"Die Lage ist schwierig"

Günter Verheugen im Gespräch mit Hanns Ostermann · 10.12.2010
Günter Verheugen hat der Europäischen Kommission Versäumnisse in der Wirtschaftspolitik vorgeworfen. Er sei entsetzt darüber, wie "unsere gemeinsame Währung im Augenblick entschlossen heruntergeredet wird", sagte der frühere EU-Kommissar.
Hanns Ostermann: Von guter Stimmung in der EU kann derzeit nun wirklich nicht die Rede sein: Die Krise des Euro und die Suche nach den richtigen Rezepten verschärfen den Ton. Die einen, wie der Chef der Euro-Gruppe Jean-Claude Juncker, halten gemeinsame Staatsanleihen für den richtigen Weg, andere wie Deutschland lehnen das ab.

Simples Denken wirft deshalb der luxemburgische Ministerpräsident seiner Kollegin in Berlin vor. Angela Merkel trifft sich heute mit dem französischen Präsidenten, in einer Woche dann der Gipfel der EU – an Gesprächsstoff besteht da wahrlich kein Mangel. Am Telefon ist jetzt der langjährige EU-Kommissar und stellvertretende Kommissionspräsident Günter Verheugen, er ist heute Honorarprofessor an der Viadrina in Frankfurt an der Oder. Guten Morgen, Herr Verheugen!

Günter Verheugen: Guten Morgen!

Ostermann: Sie haben im Verlaufe Ihrer Brüsseler Karriere verschiedene Krisen der EU erlebt und mit gelöst. Ist die Zukunft derzeit wirklich, wie viele sagen, unsicherer denn je, oder sehen Sie die Lage nicht ganz so dramatisch?

Verheugen: Die Lage ist schwierig, aber der Begriff dramatisch geht schon zu weit. Krise ist ja eigentlich der Normalzustand der Europäischen Union, ich kenne das kaum anders. Wenn wir keine Krise haben, dann redet man von Verkalkung und sagt, es geht nichts mehr voran. Das Problem fängt tatsächlich mit der Kommunikation an, und ich bin doch einigermaßen entsetzt darüber, wie auf den, in den Entscheidungsebenen in Brüssel und in den nationalen Regierungen und in den Hauptstädten unsere gemeinsame Währung im Augenblick entschlossen heruntergeredet wird.

Diese Märkte, über die da immer gesprochen wird, also die Anleger, die reagieren ja nicht rational. Es ist ja nicht so, als säßen die immer nur mit dem Rechenschieber da und rechnen ganz genau aus, sondern die hören auf Gerüchte, auf Stimmungen, sie vermuten Trends, und dieses Wissen beziehen sie aus dem, was Politiker sagen. Früher galt mal der Grundsatz: Über Fragen der Währung redet man nicht, man handelt. Und es wäre vielleicht Zeit, zu diesem Grundsatz zurückzukehren.

Ostermann: Altbundeskanzler Helmut Schmidt sieht einen entscheidenden Grund für die derzeitige Eurokrise darin, dass er in viel zu vielen Ländern eingeführt wurde. Hat er da Recht, oder würden Sie ihm widersprechen?

Verheugen: Ich bin nicht sicher, ob das richtig ist. Jetzt, im Nachhinein, wo wir zu kämpfen haben mit den Auswirkungen einer Krise, die ja bei der Einführung des Euro niemand ahnen konnte, kann man vielleicht eine solche Auffassung haben. Aber man muss schon darauf hinweisen, dass diese ganze Problematik, die wir jetzt haben, ausgelöst worden ist durch eine jedenfalls in Europa nicht verursachte und für die europäische Politik nicht vorhersehbare Finanzkrise unvorstellbaren Ausmaßes.

Das Ganze fing ja nicht an durch ein angebliches Über-die-Verhältnisse-Leben in einigen europäischen Ländern, sondern es fing dadurch an, dass Banken sich verzockt haben und durch unglaubliche unverantwortliche Transaktionen an den Rand des Ruins oder in den Ruin gebracht haben. Wir haben ja hier ein Problem zu lösen, dass die Politik gar nicht geschaffen hat.

Nehmen Sie zum Beispiel Irland: Irland ist überhaupt kein hochverschuldetes Land gewesen. Sie hatten auch eine ganz vernünftige und solide Haushaltspolitik und waren in der Verschuldung niedriger als alle anderen. Sie sind in eine furchtbare Lage geraten, weil die wichtigste Industrie in Irland, die Banken, bei diesem Spiel besonders stark mitgemischt haben.

Ostermann: Aber Griechenland, Herr Verheugen, ist doch ein Gegenbeispiel.

Verheugen: Ja, Griechenland ist sicherlich ein Sonderfall, und hier kann kein Zweifel daran bestehen, dass ganz offensichtlich die Voraussetzungen für den Beitritt zum Euro seinerzeit falsch eingeschätzt worden sind. Das muss man einräumen.

Aber insgesamt ist natürlich die griechische Volkswirtschaft, wenn man sie in Beziehung setzt zum gesamten Bruttosozialprodukt der Eurozone, nicht so bedeutend, dass sie das System insgesamt hätte zum Einsturz bringen können, oder überhaupt zum Einsturz bringen könnte. Das ... Die Schwierigkeit liegt hier darin, dass nicht von Anfang an ein ganz klares politisches Signal gesetzt wurde, dass wir nicht zulassen werden, dass ein Mitglied der gemeinsamen Währung von den Märkten in den Abgrund getrieben wird. Dieses Signal kam, aber viel zu spät, und dann hatten die Märkte schon angefangen, den nächsten zu testen.

Ostermann: Und jetzt geht es um weitere Signale: Ist es uneuropäisch, wie Jean-Claude Juncker sagt, wenn ein Land die Eurobonds ablehnt?

Verheugen: Nein, natürlich nicht. Das ist eine Position, die aus deutscher Sicht ja ganz verständlich ist, denn es ist ja genau das, was bei der Schaffung der Währungsunion genau vermieden werden sollte, dass es eine Transferunion wird, wir sind aber – das muss man nun auch ehrlich sagen, und hier ist die deutsche Politik in ihrer Kommunikation mit den Bürgerinnen und Bürgern leider nicht ganz ehrlich –, wir sind ja längst auf dem Marsch dahin.

Was ist denn dieser Rettungsschirm anderes, als eine Verteilung der Risiken auf alle, und was ist die europäische Finanzagentur, die jetzt gemeinschaftliche Anleihen (…) anderes, als eine Institution, die Eurobonds ausgibt? Wir haben sie doch bereits, nur in der Form, wie Jean-Claude Juncker es vorschlägt, da bedeuten diese Eurobonds nichts anderes, als dass Deutschland einen Teil der Zinslast der anderen übernehmen würde. Und dass ein deutscher Finanzminister und eine deutsche Kanzlerin an dieser Stelle Bedenken haben, das ist nicht simples Denken, sondern das ist also nun ganz eindeutig ein Gebot der Klugheit und der politischen Notwendigkeiten.

Ostermann: Brauchen wir eine gemeinsame Haushaltspolitik, wie es Wolfgang Schäuble fordert, vielleicht sogar eine gemeinsame Wirtschaftsregierung?

Verheugen: Gemeinsam – gemeinsam heißt aber nicht gemeinschaftlich, damit wir uns hier richtig verstehen, gemeinsam in dem Sinne, dass wir eine optimale Koordinierung dieser Politiken erreichen. Gemeinschaftlich würde heißen, dass die Mitglieder der Eurozone ihre wirtschaftliche Souveränität in Brüssel und in Washington abliefern.

Ich glaube nicht, dass die Deutschen das wirklich wollen, ich habe meine großen Zweifel. Ich bin aber davon überzeugt, auch aufgrund meiner Erfahrungen in den vielen Jahren in Brüssel, dass die Instrumente, die wir im Vertrag haben, vollständig ausreichen, um dieses notwendige Maß an Koordinierung zu erreichen. Das politische Problem, das wir haben, ist nicht ein Problem der Konstruktion in Europa, sondern ist ein Problem der Handhabung: Die Politik hat schlicht und einfach ihre Arbeit nicht getan viele Jahre lang, die haben nicht hingeguckt, was eigentlich in bestimmten Ländern los war. Es hat die Warnsignale, die längst hätten kommen müssen, überhaupt nicht gegeben, oder aber, sie sind nicht beachtet worden.

Man hat sich viel zu wenig darum gekümmert, wie es um die Wettbewerbsfähigkeit der schwächeren Länder in der Eurozone steht, obwohl man das hätte sehen können. Aber ich kann Ihnen sagen, die beiden Welten, die Finanzwelt und Realwirtschaft, die sind in Brüssel vollkommen getrennt, die berühren sich überhaupt nicht. Die Wirtschaftsminister befassen sich nicht mit den makroökonomischen Fragen, die Finanzminister interessieren sich für ihre Haushaltsdaten und nicht für die Realwirtschaft, und jetzt haben wir den Schlamassel.

Ostermann: Günter Verheugen war das, lange Jahre EU-Kommissar und stellvertretender Kommissionspräsident. Herr Verheugen, ich danke Ihnen für das Gespräch!

Verheugen: Ich danke Ihnen auch!