Die Kunst der Verstellung

Wer nicht lügen kann, der beweist nicht zuletzt, dass er wenig Fantasie hat. Und trotzdem sollen wir immer, wenn schon nicht wahrhaftig, dann doch zumindest authentisch sein. Dagegen wehrt sich der Berliner Autor Adam Soboczynski. „Die schonende Abwehr verliebter Frauen“ hat er im Untertitel eine „Kulturgeschichte der Verstellung“ genannt. Auf unterhaltsame Weise vermischt er episodische Erzählung und soziologischen Traktat.
Ob schüchtern oder draufgängerisch, schwach oder selbstbewusst, erfolglos oder erfolgreich, eines sollen wir auf alle Fälle sein: authentisch. Die seelische Echtheit von Ausdruck und Verhalten genießt in unserer Alltags-kultur den Rang einer regelrechten Norm. Das Lächeln von Models soll so authentisch wie möglich sein, die Mitteilung unseres privaten Kummers auch. Selbst von Politikern wird erwartet, dass sie sich authentisch zeigen oder zumindest so scheinen. Camouflage, Taktik und Verstellung gelten als Makel und kommunikativer Betrug.

Gegen diese Norm wendet sich der provozierende Essay des Berliner Journalisten und Autors Adam Soboc-zynski. In seinem Buch „Die schonende Abwehr verliebter Frauen“, in dem sich auf unterhaltsame Weise episo-dische Erzählung und soziologischer Traktat vermischen, feiert Soboczynski die aus der Mode gekommene Kunst der Verstellung. Denn diese, zeigt der Autor, ist nichts anderes als Lebensklugheit, die es uns und den anderen leichter macht, höflich, schonend und moderat miteinander auszukommen.

Bei der Allerweltsfrage „Wie geht es Ihnen?“, auf die niemand eine schonungslos offene Antwort hören will, fängt es an, beim erotischen Eroberungsspiel hört es auf. Zurückhaltung und Contenance öffnen die Herzen leichter als hemmungslos authentischer Bekenntnisdrang.

In 33 Kapiteln, die sich jeweils aus Szenen des Liebes- und des Berufslebens ergeben, entfaltet Adam Soboc-zynski eine kleine Phänomenologie zeitgenössischer Verstellungskunst. Sie ist im leichten Partygeplauder ebenso zuhause wie bei knallharten Gehaltsverhandlungen. Wichtig ist: Sie darf sich nicht zeigen.

Soboczynski führt vor, dass Verstellungskunst, ob wir wollen oder nicht, unser Leben begleitet und dass sie sich oftmals gerade mit dem Ausdruck der Authentizität tarnt. Wer unentwegt sein Herz ausschüttet, seine Schwä-chen preisgibt, verfolgt auch damit eine Taktik.

„Die schonende Abwehr verliebter Frauen“ lässt sich indirekt als ein ironischer Ratgeber für Aufsteiger lesen. Denn der Weg in die oberen Etagen der Gesellschaft verlangt geradezu die Umsicht der Verstellung und verbie-tet plumpe Formlosigkeit. Für eine unruhige Aufsteigergesellschaft mit unruhigen Berufs- und Lebenswegen wie die deutsche Gegenwartsgesellschaft indes stellen die kleinen und vielfältigen Formen der Verstellungskunst – so das Fazit dieses Buches – nichts anderes dar als ein Reservoir des zivilisierten, friedlichen Miteinanderaus-kommens.

Wer gefragt wird, wie es ihm gehe, sollte in jedem Fall antworten: gut. Für eine offenere Antwort ist im richtigen Moment immer noch Zeit. Eben dies aber, den richtigen Moment für die richtige Mitteilung im richtigen Ton ab-zuwarten, ist die Krönung der Verstellungskunst. Mit Lügen hat das nichts zu tun.

Rezensiert von Ursula März

Adam Soboczynski: Die schonende Abwehr verliebter Frauen
Verlag Gustav Kiepenheuer, Berlin 2008,
204 Seiten, 18,95 Euro