Die Leidensgeschichte einer Migrantin

Von Frieder Reininghaus |
Dunkelrot können die Rosen sein, die in beziehungsvollsten Moment geschenkt werden. Doch dies dürfte die Nürnberger Autorin Gabriele Straßmann kaum im Blick gehabt haben. In ihrem Libretto, in dem (Alp-)Traumbilder und veristisch skizzierte Szenen sich ablösen, geht es um die Farbe des Bluts: um sichtbare und unsichtbare Spuren der Folter und einen Menschen, der den Peinigern zwar fürs erste entkommen konnte, aber anderswo keine Zuflucht findet und dem der Rücktransport in die Hände der Schergen droht.
Das Staatstheater Nürnberg hat die Auftragsarbeit zum heiklen Sujet Migration von Karola Obermüller komponieren lassen. Deren Kammeroper für ein 15-köpfiges Instrumentalensemble, sieben Sänger und die fast stumme Rolle der Bewegungsartistin mit Namen Dunkelrot zeichnet sich durch hohe Intensitäten aus und einen durchgängig differenzierten Ton, der die Traumsequenzen in andere Farben taucht als die Momente, in denen die Asylbewerberin Mahjouba Mint Mamlouk (MMM) aus einem nicht näher bezeichneten Land der Dritten Welt mit der mitteleuropäischen Realität konfrontiert wird.

Anzunehmen ist, dass diese MMM, die Folterfolgen an ihrem Körper so wenig unmittelbar evident machen wie sie die Ermordung ihres Freundes beweisen kann, von jenem Kontinent stammt, der in der globalisierten Welt ganz überwiegend als unnötig und lästig angesehen wird: Afrika.

Lien Haegeman, der Hauptdarstellerin, wird nach ersten Konfrontationen mit hiesigen Behörden beziehungsweise Herrn Mehr und Frau Heit schwarz geschminkt und so erst zur "Negerin". Die Traumklangfahnen verwehen und aus hochespressiven Cantilenen-Fragmenten schält sich die Leidensgeschichte der Frau, die in Paris Jura studierte und der es nach Rückkehr in ihr Heimatland nicht gut erging.

Dem Streichquintett sitzen zehn Bläser, darunter zwei mitunter besonders markant eingesetzte Posaunen gegenüber. Durch schneidende Höhen der zwei Geigen und massiveren Bläsersatz entwickeln sich ausgesprochen scharfe, heftige und auf diese Weise angesichts der zu Grunde gelegten Thematik beredte musikalische Episoden: die vom Dirigenten Christian Reuter nachdrücklich hervorgehobene Rhetorik von Drohkulisse und Angst (alles ungleich profilierter als Jörn Arneckes Musik zu Falk Richters "Unter Eis", einen Tag zuvor bei der RuhrTriennale in Bochum uraufgeführt).

Doch den wohl intensivsten Moment hat das etwa eineinhalb Stunden lang dauernde Werk von Karola Obermüller in dem Augenblick, mit dem der Vorgang der Abschiebung handgreiflich wird: Eine Polizistin und ein Polizist, die dazu sichtlich wenig Lust haben, müssen MMM in früher Morgenstunde aus der Zelle holen (sie träumt vom Dauerurlaub an einem warmem Strand, er von einem ruhigen Leben als alternativer Bauer in den Bergen) - aber dann gehen sie doch ans Werk und fesseln MMM, zwingen ihr einen Motorradfahrerhelm auf.

Sie schreit ihr "Au secours! Au scours" nicht, sondern flüstert es auf die intensivste Weise: versagt die Stimme in diesem Moment ihren Dienst? Oder soll der Hörer, der der Handlung und dem akustischen Geschehen bei einer Kammeroper ja recht nahe ist, plötzlich auf die Distanz hingewiesen werden, die er zwangsläufig zu jeder realen MMM wie zu deren Brüdern und Schwestern in der Not hat?

Die Produktion "Dunkelrot" kam in der Säulenhalle des ehemaligen Reichparteitagsgeländes heraus - dort, wo Hitler nach seinem Endsieg am Rande der triumphalsten Parteitage aller Zeiten zu repräsentieren gedachte. Der kahle hohe Raum ist jetzt Bestandteil der Gedenkstätte. Unter der Decke wurde, um den Museumsrundgang zu kanalisieren, einer jener Laufgänge aus Leichtmetall und Panzerglas eingezogen, wie er auch auf den meisten Flughäfen zu finden ist, um die Passagierströme an vorgegebene Ziele zu dirigieren und am Abirren zu hindern.

In diesem diagonal durch die Säulenreihen schwebenden Schacht schlendern, marschieren, eilen immer wieder Reisende mit Koffern oder Trolleys. Unten ist aus dem kalten deutschen Steinboden eine Palme aufgeschossen. Vor den übergroßen Piktogrammen, die den Weg zum Abflug weisen, und ein paar grauen Plastikschalensitzen wartet ein weißer Haufen.

Sand könnte es sein oder Salz, was da den Mittelpunkt der Spielfläche markiert. Mehr hat Mascha Deneke als bespielbare Installation nicht angeboten. Und mehr ist für die angemessen sparsame Inszenierung von Ulrich Proschka auch nicht nötig.

Ursprünglich hatte Eszter Szabo als Regisseurin mit den Proben begonnen. Sie starb aber im August überraschend an einem Hirntumor. In ihrem Sinn wurde das Projekt weitergeführt. In einem Raum, in dem die Fragen unerreichbarer Nähe und unüberbrückbarer Ferne sich wie selbstverständlich stellen und in dem doch eigentlich nichts selbstverständlich sein kann. "Dunkelrot" wurde diesem Ort zugedacht. Und es ist dort zum rechten Zeitpunkt auf überzeugende Weise erschienen.