Die letzten drei Monate

23.09.2008
"Tanner geht" ist ein Protokoll des Sterbens. Drei Monate lang hat der Journalist Wolfgang Prosinger den 51-jährigen, alleinstehenden und schwerkranken Ulrich Tanner - der Name ist geändert - begleitet. Der Weg führt in den organisierten Selbstmord, der letzte Gang zur Schweizer Sterbehilfeorganisation Dignitas. Hinter allem steht immer die Frage nach dem Warum. Und Tanner steht Rede und Antwort.
Parkinson, Aids, Krebs. Drei tödlich verlaufende Krankheiten halten Ulrich Tanner, der Name ist ein Pseudonym, in ihrem mitunter schmerzlichen Würgegriff. Denn die gängigen Medikamente helfen dem Kranken selten. Oft leidet er mehr unter den Nebenwirkungen als von den schmerzlindernden zu profitieren.

Dazu kommen eine immer größer werdende Bewegungsunfähigkeit und Gedächtnisstörungen. Mal steht er plötzlich im Keller, ohne zu wissen warum. Dann will er mit dem Auto nach Köln fahren, findet sich aber plötzlich in Richtung Leverkusen wieder. Angst mache das, sagt er. Und wo endet das alles?

Nach reiflicher Überlegung kommt Tanner, 51 Jahre alt, von Beruf Modellbauer, zu einem Entschluss, seinem Entschluss: Er will nicht länger leiden, seinen körperlichen Verfall nicht schutzlos miterleben. Lieber sterben als das.

Im Oktober 2007 bittet der alleinstehende Mann die Schweizer Sterbehilfeorganisation Dignitas um Hilfe bei der Freitodbegleitung. Vier Monate später ist Tanner tot. Gestorben an einem giftigen Medikamentencocktail, den er im Beisein zweier Freunde in der Schweiz getrunken hat.

Das Protokoll seines Sterbens list sich über weite Strecken wie ein Roman. Geschrieben hat es der Journalist Wolfgang Prosinger. Drei Monate hat er Tanner bis zu seinem Tod begleitet, hat ihn regelmäßig getroffen und seitenlange Interviews und Gespräche geführt. Der anfangs kühle Tanner wird so von Seite zu Seite weniger verschlossen, erzählt ausführlich von seinem Leben und betont immer wieder, wie gut er sich jede seiner Entscheidungen überlegt.

Das ist wichtig - ihm wichtig. Dem Buch wichtig. Denn hinter allem steht immer die Frage nach dem Warum. Und Tanner steht Rede und Antwort, er will seine Entscheidung verständlich machen. Er will, dass endlich mal etwas Sinnvolles über Sterbehilfe geschrieben wird, begründet er seine Teilnahme am Buchprojekt.

Und sinnvoll ist sein Bericht, er list sich stimmig, nimmt einen mit in diese Welt zwischen Leben und Sterben und erlaubt Einblicke in die wohl persönlichste Entscheidung, die ein Mensch treffen kann: Ist mein Leben lebenswert oder nicht?

Doch je näher man Tanner kommt, je mehr man über ihn und sein Leben erfährt, umso mehr verfängt man sich in den Fallstricken, die dieses hochemotionale Thema mit sich bringen. Darf man frei wählen, wie und wann man sterben will? Ist man tatsächlich so losgelöst von der Gesellschaft, dass das eigene Sterben folgenlos für die Umwelt bleibt? Und wie ist eine Organisation wie Dignitas tatsächlich zu bewerten, die für mehrere tausend Euro todkranken Menschen beim Sterben hilft?

Immer wieder ist Tanners persönlicher und nahegehender Bericht unterbrochen von sachlichen Texten und geschichtlichen Exkursen des Autors zum Thema Sterbehilfe und Freitod. Prosinger erläutert die verschiedenen Positionen von Kirche, Ärzteschaft und Politik. Er erklärt, was erlaubt ist in Deutschland und was nicht und beschreibt das System Dignitas, lässt Mitarbeiter und den Leiter von Dignitas ausführlich zu Wort kommen.

Schnell wird dabei klar: Eine allgemeingültige Antwort, ob Sterbehilfe, also die Beihilfe zur Selbsttötung, erlaubt sein darf oder nicht, kann und wird es nicht geben. Das belegt Ulrich Tanner mit seinem mutigen Zeugnis. Zu individuell ist jeder Lebens- und Leidensweg. Was für den einen tragbar ist, kann ein anderer nicht aushalten. Wer will in so einer Situation Richter über das fremde Leben sein?

Rezensiert von Kim Kindermann

Wolfgang Prosinger: Tanner geht. Sterbehilfe - Ein Mann plant seinen Tod
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2008
176 Seiten, 16,90 Euro
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