Die Kunst bin ich

Von Martin Tschechne · 06.06.2012
Es gilt ein Gesetz bei der documenta in Kassel, und wenn Bernd Leifeld davon erzählt, dann ist er sehr stolz darauf. Leifeld ist Geschäftsführer der documenta GmbH, jetzt schon zum vierten Mal in dieser Funktion zuständig für alles - außer für die Kunst selbst. Denn genau das besagt das Gesetz, für dessen Einhaltung er verantwortlich ist und von dem er sagt, er werde es bis zum letzten Blutstropfen verteidigen. Es besagt: Die Kunst ist frei.
Das ist ein großes Wort. Zunächst eher abstrakt, aber in Kassel bekommt es eine sehr konkrete Form. Die Freiheit der Kunst ergibt sich hier aus der Freiheit dessen, der sie für die documenta zusammenstellt. Und Leifeld ist es, der dieser Person den Rücken frei hält. Es sollte dazu gesagt werden, dass er, erstens, früher Theaterleiter war, also genau weiß, wie man einer Inszenierung die Bühne bereitet, und dass er, zweitens, Fußball gespielt hat. Auf der Position des Torwarts.

Carolyn Christov-Bakargiev also, die künstlerische Leiterin der diesjährigen documenta hat einen reaktionsschnellen und stets sprungbereiten Wächter an ihrer Seite, der auf nichts so sehr achtet wie darauf, dass niemand ihr diese Freiheit streitig macht: Nur sie wählt aus, wer dabei sein darf; vor niemandem muss sie sich rechtfertigen - außer, wenn alles fertig ist und zur Besichtigung freigegeben, vor dem gewohnheitsgemäß neugierigen Publikum und einer gewohnheitsgemäß kritischen Presse. Bis dahin aber ist die Amerikanerin mit bulgarisch-italienischen Wurzeln die absolute Herrscherin über die Kunst in Kassel.

Das Problem liegt in dem Wörtchen "absolut", denn auch eine gewählte Monarchin stößt irgendwann an die Grenzen ihrer Macht. Bei denen nämlich, die sie nicht gewählt, und die vielleicht eigene Vorstellungen haben von der Freiheit der Kunst.

Genau die aber steht nun in Kassel zur Debatte, und zwar gleich aus doppeltem Anlass. Erster Fall: Der Bildhauer Stephan Balkenhol hat für die katholische Kirche Sankt Elisabeth eine Skulpturenschau zusammengestellt, einschließlich eines Mannes, der auf einer goldenen Kugel hoch oben auf dem Kirchturm steht und wie ein Heilsbringer die Arme ausbreitet. Balkenhol spielt in der ersten Liga der zeitgenössischen Kunst; auf der ganzen Welt haben seine stillen, scheinbar in sich selbst versunkenen Menschenbilder aus Holz schon ihre magische Aura verbreitet.

Die Leiterin der documenta aber sah durch die Skulpturen die Freiheit ihres Konzepts bedroht. Es ging darum, welche Kunst welche andere überstrahlen könnte. Also protestierte die Weltausstellung gegen die ungebetene Nachbarschaft: Bis zum September gehöre der öffentliche Raum ihr ganz allein, auch der oben auf dem Kirchturm. Die Kirche ließ sich nicht beirren.

Der zweite Fall: Gregor Schneider, ebenfalls ein deutscher Künstler von internationalem Rang, war eingeladen, in der evangelischen Karlskirche und auf dem Platz davor eine Installation mit Heiligenfiguren aus Kalkutta zu inszenieren. Gemeint war so etwas wie eine Begegnung der Kulturen und Religionen. Sehr passend für eine frühere Hugenottenkirche – aber ebenfalls ein Programm, dessen Strahlkraft der documenta-Chefin ins Auge stach.

Also protestierte sie. Der treue Wächter über die Freiheit der documenta-Kunst sprang ihr zur Seite; die evangelische Kirche zeigte sich friedfertig in einem Maße, das an die Bergpredigt erinnert – kurz: Die Ausstellung wurde abgesagt. Gregor Schneider schäumte über die "Allmachts-Phantasien" einer Kuratorin, die sich anmaße, eine ganze Stadt zu kontrollieren – und Kassel hat einen äußerst ungeschickt platzierten Skandal.

Die Kulturszene der Stadt ist düpiert. Spötter erinnern mit dem Spruch "l’art c’est moi" / "die Kunst bin ich" an die Usancen des absolutistisch regierenden Sonnenkönigs – und Carolyn Christov-Bakargiev hat pünktlich zur Eröffnung ihrer Weltausstellung am 9. Juni eine Debatte angestoßen, die ihr sicher mehr Ärger bringt als freudige Neugier: die Debatte darüber, ob die Freiheit des Einen Vorrang haben darf vor der Freiheit des Anderen.

Dr. Martin Tschechne ist Journalist und lebt in Hamburg. Er promovierte als Psychologe mit einer Arbeit zum Thema Hochbegabte. Zuletzt erschien seine Biografie des Begabungsforschers William Stern im Verlag Ellert & Richter (herausgegeben von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius).



Martin Tschechne
Martin Tschechne© privat
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