor Rybalkin.
"Er predigte, dass 1917 der Antichrist in der Gestalt Lenins an die Macht gekommen sei. Damals hatte noch jeder eigene Pferde und eigenes Land, das er bearbeitete. Er prophezeite, dass man ihnen alles wegnehmen wird, dass es eine Kollektivierung geben wird. Sie verkauften ihr Land, verkauften ihre Pferde, verkauften alles. Wie im Evangelium, wie bei den Aposteln gehörte alles allen gemeinsam."
1926 wird Fjodor Rybalkin verhaftet und in eine psychiatrische Anstalt geschafft. Mehr ist über ihn nicht bekannt. Nicht einmal ein Todesdatum. Doch auch ohne ihn wächst seine Bewegung weiter. Im Volk verbreitet sich die Legende, Fjodor Rybalkin sei gar kein Mensch, sondern der wiedergekehrte Christus gewesen. Drei Jahre bleiben die Behörden tatenlos. 1929 schließlich wird den wichtigsten Anhängern Fjodor Rybalkins, seinen Aposteln, in Woronesch der Prozess gemacht.
"Zwei Wochen dauerte der Prozess und das Volk lärmte: 'Erschießen, erschießen, erschießen.' Das war also der Wunsch des Volkes. Und man hat sie erschossen, obwohl sie sich in nichts schuldig gemacht hatten."
Wenige Monate später gehen die Prophezeiungen Fjodor Rybalkins in Erfüllung.
"Nach 29, da begann die Kollektivierung. Auf einmal musste man in die Kolchose eintreten. Gib dein Pferd her, gib alles her. Aber wer wollte schon sein Pferd abgeben, sein Land und in irgendeinen Kolchos eintreten? Die Leute wehrten sich."
Doch diesmal weichen die Machthaber in Moskau nicht mehr vor den Bauern zurück. Aufkeimender Widerstand wird mit Gewalt unterdrückt.
Und als die Bauern nur mehr das säen und ernten, was sie zu ihrer eigenen Versorgung brauchen, nimmt man ihnen mit Gewalt die letzten Vorräte ab. Millionen verhungern oder sterben in der Verbannung.
"Man hat alle abgeholt. Alle, ohne Ausnahme. Nur die Kinder blieben übrig."
Gleich zu Beginn der Kollektivierung werden alle Anhänger Fjodor Rybalkins verhaftet.
"Als ich in den Lagern an der Kolyma war, da schrieben mir die Verwandten, suche den und den. Ich suchte und suchte und habe niemanden gefunden und die, von denen ich hörte, die waren alle bereits tot. Niemand hat überlebt."
Fast niemand, nur ein enger Gefährte Fjodor Rybálkins, es ist Arseni Emeljanowitsch. Er befindet sich bereits in einer psychiatrischen Anstalt, als man die Anhänger Fjodor Rybálkins vernichtet. Sein Name ist verbürgt, denn einige Jahre später wird ihm Jéwgenyi, der Vater Alexander Perepetschónows eben dort begegnen. Von beiden wird eine kurze Wiederbelebung der Bewegung Fjodors ausgehen. Aber das kommt erst später. Anfang der 30er Jahre, als man die Bauern in die Kolchosen zwingt, hat der Vater zwar von Fjodor gehört, aber noch ist er kein Fjódorowetz, wie man die Anhänger Fjodor Rybalkins nennt. Er ist ein Tíchonowetz, ein Anhänger Tichons, jenes letzten Patriarchen Russlands, der im Hausarrest gestorben ist. Er weigert sich, in die Kolchose zu gehen.
"Kolchose Lenin oder Stalin, was sollten wir da? Lenin hat nicht verhohlen, dass er Atheist war. Also ging er nicht hin. Die, die sich unterworfen hatte, denen ließ man ein Stück Gartenland. Aber uns nahm man alles weg. Mein Vater bat darum, wenigstens das Pferd ein letztes Mal tränken zu dürfen. Das erlaubten sie. Er führte es hinter den Schuppen, saß auf und verschwand. Irgendwo verkaufte er das Pferd. Da beschlossen sie alles, wirklich alles zu beschlagnahmen, auch den Schuppen und die Zäune, die zersägt wurden. Nur die Hütte blieb übrig. Da ging er zum örtlichen Sowjet, wo man ihm gleich mitteilte, dass sie ihn abholen werden, wenn nicht heute, dann morgen. Er antwortete, warum sollt ihr mich abholen, ich komme selbst. Nicht einmal der Mutter sagte er, wohin er ging, er verabschiedete sich nur von uns, ging zur Verwaltung und sang: 'Und vielen Dank Lenin und vielen Dank Stalin, man hat uns die Kuh weggenommen und sogar Mutters Melkschürze.'"
Die groteske Kombination von Lenin, Stalin und Mutters Melkschürze rettet den Vater.
"Es hieß, Vater ist verrückt geworden. Das war schlau von ihm gewesen. Nur ein Wort zuviel … Sie schickten Vater ins Irrenhaus nach Orlowka. Dort traf er Arseni Emeljanowitsch, der mit Fjodor zusammen gewesen war. Von ihm hat er alle Einzelheiten erfahren."
"Oh wie schwer es um das Herz wird,
wenn man sehen muss, wie die Menschen
Brüderlichkeit und Liebe vergessen haben.
Überall sieht man nur Wut und Hass"
"Wir lebten weiter, nachdem sie uns alles weggenommen hatten. Wir waren vier Kinder. Die Mutter lief in der Welt herum, jemand gibt ihr ein wenig zu verdienen oder gibt ihr etwas und sie bringt es nachts nach Hause, damit die Leute nichts merken. Die Leute hatten Angst ihr etwas zu geben.
Gute Zeiten kannten wir nicht. Die Suppe war wässrig und den Geschmack von Brot hatten wir schon ganz und gar vergessen.
Es gab auch noch andere Gläubige im Dorf. Bei denen hatten sie den Vater abgeholt, bei der Mutter blieben sieben Kinder. Sie hatte Knochentuberkulose. Sie konnte nicht einmal gehen. Und sie liegt da, die Kinder um sie herum sind nackt, wie die Mutter sie geboren hat. Die älteren liefen in der Welt herum, jemand gibt eine rote Beete, ein anderer Kartoffeln und ein weiterer drückt ihnen den Hals zu. Wenn man das ganze Bild zeigen wollte, wäre es einfach schrecklich."
Offene Gegner der Sowjetmacht gibt es nach der Kollektivierung auf dem Land nicht mehr. Sie sind tot, in Sibirien, oder überleben wie Alexander Perepetschónows Vater vereinzelt in der Psychiatrie. Jetzt wächst der Druck auf die, die zwar in die Kolchosen eingetreten sind, aber nicht vom alten Glauben lassen wollen. Moskau gibt den Lokalbehörden ein probates Mittel an die Hand. 1930 werden die alten kirchlichen Feiertagenabgeschafft und die Sonntage zu normalen Arbeitstagen erklärt.
"Du solltest nicht nur in die Kolchose eintreten, du solltest auch nicht länger an Gott glauben. In der Kirche läuten die Glocken, komm zu Gott, aber die Kommunisten schlagen gegen eine Eisenschiene, auf zur Arbeit. Geht also einer nicht zur Schiene, in den Kolchos, sondern in die Kirche. Aha, hieß es dann. In die Kirche? Schon wurde er festgenommen."
Die Spuren dieser Zeit sind in Russland bis heute allgegenwärtig. Eingestürzte Kirchen, überwucherte Kapellen und ausgedehnte Ruinenfelder, wo einmal Klöster gewesen waren. Als der Zweite Weltkrieg ausbricht, gibt es in dem Riesenland kaum mehr als 200 offene Kirchen. Und doch, bei der Volkszählung 1937, bezeichnen sich noch über 70 Prozent der Bevölkerung als orthodoxe Christen. Eine gefährlich hohe Zahl, wie sich bei dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion erweist. Viele werfen lieber die Waffe weg als für Stalin zu kämpfen und es gibt Dörfer in Südrussland, wo die Bevölkerung die deutschen Truppen mit Brot und Salz begrüßt. Unter deutscher Besatzung ist das offene Bekenntnis zu Gott wieder gestattet.
"Die Deutschen hatten keine Verwendung für Geisteskranke, sie brachten sie einfach um."
Im November 1941 nimmt die Wehrmacht die Klinik ein, in der sich Jewgenij Perepetschónow befindet.
"Mein Vater versteckte sich, als alle erschossen werden sollten. Sie fanden ihn und wollten ihn mit den anderen zusammen erschießen. Da rief der Chefarzt, er ist gesund, er ist nicht verrückt. Er ist ein tiefgläubiger Mensch. Die Deutschen ließen ihn frei. Aber 900 Menschen wurden erschossen."
Nur im Familienkreis erzählt der Heimgekehrte, was er von dem letzten Gefährten Fjodors erfahren hat. Das nämlich Fjodor Rybalkin kein einfacher Bauer, sondern Christus in Menschengestalt gewesen ist.
"In der Armee habe ich nicht gedient. Das Vaterland hätte ich noch verteidigt, aber Stalin? Das habe ich natürlich nicht offen gesagt, dafür hätte man mich erschossen. Stattdessen sagte ich: 'Aus Überzeugung, aus christlicher Überzeugung. Ich bin ein Christ, das ist eine Sünde für mich.""
Alexander Perepetschónow versteckt sich, als man ihn Anfang 42 einziehen will. Zwei Jahre hält er durch, lebt im Wald, auch im Winter. Als man ihn fasst, wird er nicht erschossen, er kommt in ein Arbeitslager. Die Zeiten haben sich geändert. Stalin hat strikte Order gegeben, jegliche Verfolgung orthodoxer Christen einzustellen. Die Kriegslage ist so verzweifelt, dass man nunmehr auf die uralte Identifikation der russischen Bevölkerung mit der Orthodoxie setzt, um den Widerstand gegen die deutschen Besatzer anzufachen. Nach dem Sieg fällt auch Alexander Perepetschónow unter eine allgemeine Amnestie.
"Im Krieg da öffnete Hitler die Kirchen und die Leute gingen wieder hin. Stalin sieht, dass die Leute wieder in die Kirchen gehen und da öffnete auch er die Kirchen, um die Menschen auf seine Seite zu ziehen. Und setzte seinen Patriarchen ein, Alexei, der lang lebe Stalin sang. Aber welche Kirche kann der Teufel wiederbeleben? Nur seine eigene."
Schon bald nach dem Krieg ist es mit der Toleranz wieder vorbei. Die Unterstützung der Gläubigen wird nicht mehr gebraucht und eine neue Verfolgungswelle setzt ein. 1948 werden Vater und Sohn am selben Tag verhaftet. Der Vater kommt erneut in die Psychiatrie, den Sohn verurteilt man zu zehn Jahren Zwangsarbeit. Man schickt ihn an die Kolyma am pazifischen Ozean, in ein Lager ohne Wiederkehr.
"Dorthin kamen politische oder religiöse Häftlinge, die unter besonderer Beobachtung standen. Kolyma, das war Kolyma. Was Soltschenizin geschrieben hat, das ist bei weitem nicht alles. Das kann man gar nicht beschreiben, so schrecklich war es.
Ich habe nicht gedacht, dass ich von dort zurückkomme. Noch dazu habe ich an religiösen Feiertagen nicht gearbeitet. Die, die nicht zur Arbeit gingen, die begoss man bei minus 60 Grad mit Wasser. Die Leichen blieben eisbedeckt stehen.
Am Anfang nahmen mich Weißrussen unter ihre Obhut. Ein Jahr lang haben sie mich gedeckt. Das war möglich, weil wir innerhalb des Lagers arbeiteten.
Aber dann sollten wir außerhalb des Lagers arbeiten. Es war eiskalt, minus 60 Grad. Und ich gehe zur Seite: 'Heute ist ein hoher Feiertag, da kann ich nicht arbeiten.' Sie schlugen mich mit Fäusten und schleiften mich zum Vorgesetzten. Der fragte mich, ob es stimme, dass ich gläubig sei. Ich antwortete ja, und dann fragte er mich, woher ich komme. Ich antwortete Woronesch. Dann fragte er, woher aus Woronesch. Als ich sagte, aus Burtulinowka, da umarmte er mich und rief: 'Du bist mein Landsmann, du brauchst nicht arbeiten.' So ein Wunder.
Er hat mich gerettet. Die anderen Gläubigen, die sind alle umgekommen."
1956, drei Jahre nach dem Tod Stalins werden die Lager aufgelöst. Vater und Sohn kehren in ihr Dorf zurück. Doch nichts ist wie früher. Der Eigensinn der älteren Bauern ist endgültig gebrochen und die jüngeren sind bereits in eine andere Welt hineingewachsen. Eine Welt, in der nicht mehr Bauerngemeinde und russische Orthodoxie das Leben bestimmen, sondern die Partei und ihre Verheißungen einer besseren Zukunft. Nur noch vereinzelt gibt es Menschen wie die beiden Perepetschónows, die die Sowjetmacht weiter ablehnen. Die Position der Partei ist auf dem Land nun so gefestigt, dass man den Verweigerern sogar jenes Fünftel Hektar überlässt, das auch allen anderen Dorfbewohnern zusteht. Als auch Arsenij Emeljanowitsch dazukommt, der Gefährte Fjodors, der in der Psychiatrie überlebt hat, flackert die Bewegung des Fjodor Rybálkin noch einmal kurz auf.
"Und da gab es auch noch einige andere, die nicht in die Kolchosen eingetreten waren, aber überlebt hatten. Sie hatten sich mit Betteln durchgeschlagen, sie galten schon nicht mehr als Menschen. Sie hatten die Schande und den Hunger ausgehalten. Weil es Sünde war, sich in die kommunistische Gemeinschaft zu begeben."
Bald sind es gut 50 Menschen, die der Gemeinschaft angehören. Sie alle eint der Glaube, dass es nicht nur den Satan, also Lenin und Stalin gegeben hat, sondern auch seinen Widerpart Christus, der in der Gestalt Fjodor Rybálkins auf die Erde gekommen ist. Radikal verweigern sie jeden Kontakt mit dem Staat und überleben dank des kleinen Stück Lands, das man ihnen gelassen hat. Ende der 50er Jahre werden zwei Drittel der noch bestehenden Kirchen geschlossen, die letzte große Verfolgung beginnt. 1961 erreicht der lange Arm der Staatsmacht auch die Fjodorowzi. Man verbannt sie nach Sibirien. Dort bietet man ihnen unerhörte Vergünstigungen an, wenn sie sich nur von ihrem Glauben lossagen.
"'Sagt euch von eurem Glauben los und ihr werdet gutes Geld verdienen.' Da fragte ich den Natschalnik, wie viel sie mir denn zahlen würden. 500 Rubel war die Antwort. Da sagte ich zum ihm: "Du hast Dich für 400 Rubel verkauft, aber du willst mich für 500 Rubel kaufen?' Da fing er an zu brüllen. 'Für dich wird es keinerlei Arbeit geben.' 19 Mal stellten sie mich vor Gericht. Sieben Jahre lang wurden wir alle vier Monate verurteilt. Schwöre ab, aber wenn du dich weigerst."
In Sibirien stoßen noch einige Anhänger Tichons zu den Fjodorowzi. Doch Nachwuchs gibt es nur noch vereinzelt. Die meisten Fjodorowzi bleiben kinderlos, denn ein geordnetes Familienleben ist unmöglich. Schließlich brechen die 70er Jahre an, die letzten Gefangenen werden freigelassen und die Verbannten dürfen nach und nach zurück. Doch wohin?
"Wir waren damals verteilt auf ganz Russland. Wir schrieben uns gegenseitig und dachten, wenn sie uns einzeln unterdrücken können, dann ist es aus. Wir beschlossen uns irgendwo zusammen anzusiedeln.
Als wir hier ankamen, wussten die Leute nicht, wer wir waren, wir kamen ja aus dem Gefängnis. Die Behörden sagten, wir seien fremde Elemente, Wölfe. Einige aus dem Volk erkannten, das war nur Verleumdung, andere dagegen beschimpften uns, schlugen die Kinder in den Schulen und warfen uns Steine ins Fenster. Bis zur Perestroika ging der Kampf, bis dahin hat man uns verfolgt. Später wurden wir rehabilitiert und sie boten mir eine Kompensation an. Sollte ich dafür meine Generation eintauschen, die umgekommen ist? Ich habe das Geld nicht genommen."
"Es gibt keine brüderliche Liebe mehr
Die Menschen haben sich dem neuen blutigen Glauben ergeben
Statt die Wahrheit in unserem Herrn Jesus Christus zu finden"
"Heute sagt man, dass Lenin und Stalin alles bis ins letzte zerstört haben. Aber wo war das Volk, warum fragte niemand, warum die Kirchen zerstört und die Ikonen verbrannt werden? Niemand wagte sich hervor, nur die Anhänger Tichons und Fjodors. Dafür sind wir in den Kerkern verfault, dafür hat man uns umgebracht. Und jetzt behaupten alle, sie seien Christen. Was sind das für Christen, die sich vom Glauben abwandten, weil sie Angst vor dem Gefängnis hatten?"
Wen rufe ich unter Schluchzen an?
Nur Du Herrscher, kennst meine Trauer
Nur Du mein Schöpfer,
der Überbringer alles Guten"
Tischanka, ein Dorf rund 100 Kilometer von Woronesch entfernt. In einem alten Holzhaus am Rand des Dorfes haben sich gut 30 Menschen zum Gottesdienst versammelt und singen. Die Mehrheit der Versammelten ist schon jenseits der 60 und alle, auch die wenigen jüngeren, tragen die altrussische Tracht. Die Frauen Röcke und Kopftuch, die Männer bestickte weite Hemden, die über dem Bauch mit einem Strick zusammengebunden sind und lange ungeschnittene Bärte. An hohen Feiertagen schickt das Regionalfernsehen aus Woronesch ein Team vorbei, um den Gottesdienst zu zeigen. Russland befindet sich nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in einer tiefen spirituellen Krise. So fällt der Blick auch nach Tischanka, wo die letzen Zeugen einer vergangenen Welt leben. Der Welt des orthodoxen russischen Bauerntums, das in einer blutigen Konfrontation mit den Bolschewiki untergegangen ist.
"Uns hat man von der Kindheit, von der Wiege an verfolgt. Wir blieben im Blickfeld, wie man so sagt, unser ganzes Leben lang."
Alexander Perepetschónow ist der älteste der kleinen Gemeinschaft. Trotz seiner Jahre, er ist 84, hält er sich noch sehr aufrecht.
"Mein Vater war bekannt als Mensch, der tief an Gott glaubte. Er trat in keine Kolchose oder Sowchose ein, nahm nirgendwo teil. Mich erzog er im Geist der Religion. Als die Gerüchte umgingen, dass man Vater festnehmen will, da sagte er zu Mutter: 'Sie werden mich abholen, lass die Kinder nicht zur Schule, damit man sie nicht zu den Pionieren zieht, in den Komsomol und zu Gottlosen macht.'... Da kamen die Lehrer an und fragten, warum er die Schule verbiete. Er antwortete: 'Ich erziehe die Kinder im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes. Amen. Aber ihr seid dagegen.'
Sie holten ihn ab und wir gingen nicht in die Schule. Und den Vater sperrten sie ein und dann mich."
Geschichten wie die von Alexander Perepetschónow haben sie alle erlebt. Alle der älteren der kleinen Gemeinschaft, die zäh an einer Lebensart festgehalten hat, die im restlichen Russland schon lange vergessen ist. Penibel halten sie alle kirchlichen Feiertage ein, fasten die 40 Tage vor Ostern und bevor sie sich zum Essen setzen, verneigen sie sich mehrmals vor den Ikonen in der Ecke, um Gott für seinen Segen zu danken. Den sowjetischen Staat haben sie nie anerkannt, sind in keine Organisation eingetreten, selbst Pässe haben sie abgelehnt und sich geweigert an religiösen Feiertagen zu arbeiten. Sie leben in einer anderen Zeit und einer anderen Welt.
"Man nannte es unser 'Heiliges Russland'. Man lebte damals in großen Familien. Früher, da gab es keine Gerichte, da wurde niemand verurteilt oder ins Gefängnis gesteckt, das Volk erzog sich selbst."
1923 geboren, ist Alexander Perepetschónow der einzige, der sich vage an die Lebensart erinnert, die noch vor einem Menschenalter das Land geprägt hat.
"Sagen wir jemand hat eine Garbe Roggen gestohlen. Dann entschied der Dorfälteste man solle ihm die Garbe auf den Rücken binden und er solle rufen, er sei ein Dieb. Ihm blieb nichts anderes übrig als zu gehorchen, denn andernfalls hätte man ihn durchgeprügelt. Also rief er laut, ich bin ein Dieb und später hat er sich nie wieder eine solche Schande erlaubt."
Es ist die archaische Welt der russischen Mir, der russischen Dorfgemeinschaft, die Alexander Perepetschónow beschreibt. Es gibt weder Richter noch Polizisten, alle wichtigen Fragen werden vom Starosten, vom Dorfältesten entschieden. Der Landbesitz des Einzelnen richtet sich nach der Zahl der Söhne und wird periodisch umverteilt. Noch bis Ende der 20er Jahre lebt die Mehrheit der Russen in solchen Gemeinschaften. Trotz Revolution und Machtergreifung der Bolschewiki.
Denn noch hat der neue Staat auf dem Land nichts an die Stelle der alten Ordnung setzen können. Wie seit alters her glauben die Bauern weiter an die wunderkräftige Macht der Ikonen, an Himmel und Hölle und das ewige Leben. Noch leben Einsiedler in den Höhlen am Don, ohne sie je zu verlassen und die Jurudowi, die heiligen Verrückten, werden vom Volk in höchsten Ehren gehalten.
Die kleine Gemeinschaft in Tischanka besteht aus den letzten Anhängern eines dieser Gottesnarren. Es ist Fjodor Rybalkin, ein einfacher Bauer, der 1922 zum ersten Mal in Erscheinung tritt.
"Er ging barfuß und ohne Kopfbedeckung. Es waren vierzig Grad minus und er ging auf den Jordan, auf den Don, und Dampf stieg von seinen Füßen auf.
Aus ganz Russland, ja sogar aus dem Ausland schlossen sich ihm Menschen an."
In den 20er Jahren folgen Tausende Fjodor Rybalkin. Aus dem Regionalarchiv von Woronesch ist bekannt, dass die Menschen zu Fuß hunderte von Kilometern zurücklegen, um den Gottesnarren zu sehen. An einem Sommertag 1926 sind es 7000, die seinen Predigten folgen.
"Könnte mir jemand eine Taube geben,
der ich alles erzählen kann
Ich würde sie zu Jakob schicken
Zu meinem Vater Israel
Ich vergieße Tränen zum Herrn
Über meine Trennung von Dir"
Die Welt der Bauern ist den Siegern im russischen Bürgerkrieg, den Bolschewiki, völlig fremd. Als sie nach der Revolution aufs Land kommen, um den neuen Fortschrittsglauben zu predigen, gibt es die ersten blutigen Zusammenstöße. Als schließlich die Rote Armee im Bürgerkrieg Getreide requirieren will, um die hungernden Städte zu versorgen, brechen überall Aufstände aus. Weite Teile des Landes geraten völlig außer Kontrolle. Erst als Lenin im Frühjahr 1921, eine "Neue ökonomische Politik" verkündet, ein Ende der Requirierungen und die Wiederzulassung des freien Handels, gehen die Aufstände langsam zu Ende. Noch kommen die Bolschewiki gegen die Bauernmassen nicht an.
Doch unter dem Deckmantel der neuen ökonomischen Freiheit bereiten die Bolschewiki einen weiteren Angriff vor. Und sie beginnen mit der letzten unabhängigen Institution im Land, der orthodoxen Kirche, die ihren Rückhalt besonders unter der Landbevölkerung hat.
Lenin schreibt in einem Brief vom 19. März 1922: "Je mehr Vertreter der reaktionären Geistlichkeit wir unter diesem Vorwand erschießen können, desto besser."
Der sowjetische Revolutionsführer schreibt diese Zeilen, nachdem sich Gläubige in der kleinen Stadt Schuja mit Gewalt gegen die Beschlagnahme von Ikonen gewehrt hatten. Genau darauf hat Lenin gewartet. Gewalt von Seiten Gläubiger, die man mit tausendfacher Gewalt vergelten kann. Und wie ruft man die Gewalt am besten hervor? Indem man sich an den in Gold gefassten Ikonen vergreift, die der orthodoxen Kirche heilig sind.
Gegen protestierende Geistliche wird mit aller Brutalität vorgegangen. Rund 10.000 Mönche, Nonnen und Priester werden hingerichtet und die orthodoxe Hierarchie enthauptet, der Patriarch von Russland, Tichon, unter Hausarrest gestellt.
Bis zu seinem Tod 1925 wird ihn kein Außenstehender mehr zu Gesicht bekommen.
Doch das ist erst der Anfang, auf dem Land sind die Kirchen weiter geöffnet. Noch fürchten die Bolschewiki neue Unruhen. Aber die Bauern spüren, es ist nur eine Atempause. Das beunruhigte Volk sucht nach Erklärungen. Und findet sie bei dem Gottesnarren Fjodor Rybalkin.
"Er predigte, dass 1917 der Antichrist in der Gestalt Lenins an die Macht gekommen sei. Damals hatte noch jeder eigene Pferde und eigenes Land, das er bearbeitete. Er prophezeite, dass man ihnen alles wegnehmen wird, dass es eine Kollektivierung geben wird. Sie verkauften ihr Land, verkauften ihre Pferde, verkauften alles. Wie im Evangelium, wie bei den Aposteln gehörte alles allen gemeinsam."
1926 wird Fjodor Rybalkin verhaftet und in eine psychiatrische Anstalt geschafft. Mehr ist über ihn nicht bekannt. Nicht einmal ein Todesdatum. Doch auch ohne ihn wächst seine Bewegung weiter. Im Volk verbreitet sich die Legende, Fjodor Rybalkin sei gar kein Mensch, sondern der wiedergekehrte Christus gewesen. Drei Jahre bleiben die Behörden tatenlos. 1929 schließlich wird den wichtigsten Anhängern Fjodor Rybalkins, seinen Aposteln, in Woronesch der Prozess gemacht.
"Zwei Wochen dauerte der Prozess und das Volk lärmte: 'Erschießen, erschießen, erschießen.' Das war also der Wunsch des Volkes. Und man hat sie erschossen, obwohl sie sich in nichts schuldig gemacht hatten."
Wenige Monate später gehen die Prophezeiungen Fjodor Rybalkins in Erfüllung.
"Nach 29, da begann die Kollektivierung. Auf einmal musste man in die Kolchose eintreten. Gib dein Pferd her, gib alles her. Aber wer wollte schon sein Pferd abgeben, sein Land und in irgendeinen Kolchos eintreten? Die Leute wehrten sich."
Doch diesmal weichen die Machthaber in Moskau nicht mehr vor den Bauern zurück. Aufkeimender Widerstand wird mit Gewalt unterdrückt.
Und als die Bauern nur mehr das säen und ernten, was sie zu ihrer eigenen Versorgung brauchen, nimmt man ihnen mit Gewalt die letzten Vorräte ab. Millionen verhungern oder sterben in der Verbannung.
"Man hat alle abgeholt. Alle, ohne Ausnahme. Nur die Kinder blieben übrig."
Gleich zu Beginn der Kollektivierung werden alle Anhänger Fjodor Rybalkins verhaftet.
"Als ich in den Lagern an der Kolyma war, da schrieben mir die Verwandten, suche den und den. Ich suchte und suchte und habe niemanden gefunden und die, von denen ich hörte, die waren alle bereits tot. Niemand hat überlebt."
Fast niemand, nur ein enger Gefährte Fjodor Rybálkins, es ist Arseni Emeljanowitsch. Er befindet sich bereits in einer psychiatrischen Anstalt, als man die Anhänger Fjodor Rybálkins vernichtet. Sein Name ist verbürgt, denn einige Jahre später wird ihm Jéwgenyi, der Vater Alexander Perepetschónows eben dort begegnen. Von beiden wird eine kurze Wiederbelebung der Bewegung Fjodors ausgehen. Aber das kommt erst später. Anfang der 30er Jahre, als man die Bauern in die Kolchosen zwingt, hat der Vater zwar von Fjodor gehört, aber noch ist er kein Fjódorowetz, wie man die Anhänger Fjodor Rybalkins nennt. Er ist ein Tíchonowetz, ein Anhänger Tichons, jenes letzten Patriarchen Russlands, der im Hausarrest gestorben ist. Er weigert sich, in die Kolchose zu gehen.
"Kolchose Lenin oder Stalin, was sollten wir da? Lenin hat nicht verhohlen, dass er Atheist war. Also ging er nicht hin. Die, die sich unterworfen hatte, denen ließ man ein Stück Gartenland. Aber uns nahm man alles weg. Mein Vater bat darum, wenigstens das Pferd ein letztes Mal tränken zu dürfen. Das erlaubten sie. Er führte es hinter den Schuppen, saß auf und verschwand. Irgendwo verkaufte er das Pferd. Da beschlossen sie alles, wirklich alles zu beschlagnahmen, auch den Schuppen und die Zäune, die zersägt wurden. Nur die Hütte blieb übrig. Da ging er zum örtlichen Sowjet, wo man ihm gleich mitteilte, dass sie ihn abholen werden, wenn nicht heute, dann morgen. Er antwortete, warum sollt ihr mich abholen, ich komme selbst. Nicht einmal der Mutter sagte er, wohin er ging, er verabschiedete sich nur von uns, ging zur Verwaltung und sang: 'Und vielen Dank Lenin und vielen Dank Stalin, man hat uns die Kuh weggenommen und sogar Mutters Melkschürze.'"
Die groteske Kombination von Lenin, Stalin und Mutters Melkschürze rettet den Vater.
"Es hieß, Vater ist verrückt geworden. Das war schlau von ihm gewesen. Nur ein Wort zuviel … Sie schickten Vater ins Irrenhaus nach Orlowka. Dort traf er Arseni Emeljanowitsch, der mit Fjodor zusammen gewesen war. Von ihm hat er alle Einzelheiten erfahren."
"Oh wie schwer es um das Herz wird,
wenn man sehen muss, wie die Menschen
Brüderlichkeit und Liebe vergessen haben.
Überall sieht man nur Wut und Hass"
"Wir lebten weiter, nachdem sie uns alles weggenommen hatten. Wir waren vier Kinder. Die Mutter lief in der Welt herum, jemand gibt ihr ein wenig zu verdienen oder gibt ihr etwas und sie bringt es nachts nach Hause, damit die Leute nichts merken. Die Leute hatten Angst ihr etwas zu geben.
Gute Zeiten kannten wir nicht. Die Suppe war wässrig und den Geschmack von Brot hatten wir schon ganz und gar vergessen.
Es gab auch noch andere Gläubige im Dorf. Bei denen hatten sie den Vater abgeholt, bei der Mutter blieben sieben Kinder. Sie hatte Knochentuberkulose. Sie konnte nicht einmal gehen. Und sie liegt da, die Kinder um sie herum sind nackt, wie die Mutter sie geboren hat. Die älteren liefen in der Welt herum, jemand gibt eine rote Beete, ein anderer Kartoffeln und ein weiterer drückt ihnen den Hals zu. Wenn man das ganze Bild zeigen wollte, wäre es einfach schrecklich."
Offene Gegner der Sowjetmacht gibt es nach der Kollektivierung auf dem Land nicht mehr. Sie sind tot, in Sibirien, oder überleben wie Alexander Perepetschónows Vater vereinzelt in der Psychiatrie. Jetzt wächst der Druck auf die, die zwar in die Kolchosen eingetreten sind, aber nicht vom alten Glauben lassen wollen. Moskau gibt den Lokalbehörden ein probates Mittel an die Hand. 1930 werden die alten kirchlichen Feiertagenabgeschafft und die Sonntage zu normalen Arbeitstagen erklärt.
"Du solltest nicht nur in die Kolchose eintreten, du solltest auch nicht länger an Gott glauben. In der Kirche läuten die Glocken, komm zu Gott, aber die Kommunisten schlagen gegen eine Eisenschiene, auf zur Arbeit. Geht also einer nicht zur Schiene, in den Kolchos, sondern in die Kirche. Aha, hieß es dann. In die Kirche? Schon wurde er festgenommen."
Die Spuren dieser Zeit sind in Russland bis heute allgegenwärtig. Eingestürzte Kirchen, überwucherte Kapellen und ausgedehnte Ruinenfelder, wo einmal Klöster gewesen waren. Als der Zweite Weltkrieg ausbricht, gibt es in dem Riesenland kaum mehr als 200 offene Kirchen. Und doch, bei der Volkszählung 1937, bezeichnen sich noch über 70 Prozent der Bevölkerung als orthodoxe Christen. Eine gefährlich hohe Zahl, wie sich bei dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion erweist. Viele werfen lieber die Waffe weg als für Stalin zu kämpfen und es gibt Dörfer in Südrussland, wo die Bevölkerung die deutschen Truppen mit Brot und Salz begrüßt. Unter deutscher Besatzung ist das offene Bekenntnis zu Gott wieder gestattet.
"Die Deutschen hatten keine Verwendung für Geisteskranke, sie brachten sie einfach um."
Im November 1941 nimmt die Wehrmacht die Klinik ein, in der sich Jewgenij Perepetschónow befindet.
"Mein Vater versteckte sich, als alle erschossen werden sollten. Sie fanden ihn und wollten ihn mit den anderen zusammen erschießen. Da rief der Chefarzt, er ist gesund, er ist nicht verrückt. Er ist ein tiefgläubiger Mensch. Die Deutschen ließen ihn frei. Aber 900 Menschen wurden erschossen."
Nur im Familienkreis erzählt der Heimgekehrte, was er von dem letzten Gefährten Fjodors erfahren hat. Das nämlich Fjodor Rybalkin kein einfacher Bauer, sondern Christus in Menschengestalt gewesen ist.
"In der Armee habe ich nicht gedient. Das Vaterland hätte ich noch verteidigt, aber Stalin? Das habe ich natürlich nicht offen gesagt, dafür hätte man mich erschossen. Stattdessen sagte ich: 'Aus Überzeugung, aus christlicher Überzeugung. Ich bin ein Christ, das ist eine Sünde für mich.""
Alexander Perepetschónow versteckt sich, als man ihn Anfang 42 einziehen will. Zwei Jahre hält er durch, lebt im Wald, auch im Winter. Als man ihn fasst, wird er nicht erschossen, er kommt in ein Arbeitslager. Die Zeiten haben sich geändert. Stalin hat strikte Order gegeben, jegliche Verfolgung orthodoxer Christen einzustellen. Die Kriegslage ist so verzweifelt, dass man nunmehr auf die uralte Identifikation der russischen Bevölkerung mit der Orthodoxie setzt, um den Widerstand gegen die deutschen Besatzer anzufachen. Nach dem Sieg fällt auch Alexander Perepetschónow unter eine allgemeine Amnestie.
"Im Krieg da öffnete Hitler die Kirchen und die Leute gingen wieder hin. Stalin sieht, dass die Leute wieder in die Kirchen gehen und da öffnete auch er die Kirchen, um die Menschen auf seine Seite zu ziehen. Und setzte seinen Patriarchen ein, Alexei, der lang lebe Stalin sang. Aber welche Kirche kann der Teufel wiederbeleben? Nur seine eigene."
Schon bald nach dem Krieg ist es mit der Toleranz wieder vorbei. Die Unterstützung der Gläubigen wird nicht mehr gebraucht und eine neue Verfolgungswelle setzt ein. 1948 werden Vater und Sohn am selben Tag verhaftet. Der Vater kommt erneut in die Psychiatrie, den Sohn verurteilt man zu zehn Jahren Zwangsarbeit. Man schickt ihn an die Kolyma am pazifischen Ozean, in ein Lager ohne Wiederkehr.
"Dorthin kamen politische oder religiöse Häftlinge, die unter besonderer Beobachtung standen. Kolyma, das war Kolyma. Was Soltschenizin geschrieben hat, das ist bei weitem nicht alles. Das kann man gar nicht beschreiben, so schrecklich war es.
Ich habe nicht gedacht, dass ich von dort zurückkomme. Noch dazu habe ich an religiösen Feiertagen nicht gearbeitet. Die, die nicht zur Arbeit gingen, die begoss man bei minus 60 Grad mit Wasser. Die Leichen blieben eisbedeckt stehen.
Am Anfang nahmen mich Weißrussen unter ihre Obhut. Ein Jahr lang haben sie mich gedeckt. Das war möglich, weil wir innerhalb des Lagers arbeiteten.
Aber dann sollten wir außerhalb des Lagers arbeiten. Es war eiskalt, minus 60 Grad. Und ich gehe zur Seite: 'Heute ist ein hoher Feiertag, da kann ich nicht arbeiten.' Sie schlugen mich mit Fäusten und schleiften mich zum Vorgesetzten. Der fragte mich, ob es stimme, dass ich gläubig sei. Ich antwortete ja, und dann fragte er mich, woher ich komme. Ich antwortete Woronesch. Dann fragte er, woher aus Woronesch. Als ich sagte, aus Burtulinowka, da umarmte er mich und rief: 'Du bist mein Landsmann, du brauchst nicht arbeiten.' So ein Wunder.
Er hat mich gerettet. Die anderen Gläubigen, die sind alle umgekommen."
1956, drei Jahre nach dem Tod Stalins werden die Lager aufgelöst. Vater und Sohn kehren in ihr Dorf zurück. Doch nichts ist wie früher. Der Eigensinn der älteren Bauern ist endgültig gebrochen und die jüngeren sind bereits in eine andere Welt hineingewachsen. Eine Welt, in der nicht mehr Bauerngemeinde und russische Orthodoxie das Leben bestimmen, sondern die Partei und ihre Verheißungen einer besseren Zukunft. Nur noch vereinzelt gibt es Menschen wie die beiden Perepetschónows, die die Sowjetmacht weiter ablehnen. Die Position der Partei ist auf dem Land nun so gefestigt, dass man den Verweigerern sogar jenes Fünftel Hektar überlässt, das auch allen anderen Dorfbewohnern zusteht. Als auch Arsenij Emeljanowitsch dazukommt, der Gefährte Fjodors, der in der Psychiatrie überlebt hat, flackert die Bewegung des Fjodor Rybálkin noch einmal kurz auf.
"Und da gab es auch noch einige andere, die nicht in die Kolchosen eingetreten waren, aber überlebt hatten. Sie hatten sich mit Betteln durchgeschlagen, sie galten schon nicht mehr als Menschen. Sie hatten die Schande und den Hunger ausgehalten. Weil es Sünde war, sich in die kommunistische Gemeinschaft zu begeben."
Bald sind es gut 50 Menschen, die der Gemeinschaft angehören. Sie alle eint der Glaube, dass es nicht nur den Satan, also Lenin und Stalin gegeben hat, sondern auch seinen Widerpart Christus, der in der Gestalt Fjodor Rybálkins auf die Erde gekommen ist. Radikal verweigern sie jeden Kontakt mit dem Staat und überleben dank des kleinen Stück Lands, das man ihnen gelassen hat. Ende der 50er Jahre werden zwei Drittel der noch bestehenden Kirchen geschlossen, die letzte große Verfolgung beginnt. 1961 erreicht der lange Arm der Staatsmacht auch die Fjodorowzi. Man verbannt sie nach Sibirien. Dort bietet man ihnen unerhörte Vergünstigungen an, wenn sie sich nur von ihrem Glauben lossagen.
"'Sagt euch von eurem Glauben los und ihr werdet gutes Geld verdienen.' Da fragte ich den Natschalnik, wie viel sie mir denn zahlen würden. 500 Rubel war die Antwort. Da sagte ich zum ihm: "Du hast Dich für 400 Rubel verkauft, aber du willst mich für 500 Rubel kaufen?' Da fing er an zu brüllen. 'Für dich wird es keinerlei Arbeit geben.' 19 Mal stellten sie mich vor Gericht. Sieben Jahre lang wurden wir alle vier Monate verurteilt. Schwöre ab, aber wenn du dich weigerst."
In Sibirien stoßen noch einige Anhänger Tichons zu den Fjodorowzi. Doch Nachwuchs gibt es nur noch vereinzelt. Die meisten Fjodorowzi bleiben kinderlos, denn ein geordnetes Familienleben ist unmöglich. Schließlich brechen die 70er Jahre an, die letzten Gefangenen werden freigelassen und die Verbannten dürfen nach und nach zurück. Doch wohin?
"Wir waren damals verteilt auf ganz Russland. Wir schrieben uns gegenseitig und dachten, wenn sie uns einzeln unterdrücken können, dann ist es aus. Wir beschlossen uns irgendwo zusammen anzusiedeln.
Als wir hier ankamen, wussten die Leute nicht, wer wir waren, wir kamen ja aus dem Gefängnis. Die Behörden sagten, wir seien fremde Elemente, Wölfe. Einige aus dem Volk erkannten, das war nur Verleumdung, andere dagegen beschimpften uns, schlugen die Kinder in den Schulen und warfen uns Steine ins Fenster. Bis zur Perestroika ging der Kampf, bis dahin hat man uns verfolgt. Später wurden wir rehabilitiert und sie boten mir eine Kompensation an. Sollte ich dafür meine Generation eintauschen, die umgekommen ist? Ich habe das Geld nicht genommen."
"Es gibt keine brüderliche Liebe mehr
Die Menschen haben sich dem neuen blutigen Glauben ergeben
Statt die Wahrheit in unserem Herrn Jesus Christus zu finden"
"Heute sagt man, dass Lenin und Stalin alles bis ins letzte zerstört haben. Aber wo war das Volk, warum fragte niemand, warum die Kirchen zerstört und die Ikonen verbrannt werden? Niemand wagte sich hervor, nur die Anhänger Tichons und Fjodors. Dafür sind wir in den Kerkern verfault, dafür hat man uns umgebracht. Und jetzt behaupten alle, sie seien Christen. Was sind das für Christen, die sich vom Glauben abwandten, weil sie Angst vor dem Gefängnis hatten?"