Die Kunst des Politischen

Von Annette Schavan |
Manchmal heißt es von einer politischen Rede: "Das war eine große Rede" - sie war eindringlich, hat die Dinge beim Namen genannt und die Sachverhalte auf den Punkt gebracht. Sie hat den flüchtigen Blick und die oberflächliche Rhetorik vermieden. Solche Reden sind schmerzhaft und schaffen zugleich Erleichterung. Es ist endlich gesagt!
"Pathos muss da sein" - schreibt Friedrich Schiller in seinem Text "Über das Pathetische". Er stellt darin die erste Forderung an den Künstler, die Natur in ihrer ganzen Macht sichtbar werden zu lassen, das tiefe und heftige Leiden spürbar zu machen, das damit verbunden ist. Erst dann könne der Mensch sich als Vernunftwesen über die Macht der Natur erheben und unabhängig handeln.

Die Kunst des Politischen beginnt danach im Mut zur Wirklichkeit und mit der Überzeugung ihrer Veränderbarkeit. Wort und Tat müssen übereinstimmen. Worte dürfen Taten nicht verschleiern. Sie geben den Taten die Richtung. Sie benennen die Ziele, klären die Sachverhalte, decken die Widersprüche auf. Sie flüchten nicht in vorschnelle Harmonie. Politische Überzeugungskraft erwächst nicht aus dem flüchtigen und verklärenden Blick. Im einen wie im anderen zeigt sich wenig. Erst der Blick, der durchdringt, entdeckt das Relevante, die Differenzen und die Vielfalt, lässt die Widersprüche sichtbar werden, die sich aus verschiedenen Interessen und Erwartungen ergeben.

Die Kunst des Politischen vermeidet die Flucht in die Sachzwänge der Technokraten ebenso wie in die Parolen der Ideologen, die keine Pluralität kennen. Sie vermeidet jene selbstverliebte Inszenierung, die außer sich nichts und niemanden wahrnimmt.

Die Kunst des Politischen stellt sich dem "Leiden", verdrängt nichts, verschweigt nichts. Darin ist sie leidenschaftlich. Sie setzt Sprache nicht ein für Ausflüchte und Ablenkung. Sie will Wirklichkeit erfassen, Wege zur Veränderung eröffnen und so neue Wirklichkeit schaffen.

Die Kunst des Politischen weckt Mut zum Abschied vom Bisherigen, das seine Tragfähigkeit verloren hat; vermeidet die Larmoyanz, die alles Brüchige nur beschreibt, ohne das Vertrauen zu wecken, zu neuer Stabilität kommen zu können.

Politik in Deutschland muss eingreifen in die Abwärtsspirale, die die Mentalität vieler bestimmt. Klagen über das, was nicht gut ist, macht noch kein politisches Konzept. Mut zu neuen Ideen und Konzepten steckt an, wo Vertrauen geweckt wird - Vertrauen in die moralische Kraft des Menschen, der sich zur Freiheit entschieden hat, der sich ernst nimmt und ernst genommen wird.

Die Kunst des Politischen ist mit jener Leidenschaft verbunden, die nicht vorschnell Harmonie sucht, die die Auseinandersetzung wagt. Reformer sind nicht schon jene, die alles allen versprechen, sondern tun, wovon sie sprechen.

"Die Sprache ist kecker als die Tat" - schreibt Friedrich Schiller. Die Taten sind es, die dem politischen Wort Substanz verleihen. An ihnen muss sich messen lassen, wer öffentliche Verantwortung trägt. Sagen, was Sache ist, nicht flüchten und nicht schmeicheln. Mit Leidenschaft und Augenmaß der Freiheit des Menschen Raum geben und die gemeinsamen Werte unseres freiheitlich demokratischen Gemeinwesens verteidigen, das schafft Vertrauen. Solches Vertrauen weckt Kraft zur Veränderung, so dass künftige Generationen uns Heutige als verantwortungsbewusst erkennen können.

Die Kunst des Politischen lebt von der Überzeugung der moralischen Kraft des Menschen und von der Verantwortung für die Gestaltung einer Gesellschaft, die sich angesichts von notwendiger Veränderung nicht dauernd selbst bemitleidet, sondern Vertrauen findet in neue Taten.


Annette Schavan, geb. 1955, ist seit 1995 Ministerin für Kultus, Jugend und Sport in Baden-Württemberg. Sie hat von 1974 bis 1980 Erziehungswissenschaft, Philosophie und katholische Theologie studiert und 1980 mit einer Arbeit über Gewissensbildung zum Dr. phil. promoviert. Sie war zwischen 1980 und 1995 in der Erwachsenenbildung tätig, hat zwei Jahre die Aufgaben einer Bundesgeschäftsführerin der Frauen-Union der CDU wahrgenommen und mehrjährige Erfahrungen in der Begabtenförderung gesammelt. Seit 1998 ist Annette Schavan stellvertretende Parteivorsitzende der CDU Deutschland. Darüber hinaus wirkt sie als Vizepräsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken.