Die Lange Nacht über Herman Melville

"Oh Bartleby! Oh Menschheit!"

Der amerikanische Schriftsteller Herman Melville, circa 1944. Fotografie eine Radierungnach einem Porträt von Joseph O. Eaton. WHA UnitedArchives
Der Schriftsteller Herman Melville auf einer Aufnahme ca. um 1944 © WHA UnitedArchives / imago
Von Manfred Bauschulte |
Herman Melvilles Figuren wie etwa Kapitän Ahab aus "Moby Dick" oder Bartleby, Benito Cereno und Billy Budd haben heute ihren festen Platz in der Weltliteratur. Ihr Autor allerdings war, als er 1891 starb, nahezu vergessen – zeitgenössische Kritiker verrissen seine Werke.
(Wdh. v. 3./4.6.2017)
Zeitgenossen hielten Melvilles` bekanntestes Werk "Moby Dick oder Der Wal" (1851) für schlicht unlesbar. Die Laufbahn Melvilles, der als junger Matrose auf Kriegs- und Walfangschiffen diente und Abenteuerromane über das Leben auf See schrieb, war nach dem Misserfolg von "Moby Dick" beendet, bevor sie richtig beginnen konnte. Für den Rest seines Lebens arbeitete er als Zollinspektor im Hafen von New York.
Manfred Bauschulte über seine Lange Nacht über Herman Melville:
Seit Jahren geistert aber auch seine literarische Figur des Bartleby durch die öffentlichen Debatten und sorgt für erhebliche Irritationen. Ein einziger Satz von ihm ist in Umlauf:
"I would prefer not to." - "Ich möchte lieber nicht." – "Ich würde vorziehen, es nicht zu tun."
Die Erzählung des Wallstreet-Angestellten Bartleby ist zu einer Parabel für Rebellion und Resignation im 21. Jahrhundert geworden. Was verbindet der Autor mit dem Schicksal des Schreibers? Was motiviert den bedeutendsten amerikanischen Schriftsteller, der eine Reihe weiterer legendärer Werke wie "Moby Dick", "Benito Cereno" und "Billy Budd" schuf, beim Schreiben?
Aus leidgeprüften Erfahrungen schöpfte er die Motive und Stoffe für seine vieldeutigen Romane und rätselhaften Erzählungen.

Biografie von Herman Melville
Die jungen, erfolgreichen Jahre Melvilles
Herman Melville verfügt über eine unstillbare Neugier und einen hellwachen Verstand. Kennzeichnend für seine jungen Jahre sind dabei seine Seereisen, die er in seinen Büchern schildert:
(Taipi) "Sechs Monate auf See! Ja, Leser, so wahr ich lebe, sechs Monate kein Land gesichtet; auf der Jagd nach dem Pottwal unter der sengenden Sonne des Äquators, auf den Wogen des weithin rollenden Stillen Ozeans umhergeworfen – den Himmel über uns, die See um uns, und weiter nichts! Schon vor vielen Wochen war unser frischer Proviant aufgezehrt. Nicht eine Süßkartoffel ist übriggeblieben, nicht eine einzige Yamswurzel."
Auf Nukuhiwa, einer der Marquesas-Insel, desertiert Melville von der "Acushnet", die unter der Tyrannei ihres Kapitäns leidet. Der Roman "Taipi" erzählt von dem exotischen Leben auf der polynesischen Insel, wo er für einige Wochen Zuflucht findet, weil er sich verletzt hat. Er berichtet von den Wilden in einem verwunschenen Tal, von verführerischen jungen Männern und von schönen Frauen, die ihn in ihre Obhut nehmen. In "Taipi" findet sich die folgende Passage. Tommo, der Erzähler, beobachtet seinen eingeborenen Freund Kory-Kory bei der Erzeugung von Feuer:
"Ein gerader, trockener, halbverfaulter Eibischstock von ungefähr sechs Fuß Länge und drei Zoll Durchmesser findet sich zusammen mit einem kleineren Stück Holz. Der Eingeborene stellt den großen Stock schräg in einem Winkel von 45 Grad gegen einen Gegenstand, besteigt ihn rittlings, wie ein Knirps sein Steckenpferd, auf dem er davon galoppiert, nimmt dann das kleinere Stück Holz in beide Hände und reibt das spitze Ende auf dem Hauptstock langsam auf und ab, bis er eine schmale Furche in das Holz gräbt. Am weitesten entfernten Punkt der Furche sammeln sich so die Staubkörnchen zu einem Häufchen. – Zuerst macht sich Kory-Kory ganz gemütlich an die Arbeit, allmählich beschleunigt er das Tempo, seine Hände bewegen sich erstaunlich flink auf und ab. Wenn er die Höchstgeschwindigkeit erreicht hat, keucht er und schnappt er nach Luft, die Augen springen ihm fast aus den Höhlen, so strengt er sich an. Das ist der kritische Punkt des Verfahrens, alle Mühen sind umsonst, wenn er jetzt nicht sein Tempo durchhalten kann, bis der widerstrebende Funke erzeugt ist."

Buchtipp:
Herman Melville: "Mardi und eine Reise dorthin", aus dem Englischen von Rainer G. Schmidt, ISBN: 978-3-7175-2404-5

Die Darstellung der Erzeugung von Feuer weist bis in sprachliche Feinheiten Anleihen an den Akt der Masturbation auf. Bereits in seinem ersten Roman lernen wir ein Talent Melvilles kennen. Er liebt es, auf der Klaviatur von Zweideutigkeit zu spielen. Seine Erzählung ist nicht an der Symbolik der Feuererzeugung interessiert, sie will vielmehr demonstrieren, wie vitale Energien des Akteurs frei zur Entfaltung kommen.
Um die Heimreise antreten zu können, mustert Melville auf der "United States" an, sein zweiter Roman "Weißjacke" erzählt davon. Der Erzähler trägt den Namen Weißjacke, weil er sich zu Beginn eine Jacke aus weißem Segeltuch näht, die ihn gegen Wind und Wetter schützen soll. Als Symbol der Reinheit und Unschuld dient die Jacke dem Helden, während er Tag für Tag seinen Dienst schiebt und den gnadenlosen Drill an Bord erlebt. Im Zentrum des Romans steht die Auspeitschung einiger Matrosen vor versammelter Mannschaft.
"'Alle Mann antreten zum Strafvollzug, ahoi!' Bei dem Befehl drängte sich die Mannschaft um den Großmast, die Mehrzahl gierig einen guten Platz auf den Spieren zu erlangen, wo man alles überschaute; viele lachend und schwatzend, andere das Vergehen der Angeklagten erörternd; einige mit betrübter und besorgter Miene oder mit unterdrückter Entrüstung im Blick; ein paar absichtlich im Hintergrund sich haltend, um nicht zusehen zu müssen; kurz unter 500 Mann war jede mögliche Schattierung der Seelenart vertreten."
Mit quälenden Einzelheiten beschreibt Melville die Bestrafung der Delinquenten. Sein Roman "Weißjacke", der 1849 erscheint, spielt eine maßgebliche Rolle bei der Abschaffung der Prügelstrafe. Als es am 28. September 1850 zur Abstimmung in Washington kommt, haben die Gegner des willkürlichen Strafvollzugs in der amerikanischen Marine allen Abgeordneten des Kongresses ein Exemplar des Romans vorgelegt. So dürfte "Weißjacke" das einflussreichste Werk zu Lebzeiten Melville gewesen sein.
Gleich nach der Rückkehr von seinen abenteuerlichen Reisen ist Melville Elizabeth, "Lizzie", begegnet, die Tochter eines Obersten Richters von Massachusetts. In einem New Yorker Literaturblatt findet sich anlässlich der Hochzeit von Herman Melville mit Lizzie Shaw diese feinsinnige Notiz:
"Anzeige wegen Heiratsschwindelei erwartet. Mr. Herman Taipi Omo Melville hat kürzlich den Ehebund mit einer jungen Dame in Boston geschlossen. Die schöne verlassene Fayaway wird sich zweifellos mit einer Anzeige wegen Heiratsschwindelei trösten."
Fayaway ist der Name der jungen Frau in "Taipi", vor der Tommo alias Melville aus dem polynesischen Paradies geflohen ist, weil sie ihn so sehr betörte. Die Verführerin holt ihn ein und rächt sich an ihm, als er sich in Lizzie Shaw verliebt und sie zu seiner Frau nimmt. Die reizende Legende zielt auf einen Sachverhalt. Leser fragen sich nämlich: Was ist für Melville Dichtung? Was ist für ihn Wahrheit?
Es ist die Mischung aus Dichtung und Wahrheit, die am Anfang den Reiz seiner Bücher ausmacht. Um die Provokation zu verschärfen, schreibt er nach den Erlebnisromanen "Taipi" und "Omo" den Fantasieroman "Mardi", die Suche nach einem verlorenen Mädchen.
Melville will sich nicht bloß bei Tatsachen aufhalten. Er will seine Gefühle und Sehnsüchte artikulieren. Gleichzeitig zapft er philosophische Quellen an. Der Erzähler stellt wilde Spekulationen an, so wie es ihm beliebt. In dem Augenblick, als er sein enormes Potenzial erkennt, kann er in einem Handstreich die Romane "Redburn" und "Weißjacke" vollenden, die sich noch einmal akribisch an Erlebnissen und Tatsachen orientieren.
So setzt sich Melville in Opposition zum Zeitgeist, der von den Schriftstellern Ralph Waldo Emerson (1803-1882) und Henry David Thoreau (1817-1862) repräsentiert wird. Anders als diese transzendentalistischen Philosophen glaubt er nicht, dass sich höhere Einsichten erwerben oder für immer gültige Wahrheiten vertreten lassen. Für ihn ist die Welt kein bequemer Ort. Es gilt die menschlichen Schwäche und die existenzielle Ungewissheit zu begreifen, die manchmal nah am Wahnsinn liegen.
Im Herbst 1849 - nach fünf Jahren an Land und fünf Romanen in Folge - geht Melville erneut an Bord eines Schiffes, der "Southhampton". Er schreibt dort Tagebuch:
"Ich war an Deck und sah einen der Zwischendeck-Passagiere über die Reling spähen; ich spähte in dieselbe Richtung und erblickte einen Mann im Wasser, seinen Kopf vollständig über die Wellen gereckt – etwa zwölf Fuß von der Schiffswand entfernt, gleich neben dem Fallreep. Einen Augenblick glaubte ich zu träumen; denn niemand sonst schien zu sehen, was ich da sah. Im nächsten Moment schrie ich: 'Mann über Bord!' und wandte mich nach achtern. Nachdem der Mann sich etwa eine Viertelminute an dem Seil festgehalten hatte, ließ er los und trieb nach achtern unter die Besanrüsten. Vier oder fünf Seeleute sprangen in die Rüsten und warfen ihm weitere Seile zu. Aber sein Verhalten war unerklärlich; er hätte sich retten können, wäre er dazu willens gewesen. Ich war erschüttert vom Ausdruck seines Gesichts im Wasser. Es wirkte heiter. Schließlich trieb er ab und alle Seeleute riefen: 'Er ist weg!' Kein Boot wurde weggefiert, kein Segel gekürzt, kaum Aufhebens gemacht. Der Mann versank wie ein Ochse."
Szenen und Stoffe, die Melville später in seine Werke einbaut, entspringen der Realität. Er schreibt, was er mit seinen eigenen Augen sieht, was er fühlt und erlebt.
Das Buch "Moby Dick"
Filmtrailer zu "Im Herzen der See" auf Youtube:
Moby Dick gehört heute zu den Klassikern der Weltliteratur. Die 1000 Seiten erscheinen im Herbst 1851 in zwei Ausgaben: In New York unter dem Titel "Moby Dick", in London als dreibändiges Werk "The Whale". Beide Titel werden in modernen Ausgaben zu "Moby Dick; or The whale" zusammengeführt.
Auch dieses Buch greift wahre Ereignisse auf. Zum ersten Mal berichtete das New Yorker Knickerbocker-Magazine 1839 von dem weißen Walbullen, der vor der chilenischen Insel Mocha aufgekreuzt war und von den Seeleuten gefürchtet wurde, weil er ihre Schiffe angriff. Mit "Mocha Dicka" oder "Moby Dick", wie er seither genannt wurde, bringt die Geschichte der Seefahrt in der Mitte des 19. Jahrhundert mehr als 20 Schiffsuntergänge in Verbindung.
Melville gewährt den meereskundlichen Nachrichten über das älteste und größte Säugetier des Planeten einen gebührenden Raum. Schritt für Schritt sollen Leser die Symbolik des "Leviathan" mit der Realität des industriellen Walfangs verknüpfen können. 60 Kapitel - von 135 Kapiteln - sind ihm gewidmet. Aus reinen Erzählsträngen wird später ein Jugend- und Abenteuerroman mit dem gleichen populären Titel gestrickt, mit der epischen Dichte des Ursprungswerks hat das aber nichts mehr zu tun.
"Nennt mich Ismael. Ein paar Jahre ist's her - unwichtig, wie lang genau -, da hatte ich wenig bis gar kein Geld im Beutel, und an Land reizte mich nichts Besonderes, und so dachte ich mir, ich wollt ein wenig herumsegeln und mir den wässerigen Teil der Welt besehen. Das ist so meine Art, mir die Milzsucht zu vertreiben und den Kreislauf in Schwung zu bringen. Immer wenn ich merke, dass ich um den Mund herum grimmig werde, immer wenn in meiner Seele nasser, nieseliger November herrscht; immer wenn ich merke, dass ich vor Sarglagern stehenbleibe und jedem Leichenzug hinterher trotte, der mir begegnet; und besonders immer dann, wenn meine schwarze Galle so sehr überhand nimmt, dass nur starke moralische Grundsätze mich davon abhalten können, mit Vorsatz auf die Straße zu treten und den Leuten mit Bedacht die Hüte vom Kopf zu hauen – dann ist es höchste Zeit für mich, so bald ich kann auf See zu kommen."

Buchinfos:
Herman Melville: "Moby Dick oder Der Wal", übersetzt aus dem Englischen von Matthias Jendis, herausgegeben von Daniel Göske, Hanser Verlag, München 2001, 1048 Seiten, ISBN 978-3-446-20079-1

Der Melancholiker Ismael und der Kannibale Queequegg werden innige Freunde. Gemeinsam heuern sie in Nantucket auf dem Walfänger "Pequod" an. Außer ihnen gehören der Indianer Tashtego, der Schwarze Dagoo, der Afrikanerjunge Pip, der Parse Feddallah sowie eine wilde Horde malaiischer Matrosen zur Besatzung. Ferner sind die Schiffseigner Bildag und Peleg sowie die Steuerleute Stubb und Flask an Bord. Die Neuengländer sind Puritaner bis auf den ersten Steuermann: Starbuck ist Quäker. Die "Pequod" ist nach einem Indianerstamm benannt, der den Siedlern Neuenglands lange erbitterten Widerstand leistete und von ihnen 1632 vernichtend geschlagen wurde. Das Schiff und seine Mannschaft gewähren also in jeder Hinsicht ein Abbild der Gesellschaft.
Wenn die "Pequod" die amerikanische Zivilisation und den Geist der Demokratie verkörpert, so weist ihr Fahrtziel, der Pazifik, auf den ökonomischen Komplex, dem sie dienen. Um 1850 bildet der Walfang eine der größten Exportindustrien der Vereinigten Staaten, aber es zeichnet sich bereits ab, dass das Walöl als Energieträger bald durch das Petroleum abgelöst wird. Der Dichter Charles Olson erklärt die Hintergründe in seinem Essay "Call me Ismael":
"Wir vergessen, welche Rolle die Jagd auf den Wal in der amerikanischen Wirtschaft gespielt hat. Es begann mit einem Mangel an Fetten und Ölen. Die Indianer hatten keine Rinder, die Kolonisten nicht genug. Genauso war es mit Schweinen und Ziegen. Rothäute wie Weiße mussten sich mit Ersatz behelfen. Daher das massenhafte Hinschlachten der Wandertaube und des Brachvogels und das Blutbad unter den Büffeln. Der Walfang breitete sich zu einer Zeit aus, als Ackerbau und nicht Industrie die Grundlage der Arbeit war, und als Außen- und nicht Binnenhandel, die Grundlage der Wirtschaft war. Um 1833 steckten 70.000 Menschen und 70 Millionen Dollar in der Walfangindustrie und angegliederten Gewerben wie Schiffsbau etc. Um 1844 ist die Zahl auf 120 Millionen Dollar gestiegen."
In Moby Dick widmet der Schriftsteller Herman Melville der Farbe Weiß ein ganzes Kapitel. Für ihn war der Weiße Wal das Symbol des Schreckens
In Moby Dick widmet der Schriftsteller Herman Melville der Farbe Weiß ein ganzes Kapitel. Für ihn war der Weiße Wal das Symbol des Schreckens© Maxppp
Erst im 29. Kapitel taucht dann Kapitän Ahab auf. Melville schwebte eine solche Gestalt vor, wie sie Shakespeare mit "King Lear" und "Macbeth" und Goethe mit "Faust" schufen. Der Name geht auf die Hebräische Bibel zurück, auf das "Buch der Könige". Mit Ahab ist eine historische Figur aus dem 8. Jahrhundert vor Christus assoziiert: der König des Nordreichs, der die Phönizierin Isabel heiratete und als gottlos galt, weil er es seiner über alles geliebten Frau gestattete, den Opferkult des Baal in Samaria einzuführen.
"Er wirkte wie ein Mann, den man vom Scheiterhaufen zerrt, nachdem das Feuer blitzschnell all seine Glieder versengt hat, ohne sie zu verzehren oder ihnen ein Jota ihrer über Jahre gewachsenen Kraft zu rauben. Seine hohe, breite Gestalt war wie aus harter Bronze gegossen; in eine unveränderliche Form, gerade wie Cellinis Perseus aus Erz. Ein gertenschlankes Mal, weißlich und leichenfahl, stach aus seinem grauen Haar hervor und lief seitlich über sein lohbraun verbranntes Gesicht und seinen Hals hinab, bis es in seiner Kleidung verschwand. Ob er dieses Mal seit seiner Geburt besaß oder ob es die Narbe einer grässlichen Wunde war, das konnte niemand mit Gewissheit sagen. Die ganze grimmige Erscheinung Ahabs setzte mir so stark zu, dass ich im ersten Augenblick kaum bemerkte, wie viel sich von diesem alles beherrschenden Ingrimm sich dem barbarischen weißen Bein verdankte, auf dem er zur Hälfte stand. Mir war schon zu Ohren gekommen, dass dieses walbeinerne Bein auf See aus dem Kieferknochen des Pottwalls geschnitzt worden war. Beiderseits des Achterdecks war ein Loch einen halben Zoll in die Planken gebohrt. Kapitän Ahab stand aufrecht da, sein Knochenbein in das Loch gestützt, einen Arm erhoben und blickte voraus. Unendliche, unerschütterliche Kraft und ein entschlossener, unbeugsamer Wille lagen in der starren und furchtlosen, vorwärtszielenden Unbedingtheit dieses Blicks."
Ahab ist ein Willensmensch. Die Geschichte der grauenhaften Verwundung, die sich über seinen Körper zieht, lässt tief in sein Wesen und ins Zentrum des Buchs blicken. Er ist ein Monomane. Gottlos hält er sich für gottgleich. Er kennt nur ein Ziel: Er will Rache üben, deshalb setzt er die Gesetze des Walfangs außer Kraft. Er schwört die Mannschaft der "Pequod" auf einen Rachefeldzug ein. Bald nach seinem Erscheinen auf Deck versammelt er alle Matrosen achtern und verspricht dem unter ihnen eine Dublone aus Gold, der als Erster den weißen Wal zu Gesicht bekommt.
"Ist es so, dass das Weiß durch seine Unbestimmtheit die herzlose Leere und unermessliche Weite des Weltalls andeutet und uns so den Gedanken an Vernichtung wie einen Dolch in den Rücken stößt, wenn wir in die weißen Tiefen der Milchstraße blicken? Oder ist es so, dass das Weiß seinem Wesen nach nicht so sehr eine Farbe als vielmehr die sichtbare Abwesenheit von Farbe und zugleich die Summe aller Farben ist, dass deshalb eine weite Schneelandschaft dem Auge eine so öde Leere bietet, die doch voller Bedeutung ist – eine farblose Allfarbe der Gottlosigkeit, vor der wir zurückschrecken? So starrt sich der elendige Ungläubige blind, da er den Blick nicht vom endlosen weißen Leichentuch wenden kann, das alles, was er ringsum sieht, verhüllt. Und für dies war der Albinowal das Symbol."
Für Isaac Newton ist das weiße Licht "die Summe aller Farben". Für Goethe ist es "die sichtbare Abwesenheit von Farbe". Einerseits geht Melville über diese Vorbilder hinaus, wenn er "die farblose Allfarbe der Gottlosigkeit" ins Spiel bringt. Andererseits weiß der Seemann, der sich als "Weißjacke" im gleichnamigen Roman beschrieb, nur all zu gut, dass Weiß eine Farbe ist. Melville, der früh geübt hat, mit Zweideutigkeiten zu jonglieren, treibt das Balancespiel zur Perfektion. Weiß - das Farbe und Nichtfarbe oder Farblosigkeit ist - bringt schillernde Formen hervor, deshalb erklärt er es zum Symbol, ebenso den weißen Wal, den Ahab jagt. Ihn erklärt er zum Symbol der Tiefe. Das Epos kreist um einen weißen Wal, den keiner je zu Gesicht bekommen wird. Es erzählt von der Suche nach einem Wesen, das sich für immer entzieht. So lange die Jagd durch den Pazifik dauert, bleiben Leser die Zeugen der Suche: "Moby Dick" ist ein Sinnbild des Unfassbaren und Unheimlichen.
"'Ich will, dass die Harpune die wahre Todeshärte hat! Tashtego, Queequegg, Dagoo! Was meint ihr Heiden: Gebt ihr mir soviel eures Blutes, dass es die Spitze hier bedeckt?' Er hielt sie hoch. Die drei nickten finster: Ja. Drei Schnitte in heidnisches Fleisch und die Spitze für den Weißen Wal war abgelöscht. 'Ego non baptizo te in nomine patris, sed in nomine diaboli!' heulte Ahab wie im Delirium, als das bösartige Eisen das Taufblut verzehrte. Soll ich Ihnen eine Flosse des Wals schicken, einen Happen zum Vorkosten? Der Schwanz ist noch nicht gar - obwohl das Höllenfeuer, über dem das ganze Buch gegrillt wird, es eigentlich schon längst durchgegart haben müsste. Dies ist das Motto (das geheime) des Buchs: 'Ego non baptizo te in nomine' - aber finden Sie den Rest selbst heraus."
Die Tragödie Ahabs, die in der diabolischen Taufzeremonie zum Ausdruck kommt, kann nicht anders als in einer Katastrophe enden.
In den Jahren des Faschismus in Italien unter Benito Mussolini fand der Turiner Schriftsteller Cesare Pavese eine Zeit lang Zuflucht bei der italienischen Übersetzung des Romans. Er schrieb im Vorwort:
"Der Zusammenhang des Buchs äußert sich in der Spannung, mit der der flüchtige Schatten des mystischen "Moby Dick" seine Verfolger erfüllt. "Moby Dick" stellt den Antagonisten in seiner reinsten Form dar, deswegen bilden er und Ahab ein paradoxes Paar. Nach soviel Leidenschaft bleibt das Ausgelöschtwerden die einzig mögliche Form einer Gemeinschaft zwischen den beiden."
Mit Absicht lässt Melville die Bedeutung seiner Schöpfung im Ungewissen. So wird es möglich, immer wieder aktuelle Bezüge herzustellen. Das Buch wird in Bausch und Bogen abgelehnt, als "Schund aus der schlimmsten Schule der Irrenhausliteratur" und "übel zusammengeschusterte Mischung aus Abenteuerroman und Tatsachenbericht" abgetan. Die Zeitgenossen sind nicht in der Lage, den Kompositionsreichtum und Tiefsinn zu erkennen.
Bartleby in den Piazza-Erzählungen
Trailer zu "Bartleby" auf Vimeo:
Nach "Moby Dick" wird der Roman "Pierre" von der literarischen Welt als Kitsch und als Schund verurteilt. Trotzdem arbeitet Melville unbeirrt weiter, um seine Familie ernähren zu können, aber auch, weil er es der Welt und den Menschen beweisen will, dass er schreiben kann. Erneut wechselt er den Schreibstil. Jetzt greift er auf Formen der Erzählung zurück, wie sie in Monatsschriften des New Yorker Verlegers Putnam gerade stark nachgefragt sind. In rascher Folge entstehen Erzählstücke, die er Jahre später als "Piazza-Erzählungen" (1856) zu einem Buch vereint. Das Titelmotiv der "Piazza" wirft Licht auf seine eigenwillige Sicht der Welt. Er berichtet, wie er an das Haus in den Berkshire Hills eine Veranda anbaut. Wider alle Ratschläge plant er sie an der Nordseite.
"Unvergessen sind die blauen Nasen der Zimmerleute und wie sie spotteten über die Einfalt des Städters, der seine einzige Piazza nach Norden bauen wollte. Selbst im Dezember ist diese nördliche Piazza nicht abstoßend, so schneidend kalt und stürmisch sie ist. Wenn der Nordwind wie ein Müller den Schnee zu feinstem Mehl durchsiebt, dann beschreite ich mit gefrorenem Bart das schneebestreute Deck im Sturm vor Kap Horn. Auch im Sommer wird man hier an die See erinnert. Nicht nur rollt das Getreide schräg liegend in langer Dünung heran und es schlagen die niedrigen Graswellen auf die Veranda wie auf den Strand. Ein stiller Augusttag brütet über den Wiesen in der Tiefe wie eine Flaute über dem Äquator; Weite und Einsamkeit sind so ozeanisch wie die Stille und Eintönigkeit."
Die "Piazza-Erzählungen" sind Lehrstücke der Desillusionierung und Rebellion. Als Parabel der Passivität und Verweigerung ragt die Erzählung "Bartleby" heraus. Für moderne Interpreten ist er der Repräsentant einer extremen Negativität geworden, die sich absolut jeder Vernunft und Logik entzieht. Melvilles illustriert hingegen eine passive Haltung, wie sie der Titelfigur zum Verhängnis wird. Es sind Züge des Vaters und des Bruders, die aus Erschöpfung und an Geldsorgen starben, sowie Motive des eigenen Scheiterns in sie eingeflossen. Der Ich-Erzähler, ein Anwalt, stellt Bartleby in seiner Kanzlei als Schreiber ein. Schon am dritten Tag weigert er sich, seine Arbeiten auszuführen und Akten zu kopieren. Trotz mehrfacher Aufforderungen will er auf keinen Fall die Kanzlei verlassen. Die stehende Redewendung, zu der er greift, lautet:
"I would prefer not to." – "Ich möchte lieber nicht."
Um den Verweigerer endgültig loszuwerden, kündigt der Anwalt das Büro an der Wallstreet. Als auch das nicht hilft, entfernt die Polizei ihn aus dem Gebäude. Am Ende landet Bartleby im berüchtigten Stadtgefängnis von New York. Dort wird der Erzähler, der ihn besucht, zum Zeugen seines Endes. Der Kopist weigert sich, zu essen und zu sprechen. Er lehnt es sogar ab, sich zu bewegen. Der Anwalt und sein Schreiber verhalten sich wie unheimliche Doppelgänger. Der Erste verkörpert die aktiv-rationale und der andere die apathisch-melancholische Seite des Doubles.
Nach dem Tod von Bartleby betreibt der Erzähler Spurensuche. Er will wissen, wie es zur radikalen Haltung seiner Verweigerung gekommen ist.
Der amerikanische Schriftsteller Herman Melville
Der amerikanische Schriftsteller Herman Melville© Library of Congress
"Die Nachricht besagte, Bartleby sei ein untergeordneter Angestellter im 'Amt für tote Briefe', das heißt, für unzustellbare Postsendungen in Washington gewesen und sei dort plötzlich infolge eines Wechsels in der Verwaltung entlassen worden. Wenn ich über dies Gerücht nachdenke, vermag ich kaum die Bewegung zu schildern, die mich ergriff. Tote Briefe! Klingt das nicht wie tote Menschen? Man stelle sich einen Mann vor, den schon Natur und Missgeschick zu schierer Hoffnungslosigkeit bestimmt haben. Kann irgendein Beruf ihn in seiner Anlage mehr bestärken als der dauernde Umgang mit unzustellbaren Briefen, die er zum Verbrennen aussortiert?"
Dürfen nicht seit "Moby Dick" auch die Werke von Melville als "unzustellbar" gelten? Auch seine Romane werden "aussortiert". Sie werden komplett verrissen, als Schund deklariert. Einkünfte kann er schon länger nicht mehr mit ihnen erzielen. Das Schreiben ruiniert ihn körperlich und seelisch. Die Parabel von den Nachrichten in den unzustellbaren Briefen trifft auf ihn selbst zu.
Wie jeder Bankrotteur und Deserteur kann er nur an die Anteilnahme der Menschen und ihr Mitgefühl appellieren. So hält der Ich-Erzähler am Ende ein Plädoyer für Bartleby. Es ist ein leidenschaftliches Plädoyer für das Recht, zu scheitern, jenen Menschen die Würde nicht zu verweigern, denen sich aus leidvoller Erfahrung alles Streben als vergeblich erweist. Melville erinnert daran, dass die Würde jedes Einzelnen ein unersetzliches und ein unteilbares Gut ist.
Die Zuhörer im Gerichtsaal - das ist die Menschheit.
Das Scheitern als Schriftsteller
Melville ist nicht nur körperlich und seelisch erschöpft, er hat sich auch finanziell ruiniert. Beinahe scheint es, als sollte auch er das Schicksal des Vaters und Bruders wiederholen, die überarbeitet und krank starben. In dieser Situation übernimmt Richter Shaw, sein Schwiegervater, sowohl einen Teil seiner Schulden als auch die Kosten für eine Reise in den Orient. Der Schriftsteller soll auf andere Gedanken kommen. Von der Reise ins Heilige Land hat er seit den Tagen der Kindheit geträumt.
Im Oktober 1856 geht Melville an Bord eines Schraubendampfers, wie sie seit ein paar Jahren auf der Atlantikroute verkehren. Er findet als Reisender im Orient angesichts der ägyptischen Pyramiden einen neuen Gegenstand: die Furcht einflößende Wüste mit ihren Steinen. Desillusionierung verfolgt Melville auf Schritt und Tritt wie ein Schatten. Nur die Neugier kann sie vertreiben. Die Lust auf Entdeckungen spornt ihn an wie eh und je: Wie verleihen die Werke der Vergangenheit der menschlichen Sehnsucht Ausdruck?
Im Oktober 1860 ist Abraham Lincoln zum Präsidenten gewählt worden. Mit seiner Wahl stehen die Vereinigten Staaten vor der Spaltung. Binnen Wochen treten die Südstaaten aus der Union aus. Die Konföderierten wählen im Februar 1861 Jefferson Davis zum Präsidenten. Richter Shaw an der Spitze von Melvilles Familie verbindet mit der Wahl Lincolns die Option, der erfolglose Schriftsteller könne von der Neuverteilung der Ämter unter dessen Präsidentschaft profitieren und einen Posten als Konsul in Florenz erhalten. Die Bewerbung verläuft aber im Sand. Kurz nacheinander sterben dann 1861 die Männer, die Melville in Notlagen unterstützt haben: sein Schwiegervater Richter Shaw und der Patenonkel Gansevoort Melville.

Buchtipp:
Jay Leyda: "The Melville-Log. A Documentary Life of Herman Melville 1819-1891”, 2 Bände, New York 1951

Im folgenden Jahr verletzt Melville sich so schwer bei einem Unfall mit einem Pferdegespann, dass man um sein Leben fürchten muss. Nach der langsam verlaufenden Genesung sehen sich seine Frau und er gezwungen, eine Entscheidung zu treffen. Schweren Herzens verkaufen sie nach 13 Jahren die ihnen liebgewordene Farm "Arrowhead" und ziehen nach New York. Gerade in den Tagen des Umzugs richten sich rassistische Übergriffe irischer Einwanderer gegen Schwarze, die dort in Freiheit zu leben hoffen. Der Schrecken des Kriegs lässt die Schatten der Desillusionierung Realität werden.
Melville versinkt in Resignation. Am 26. April 1865 endet der blutige amerikanische Sezessionskrieg mit der Kapitulation der Südstaaten. Nach der Ermordung Abraham Lincolns durch einen Fanatiker zwei Wochen zuvor gehört Melville einer Minderheit an, die für die Aussöhnung der Parteien eintritt.
Wider alle einmal gefassten Vorsätze publiziert er seinen Lyrikband "Battle-Pieces and The Aspects of War". In seinen Gedichten gewinnt er dem Grauen des Kriegs Vorstellungen von Tragik und Toleranz ab. Im Nachwort plädiert er für Güte und Gerechtigkeit. Erneut erntet er bloß Kopfschütteln. Auch als Dichter ist Melville durchgefallen.
Anfang Dezember 1866 tritt Melville dann eine Stelle als Zollinspektor im Hafen von New York an, um sein Auskommen zu haben. Am 10. September 1867 erschießt sich dann sein Sohn in seiner Wohnung. Elizabeth Shaw und Herman Melville begraben ihren Erstgeborenen auf dem Woodlawn Cemetery in der Bronx. Die Grabinschrift bilden vier Zeilen aus einem Gesangbuch:
"So gut, so jung,
so zart, so rein,
geliebt und früh verloren,
nuss man Dich beweinen."
Der Tod seines ältesten Sohns lähmt Melville über alle Maßen. Doch auch jetzt ergibt sich nicht restlos ins Schweigen. An den Abenden nach der Arbeit im Hafen beginnt er ein gewaltiges Gedicht zu schreiben. Er geht in seinem Zimmer auf und ab und skandiert die monotonen Rhythmen eines Gesangs, der langsam Gestalt annimmt.
Seine literarische Laufbahn ist beendet, aber im Geheimen feilt er wie ein Besessener an "Clarel", an einem monumentalen Versepos über seine Reise in den Orient. Am Ende umfasst das Manuskript rund 18.000 Verse.
Melville will seinem Romanepos "Moby Dick", das in den endlosen Weiten des pazifischen Ozeans spielt, ein vergleichbares Versepos an die Seite stellen, das von der Reise durch die Wüste ans Tote Meer handelt. 1.300 Dollar, ein Geschenk seines Onkels Peter Gansevoort, steckt er in den aufwendigen Privatdruck, der eine Auflage von 350 Exemplaren hat.
In verwickelten Dialogen diskutiert Melville das Pro und Contra von religiösen und rationalen Doktrinen. Jede einzelne Doktrin führt er ad absurdum, weil er meint, dass Religion und Wissenschaft die Ängste der Menschen nicht mehr wirklich ernst nehmen. Wie die Politik manipulieren sie menschliche Schwächen für ihre Zwecke. Dagegen richtet er den Stachel des "Stirb und Werde" in "Clarel". Gewissheiten gibt es für ihn keine. Der Wahrheitssucher ist ein leidgeprüfter Realist, der den Dingen auf den Grund geht und auf temporäre Belehrung pocht.
Hin- und hergerissen zwischen Rebellion und Resignation fühlt Herman Melville sich einer Einstellung von früh an verpflichtet: Es gilt den Menschen, jeden Einzelnen, unter allen erdenklichen Umständen ins Recht zu setzen und seine Würde zu wahren.
Nur eine bis zum äußersten getragene humane Haltung ist fähig, in Frieden zu träumen.

Produktion dieser Langen Nacht:
Autor: Manfred Bauschulte, Regie: Stefan Hilsbecher, Redaktion: Monika Künzel, Webvideo- und Webproduktion: Jörg Stroisch

Über den Autor:
Manfred Bauschulte wurde 1956 in Ibbenbüren (Westfalen) geboren und lebt und arbeitet in Köln und Bardüttingdorf. Nach dem Studium der Theologie, Soziologie, Philosophie, Literatur- und Religionswissenschaft in Bethel, Bielefeld und Berlin war er als Autor und Übersetzer tätig und lehrte später an der Ruhr-Universität Bochum. Als freier Autor veröffentlicht er literarische und literatur- und religionswissenschaftliche Essays. Unter anderem arbeitet er auch für den Deutschlandfunk.