Die Leipziger Maler-Schule und ihr Lehrmeister

Von Jochen Stöckmann · 23.08.2005
Die "Leipziger Schule" gilt in der Malerei als Gütesiegel. Die Werke der darunter gefassten Künstler werden auf dem internationalen Kunstmarkt hoch gehandelt. Viele von ihnen haben an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst bei dem Maler Arno Rink studiert, der in den Ruhestand geht. Sein bekanntester Schüler Neo Rauch wird ihm als Professor nachfolgen.
Begonnen hat alles zu DDR-Zeiten in der Spinnerei, in einem alten Leipziger Fabrikgebäude, wo Arno Rink sein erstes Geld als Fahrstuhlführer verdiente:

" Davon habe ich noch ewig geträumt: Von unendlichen Fahrstuhlfahrten, die durchs Dach gehen, nie zu Ende gehen. Aber real war halt: Wenn ich aus meinem Fahrstuhl ausstieg und irgend etwas transportieren musste auf diesen Ebenen, wo die Spinnmaschinen standen, waren da lauter Frauen. Und die machten sich einen SPass daraus, einen Zwanzigjährigen zum Erröten zu bringen."

Noch bevor er bei Bernhard Heisig Malerei studierte, hatte Rink gelernt: Gegenständlich träumt der Mensch. Dieses Wissen und die solide handwerkliche Ausbildung brachten den späteren Rektor der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst dazu, zeichnerische Präzision und malerische Phantasie zu verbinden – und zwar unter dem staatlichen Etikett des "sozialistischen Realismus". Dass er sich um solche Zuschreibungen wenig schert, statt dessen ein Auge für die besondere, fast surrealistische Atmosphäre Leipziger Orte hat, demonstriert der frischgebackene Emeritus mit seiner Beschreibung des aufgegebenen Spinnereigebäudes in der Nonnenstraße. Dort schlagen seine Meisterschüler in geräumigen Ateliers ihre Malschlachten, dort werden in Galerien die lukrativen "Ölgeschäfte" der Neuen Leipziger Schule getätigt.

Arno Rink: " Das ist schon beeindruckend – und auch gespenstisch. Wenn ich einen Studenten besuche muss ich durch diesen ganzen unendlichen Raum mit lauter Säulen. Durch diese Dimension bekommt das etwas von Kriminalfilmen."

Aber nicht um kriminelle Machenschaften geht es, sondern um Kunst. Um die Frage, wie es heute neben all den leerstehenden Fabrikhallen um die geistigen Freiräume bestellt ist, was sich da geändert hat im Vergleich zur Epoche der DDR-Malerheroen Mattheuer, Tübke oder Heisig:

" Wir haben zum Beispiel ein vollkommen anderes Verhältnis zur Literatur gehabt. Wir waren damals schon sehr früh mit Büchern beschäftigt, also amerikanische Moderne, aber auch Babel und Bulgakow. Dazu kam eben, dass die Leipziger Hochschule das erzählende Moment bewegt hat, und da war es jedem einzelnen überlassen, ob er illustrierend vorwärts kam oder im Sinne von Abstraktion. Das ist immer die Frage nach der Kraft der Form. Heute stelle ich fest, dass die Literatur nicht mehr diesen Stellenwert hat."

Neo Rauch immerhin, Rinks prominenter Meisterschüler und nun auch sein Nachfolger als Professor, versorgt den Lehrer mit Lektüre: Tagebücher von Ernst Jünger.

" Bei Rauch ist es einfach. Rauch hat zwar zu DDR-Zeiten noch bei mir studiert, aber sein Werk ist eindeutig in der Bundesrepublik nach der Wende angesiedelt. Ich und meine Kollegen dagegen, wir sind zwiegespalten. "

Dieser Zwiespalt, Arno Rink hat ihn bewusst gelebt, als Künstler und als Bürger der DDR:

" Ich war ja in der Partei, obwohl ich als nicht sehr zuverlässig galt, was mir die Staatssicherheit dann auch bestätigt hat. Höchstwahrscheinlich bin auch deshalb Rektor geblieben, als einziger in der DDR, über die Wende hinaus."

Das scheint nun ein fast ebenso großes Wunder wie die plötzliche Karriere seiner Studenten. Wie macht man das, als Einziger der gegenständlich arbeitenden Malerriege zu überdauern – und dann auch noch als "Königsmacher" von der Kunstpresse gefeiert zu werden? Allein an der handwerklich soliden Ausbildung wird es nicht gelegen haben:

" Weil es ja gar nicht darum ging, dass sie bei mir eine Nase oder eine Hand lernen. Sondern es ging wirklich um diesen Satz "Suche Dich und find Dich". Und da bin ich Fallensteller, Moderator, Verärgerer und was weiß ich nicht alles –aber auch Vater gewesen."

Die figürliche Malerei lehrte der "Vater" der Neuen Leipziger Schule mit fester Hand, aber durchaus nicht autoritär, denn davor bewahrten ihn seine eigenen Erfahrungen:

" Ich habe es bei meinem Lehrer erlebt, wie alle so scharf darauf waren, wie Heisig zu malen. Und nach dem Diplom musste n sie sich da erst einmal wieder rausgraben aus dieser Kollektiverfahrung Heisigscher Malerei."

Rinks Studenten allerdings erzielen nun gleich im Dutzend Höchstpreise mit – so spottete jüngst der westdeutsche Malerfürst Gerhard Richter – mit unverbindlich illustrativen Ölgemälden. Rink sagt dazu nicht ohne Selbstironie:

" Die gegenständliche Malerei, das konnte man zur Biennale in Venedig und auch sonst sehen, wenn wir dabei waren, die war halt dem Ostblock vorbehalten. Und wir waren die besten dabei. Ich habe damals immer gesagt: Von der DDR lernen heißt malen lernen."

Sein eigenes "Gesellenstück" lieferte Arno Rink Anfang der Siebziger mit dem Monumentalgemälde "Pariser Commune" für das Armeemuseum in Dresden ab – und erlebte schon damals seine ganz persönliche, künstlerische "Wende":

" Die großen Figuren waren gut komponiert, aber sie waren unsinnlich, waren unerlebt und ungefühlt. Das war die Wende, denn man hat vorher immer Bücher gelesen, die diese einseitige Sicht bestärkt haben: Die Linken sind die Guten und die Rechten sind die Bösen. Bis man dann mal Malraux gelesen hat – und dieser junge, gläubige Genosse hat dann gemerkt, dass es auch andere Wahrheiten gibt. Und hat immer mehr SPass an der Malerei gefunden, an der Form der Malerei. Und immer weniger am Inhalt."

Vielleicht war es diese Betrachtungsdistanz, aus der heraus Arno Rink allen Unkenrufen nach 1989 gelassen begegnen konnte:

" Wenn man oberflächlich hinschaute, konnte man schon annehmen, dass gegenständliche Malerei – von manchen befürchtet, von vielen erhofft – mit dem System zugrunde geht. Es hängt auch damit zusammen, dass es die Zeit war, als die Neuen Medien – ich habe ja diese Fachrichtung selbst gegründet an der Hochschule – die Neuen Medien Aufwind bekamen und für viele natürlich auch etwas Neues darstellten."

Dank der Bemühungen des Leipziger Rektors kam aber nicht der Untergang, sondern ein Umschwung für die gegenständliche Malerei:

" Wenn ich die Alte Leipziger Schule mit der Neuen vergleiche, ist die thematische Schwere und Tiefe in der Alten Leipziger Schule eine andere. Das Porträt war Bestandteil des gegenständlichen Malens, während das die Neue Leipziger Schule in dem Sinne nicht mehr hat. Ihr Blick ist anonymer. Aber wenn ich Malerei mit Pinsel und Farbe mache, sollte sie etwas über ihre Zeit aussagen. Und ich glaube, dass man an den Bildern der Jungen Leipziger Schule doch sieht, dass sie Malerei im Zeitalter der Neuen Medien ist."

Gesehen haben das natürlich nicht Museumsleute, sondern zuallererst die Kunsthändler:

" Das Problem ist nur: der Kunstmarkt meint im Grunde genommen nicht mich, und er meint auch nicht die anderen Maler aus der Alten Leipziger Schule. Sondern er meint ganz präzise acht, zehn, zwölf junge Maler, für die ich immer als Lehrer genannt werde, aber nicht die Leipziger Schule alter Prägung."

Vor allem Amerikaner fliegen aus New York direkt nach Leipzig, landen nicht mehr in Berlin, sondern schreiben ihre Schecks mit schwindelerregenden Summen direkt vor Ort, in den Ateliers der Nonnenstraße aus – und übersehen dabei, was für Einheimische wie Rink so nahe liegt:

" Das berührt auch andere wichtige Bereiche nicht, die hier in Leipzig durchaus vorhanden sind. Unter anderem auch die Fotografie. So gesehen ist es eine kompakte, sehr schnelle, enge Angelegenheit – die genauso schnell wieder vorbeigehen wird. "

Neo Rauch, Tilo Baumgärtel und all die anderen ehemaligen Rink-Studenten fliegen heute ganz selbstverständlich mal eben zur Ausstellungseröffnung in Honolulu, ihr Lehrer dagegen hatte 1983 Probleme mit einem simplen Besuch in Neustadt an der Weinstraße:

" Westdeutsches-ostdeutsches Künstlertreffen: Mein Pass blieb solange liegen, bis dieses treffen vorbei war, dann durfte ich rüber fahren. Und Heisig sagte dann zu mir: "Ja, das muss t Du mir sagen, dann funktioniert das schon!" Und das war auch so etwas, wo ich gedacht habe: Wie alt muss t Du denn noch werden, um selbständig rausfahren zu dürfen?"

Weil die DDR-Künstler selten zu ihren Westkollegen reisen konnten, holte Rinks Frau, die damals den Kunstraum der Hochschule betreute, in den Achtzigern eine Beuys-Ausstellung nach Leipzig – und Arno Rink als Rektor musste die Eröffnungsrede halten:

" Ich hab’ mich mit Beuys beschäftigt, so, wie ich ihn verstand. Natürlich aus einer anderen Haltung heraus, denn ich hatte ja auch schon gesagt – mißverständlich, gebe ich zu – die Mauer ist auch gut gewesen dafür, dass zum Beispiel Beuys auf der anderen Seite war und wir hier in Ruhe unsere Traditionslinie verfolgen und ausbauen konnten. Eine Kunsthaltung, die viel Handwerk erfordert im Umgang mit der Figur, also ungestört und mit viel Zeit."

Diese Zeit aber blieb kaum noch, als mit der Wende die Marktwirtschaft auch die Kunst erfaßte – und der Professor Rink erkennen musste:

" Ich bilde aus – und bin gar nicht geeignet, die jungen Leute auf den Markt zu bringen. In dem Moment kommt Judy Lybke ins Spiel als – auch – Ost-Galerist aus DDR-Zeiten, mit dem unwahrscheinlich guten Riecher für Malerei und für den Markt."

Der Galerist Gerd Harry Lybke erwies sich als Motor – mit einer Umdrehungszahl, die sich für die alte, und in ihrem Malduktus bewußt altmeisterliche Leipziger Schule jenseits aller Vorstellungen bewegt und dann doch den einzigen, aber wohl entscheidenden Generationenunterschied markiert:

" Lybke hat ganz klar gesagt, wen ich vertrete, der muss ein Zukunftspotential haben. Da merke ich eben, dass ich vollkommen anders gepolt bin. Ich male im Jahr anderthalb bis zwei Bilder, während die jungen Leute damit nicht einmal in die Nähe des Kunstmarktes kämen."