Die Leistungsfähigkeit des Staates
Bis heute scheiden sich am Staat Preußen die Geister: Manche bewundern die preußischen Tugenden, manche verabscheuen den Militärstaat. Für den australischen Historiker Christopher Clark ist Preußen ein interessantes Beispiel für die Leistungsfähigkeit eines gut organisierten Staates – gewissermaßen eine Antwort des Historikers auf die heutige Geringschätzung des Staates in der Propaganda der Neoliberalen.
Preußen ist lange tot – spätestens seitdem die Alliierten Preußen vor 60 Jahren, am 25. Februar 1947, für tot erklärt haben. Und doch führt dieser Staat ein eigenartiges Nachleben. Wer von Preußen spricht oder über Preußen schreibt, steht schnell in dem Ruch, entweder ein Preußen-Verehrer zu sein oder ein Preußen-Hasser. Die einen preisen die preußischen Tugenden, die anderen verdammen den preußischen Militarismus. Die Preußenliteratur füllt lange Regale, und sie ist voll von Darstellungen, die entweder das eine oder das andere Gefühl bedienen.
Kann man eine Geschichte Preußens schreiben, ohne in den Sog der Pro- oder Contra-Gefühle zu geraten?
Es gehört zum Wesen dieses Staates, dass er es den Geschichtsschreibern schwer macht, cool zu bleiben. Denn kaum ein zweiter Staat lebte so sehr von Selbstdarstellung und Propaganda wie Preußen. Der preußische Staat, ein merkwürdiges und flüchtiges Gebilde, war darauf angewiesen, seine eigene Geschichte "sozusagen beim Erzählen" zu erfinden – womit er gleichzeitig die Gegenpropaganda angeheizt hat.
Spätestens seit dem 19. Jahrhundert ist daher die preußische Geschichte überlagert von so vielen gefärbten Geschichtsbildern, dass man an die Geschichte selbst kaum noch herankommt.
Christopher Clark ist dies auf eindrucksvolle Weise gelungen. Als britischer Historiker, der aus Australien stammt, hat er genügend Distanz zum Objekt seiner Darstellung. Aus dieser Distanz ist ihm eine großartige Darstellung der preußischen Geschichte gelungen. Personen, Entscheidungen, Ereignisse, Zeitumstände und Strukturen nimmt er genau in den Blick und macht den Blick frei für die Geschichten, die sich hinter den gefärbten Preußenbildern verbergen.
Friedrich II. etwa – beziehungsweise der Große (Clark nennt ihn bezeichnenderweise mal so, mal so) – wird für seinen aufklärerischen Geist gerühmt. Zu Recht. Aber er war auch ein Mann der rohen Männlichkeit – noch roher als sein Vater, der Soldatenkönig, dessen Tabakskollegium zweifelhaften Ruhm erlangt hat.
Clarks Personenbeschreibungen sind meisterhaft. Sein Erzählstil hat zuweilen literarische Qualität. In wenigen Strichen zeichnet er ein Bild vom Dreißigjährigen Krieg, wechselt von einer scharfsinnigen Analyse dynastischer Machtpolitik zu einer ergreifenden Darstellung des Kriegsalltags eines einfachen Soldaten auf dem Schlachtfeld und beschreibt die Aufklärung als einen Prozess, in dem die Beteiligten Höflichkeit im öffentlichen Disput lernten.
War Preußen ein Hort des Militarismus? Der preußische Staat leistete sich im Verhältnis zu seiner Bevölkerung und gemessen an seinen Ressourcen eine überproportional große Armee, und das Militär nahm eine Sonderstellung ein. Aber viele Soldaten waren "Ausländer", und Clark belegt, dass die preußische Gesellschaft keineswegs mehr vom Militär durchdrungen war als die Gesellschaft anderer Staaten.
Brandenburg-Preußens Trauma war der Dreißigjährige Krieg. Für Clark ist die Erfahrung der Schutzlosigkeit, mit der die Hohenzollern in Brandenburg den feindlichen Mächten ausgeliefert waren, ein Schlüssel für die preußische Geschichte der folgenden Jahrhunderte. Die Konzentration auf militärische Stärke, die Eroberungen, die wechselnden Bündnisse: Das alles hat viel mit dem Verlangen zu tun, ein Territorium abzusichern, das nach allen Seiten offen war und Angriffsflächen bot.
Eine Reihe hoch begabter Herrscher hatte nach dem Machtantritt des (später so betitelten) Großen Kurfürsten 1640 entscheidenden Anteil daran, dass der Hohenzollernstaat innerhalb eines Jahrhunderts von einem unbedeutenden Kurfürstentum zu einer europäischen Großmacht aufstieg. Doch selbst im Augenblick der größten Machtentfaltung unter Friedrich II., dem Großen, sitzt dem Hohenzollernherrscher die Angst im Nacken, dass sein Staat verwundbar ist.
"Das friderizianische System", schreibt Clark, "funktionierte gut mit dem unermüdlichen und weitsichtigen Friedrich am Ruder, der die Probleme, die auf seinen Tisch kamen, mit seinem raschen und überragenden Intellekt, ganz zu schweigen von seinem Mut und seiner Entscheidungsfreude, anging. Was aber, wenn der König kein genialer Staatsmann war?"
Die Tragik der preußischen Geschichte wurde bald nach Friedrichs Tod deutlich: Was mit großen Mühen aufgebaut worden war, wurde im Handumdrehen verspielt. Eine Reihe schwerer politischer Fehler mündete (in einer objektiv extrem schwierigen Situation) in die Niederlage gegen Napoleon 1806. Aber der preußische Staat hatte inzwischen so viele Kräfte geweckt, dass der Niederlage die Wiederauferstehung folgte.
Bezeichnend daran ist, dass sie "von unten" erzwungen wurde, gegen den zögerlichen Regenten. Die patriotische Volksbewegung und die Reformer an der Spitze des preußischen Staates sind ein Beleg für die inneren Kräfte, die Preußen in der Zeit seines Aufstiegs im 18. Jahrhundert gesammelt hatte.
Und doch bleibt die Angst, dass sich Preußen seiner Errungenschaften nie sicher sein konnte. Clark sieht in Preußen ein improvisiertes Staatsgebilde, das nicht, wie oft geschrieben wird, Ergebnis eines planvollen Staatsaufbaus war, sondern Ergebnis der Improvisationskunst einiger Hohenzollernherrscher. Das machte die Zerbrechlichkeit des preußischen Staates aus.
Dessen Ende bahnte sich, so sieht Clark es, mit der Gründung des deutschen Nationalstaates an. Ob Deutschland Preußen verschluckt hat oder ob Deutschland stark von Preußen geprägt worden ist: Darüber lässt sich streiten. Doch Clarks Hauptaugenmerk ist nicht auf diese Frage gerichtet, über die so viel gestritten worden ist, sondern auf die Zeit vor 1871. Clark zitiert Voltaire, der schon während des Siebenjährigen Krieges meinte, es sei von einigem Nutzen, "wenn man erklären könnte, wie es dazu kam, dass das sandige Land Brandenburg so mächtig geworden ist, dass man mehr Streitkräfte gegen Brandenburg mobilisiert hat als jemals gegen Ludwig XIV."
Es ist vor allem diese Frage, die Clarks Historiker-Neugier geweckt hat. Für Clark ist Preußen ein interessantes Beispiel für die Leistungsfähigkeit eines gut organisierten Staates – gewissermaßen eine Antwort des Historikers auf die heutige Geringschätzung des Staates in der Propaganda der Neoliberalen.
Preußen wird aber keine Wiederauferstehung feiern. Da ist Clark sicher. Übrig geblieben sei Brandenburg. Eine preußische Identität habe sich nicht entwickelt, stattdessen würden die Leute heute wieder ihre regionalen Identitäten pflegen, die breite Masse habe keine Sehnsucht nach einer Wiederbelebung Preußens.
Rezensiert von Winfried Sträter
Christopher Clark: Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600-1947
Übersetzt von Richard Barth, Norbert Juraschitz und Thomas Pfeiffer
DVA, München 2007
896 Seiten, 39,95 Euro
Kann man eine Geschichte Preußens schreiben, ohne in den Sog der Pro- oder Contra-Gefühle zu geraten?
Es gehört zum Wesen dieses Staates, dass er es den Geschichtsschreibern schwer macht, cool zu bleiben. Denn kaum ein zweiter Staat lebte so sehr von Selbstdarstellung und Propaganda wie Preußen. Der preußische Staat, ein merkwürdiges und flüchtiges Gebilde, war darauf angewiesen, seine eigene Geschichte "sozusagen beim Erzählen" zu erfinden – womit er gleichzeitig die Gegenpropaganda angeheizt hat.
Spätestens seit dem 19. Jahrhundert ist daher die preußische Geschichte überlagert von so vielen gefärbten Geschichtsbildern, dass man an die Geschichte selbst kaum noch herankommt.
Christopher Clark ist dies auf eindrucksvolle Weise gelungen. Als britischer Historiker, der aus Australien stammt, hat er genügend Distanz zum Objekt seiner Darstellung. Aus dieser Distanz ist ihm eine großartige Darstellung der preußischen Geschichte gelungen. Personen, Entscheidungen, Ereignisse, Zeitumstände und Strukturen nimmt er genau in den Blick und macht den Blick frei für die Geschichten, die sich hinter den gefärbten Preußenbildern verbergen.
Friedrich II. etwa – beziehungsweise der Große (Clark nennt ihn bezeichnenderweise mal so, mal so) – wird für seinen aufklärerischen Geist gerühmt. Zu Recht. Aber er war auch ein Mann der rohen Männlichkeit – noch roher als sein Vater, der Soldatenkönig, dessen Tabakskollegium zweifelhaften Ruhm erlangt hat.
Clarks Personenbeschreibungen sind meisterhaft. Sein Erzählstil hat zuweilen literarische Qualität. In wenigen Strichen zeichnet er ein Bild vom Dreißigjährigen Krieg, wechselt von einer scharfsinnigen Analyse dynastischer Machtpolitik zu einer ergreifenden Darstellung des Kriegsalltags eines einfachen Soldaten auf dem Schlachtfeld und beschreibt die Aufklärung als einen Prozess, in dem die Beteiligten Höflichkeit im öffentlichen Disput lernten.
War Preußen ein Hort des Militarismus? Der preußische Staat leistete sich im Verhältnis zu seiner Bevölkerung und gemessen an seinen Ressourcen eine überproportional große Armee, und das Militär nahm eine Sonderstellung ein. Aber viele Soldaten waren "Ausländer", und Clark belegt, dass die preußische Gesellschaft keineswegs mehr vom Militär durchdrungen war als die Gesellschaft anderer Staaten.
Brandenburg-Preußens Trauma war der Dreißigjährige Krieg. Für Clark ist die Erfahrung der Schutzlosigkeit, mit der die Hohenzollern in Brandenburg den feindlichen Mächten ausgeliefert waren, ein Schlüssel für die preußische Geschichte der folgenden Jahrhunderte. Die Konzentration auf militärische Stärke, die Eroberungen, die wechselnden Bündnisse: Das alles hat viel mit dem Verlangen zu tun, ein Territorium abzusichern, das nach allen Seiten offen war und Angriffsflächen bot.
Eine Reihe hoch begabter Herrscher hatte nach dem Machtantritt des (später so betitelten) Großen Kurfürsten 1640 entscheidenden Anteil daran, dass der Hohenzollernstaat innerhalb eines Jahrhunderts von einem unbedeutenden Kurfürstentum zu einer europäischen Großmacht aufstieg. Doch selbst im Augenblick der größten Machtentfaltung unter Friedrich II., dem Großen, sitzt dem Hohenzollernherrscher die Angst im Nacken, dass sein Staat verwundbar ist.
"Das friderizianische System", schreibt Clark, "funktionierte gut mit dem unermüdlichen und weitsichtigen Friedrich am Ruder, der die Probleme, die auf seinen Tisch kamen, mit seinem raschen und überragenden Intellekt, ganz zu schweigen von seinem Mut und seiner Entscheidungsfreude, anging. Was aber, wenn der König kein genialer Staatsmann war?"
Die Tragik der preußischen Geschichte wurde bald nach Friedrichs Tod deutlich: Was mit großen Mühen aufgebaut worden war, wurde im Handumdrehen verspielt. Eine Reihe schwerer politischer Fehler mündete (in einer objektiv extrem schwierigen Situation) in die Niederlage gegen Napoleon 1806. Aber der preußische Staat hatte inzwischen so viele Kräfte geweckt, dass der Niederlage die Wiederauferstehung folgte.
Bezeichnend daran ist, dass sie "von unten" erzwungen wurde, gegen den zögerlichen Regenten. Die patriotische Volksbewegung und die Reformer an der Spitze des preußischen Staates sind ein Beleg für die inneren Kräfte, die Preußen in der Zeit seines Aufstiegs im 18. Jahrhundert gesammelt hatte.
Und doch bleibt die Angst, dass sich Preußen seiner Errungenschaften nie sicher sein konnte. Clark sieht in Preußen ein improvisiertes Staatsgebilde, das nicht, wie oft geschrieben wird, Ergebnis eines planvollen Staatsaufbaus war, sondern Ergebnis der Improvisationskunst einiger Hohenzollernherrscher. Das machte die Zerbrechlichkeit des preußischen Staates aus.
Dessen Ende bahnte sich, so sieht Clark es, mit der Gründung des deutschen Nationalstaates an. Ob Deutschland Preußen verschluckt hat oder ob Deutschland stark von Preußen geprägt worden ist: Darüber lässt sich streiten. Doch Clarks Hauptaugenmerk ist nicht auf diese Frage gerichtet, über die so viel gestritten worden ist, sondern auf die Zeit vor 1871. Clark zitiert Voltaire, der schon während des Siebenjährigen Krieges meinte, es sei von einigem Nutzen, "wenn man erklären könnte, wie es dazu kam, dass das sandige Land Brandenburg so mächtig geworden ist, dass man mehr Streitkräfte gegen Brandenburg mobilisiert hat als jemals gegen Ludwig XIV."
Es ist vor allem diese Frage, die Clarks Historiker-Neugier geweckt hat. Für Clark ist Preußen ein interessantes Beispiel für die Leistungsfähigkeit eines gut organisierten Staates – gewissermaßen eine Antwort des Historikers auf die heutige Geringschätzung des Staates in der Propaganda der Neoliberalen.
Preußen wird aber keine Wiederauferstehung feiern. Da ist Clark sicher. Übrig geblieben sei Brandenburg. Eine preußische Identität habe sich nicht entwickelt, stattdessen würden die Leute heute wieder ihre regionalen Identitäten pflegen, die breite Masse habe keine Sehnsucht nach einer Wiederbelebung Preußens.
Rezensiert von Winfried Sträter
Christopher Clark: Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600-1947
Übersetzt von Richard Barth, Norbert Juraschitz und Thomas Pfeiffer
DVA, München 2007
896 Seiten, 39,95 Euro