Die Krise und ich

Kekse mit Fliegen

Von Brigitte Neumann · 27.02.2014
Der Lebenspartnerin geht es schlecht - sie braucht Hilfe. Doch wie soll man die Kraft dazu aufbringen?
"Und der ganze Gestank", zischelt die Schwester ihrer Kollegin zu. Graue, rohe Betonwände. Hier unten ist offenbar Endstation. Hier stehen nur noch leere, zerwühlte Betten auf Rollen. Die beiden Schwestern fahren sie mit Wumms ineinander. Die roten Haltegalgen wackeln. Ich rührte mich keinen Schritt vom Aufzug weg. "Und Sie?", will die eine wissen.
"Ich suche den Treffpunkt der Angehörigengruppe für Alzheimerkranke, soll 'ne Kapelle sein."
"Ja, da ist sie doch!"
Finger nach links. Ich sehe die Frau verständnislos an. Eine Kapelle im Keller eines Hochhauses? Und wieso hat diese Krankenschwester so viele schwarze Krusten im Gesicht? Ekzeme? Ich hole die Brille aus der Tasche. Nein, Gott sei Dank, es sind keine Ekzeme, es sind Piercings.
Die sogenannte Kapelle hat weiß getünchte Wände in Blasenoptik. Und eine bedrückend niedrige Deckenhöhe. Die Angehörigengruppe ist bereits im Vorraum um einen Tisch versammelt. Wir sind zu sechst. Herr K., protestantischer Missionarsbart, undurchdringlicher Blick, und Frau K., weitaus jünger und von einer sofort spürbaren brettharten Freundlichkeit, sie stellen sich als die Moderatoren des Abends vor.
"Ja, so nennen wir uns."
Frau K. erinnert sich in ihrer Anmoderation daran, dass ich beim ersten Versuch die Gruppe nicht gefunden hatte. Es klingt wie Tadel: ze ze ze. Wie kommt die auch nicht auf die Idee, im Leichenkeller nach uns zu suchen? Herr K. weist auf zwei Kaffeekannen und sagt: "Dürfen Sie gerne nehmen."
Daneben liegen auch Kekse auf weißen Porzellantellern. Sie sind sortenweise akkurat in konzentrischen Kreisen angeordnet. Eine farblose, schwächlich wirkende Stubenfliege rüsselt vorsichtig über die Schokoladenseiten. Auch Herr K. hat sie gesehen:
"Leider, seit der letzte Priester gegangen ist, sieht die Küche immer ein wenig dreckig aus."
Ich bemühe mich um flache Atmung.
Hier kann man über alles reden
Nun hält Herr K. einen kleinen Einführungsvortrag:
"Man darf hier alles sagen, muss aber nicht."
Seine Augen glitzern herausfordernd.
"Und man erhält Antworten. Antworten, die manchmal wenig nützlich sind."
Er bittet mich, die heutige Runde zu beginnen.
"Meine Lebensgefährtin wird seltsam", sage ich.
"Vielleicht ein Anfangsstadium der Demenz. … Jedenfalls fühlt sie sich von der Nachbarin beobachtet, hält auch am Tag alle Vorhänge geschlossen, hasst neuerdings Ausländer, kann keinem Vortrag mehr folgen, kein Buch mehr lesen, ihren Beruf nicht mehr ausüben, und sie hält gerne lange Reden über nichts Bestimmtes. Letztes Jahr hat sie beim Einkaufen jemandem Schläge angedroht. Als ich sie kennenlernte, war sie eine vor Leben sprühende, kulturbegeisterte Person. Und dann, vor einem halben Jahr hatte ich das Gefühl, mit ihr zusammen einzuknicken. Deshalb ging ich für ein paar Monate nach Italien. Und von dort aus sah das Leben ganz anders aus. Ich wusste plötzlich, dass ich nicht verurteilt bin, mit ihr unterzugehen. Ich kam zurück und nahm mir eine eigene Wohnung. Das war letzten Monat. Meine Freundin und ich wohnen nun getrennt. Sie kommt noch alleine klar. Ich liebe das, was von ihr übrig ist und kümmer mich, wie ich halt kann."
Eine blondierte Dame um die 60 knurrt:
"Wie kann man denn da ausziehen, wenn es der Freundin doch so schlecht geht."
Sie schüttelt kurz den Kopf und erzählt dann von sich. Gerade sei sie mit ihrem Mann spazieren gewesen. Der Mann im Rollstuhl. Sie und ihre Schwester am Schieben. Da muss er mal. Sie fragt in einem Kiosk, ob der Mann ausnahmsweise mal … Nein, ist privat.
Auf dem Gebäck taumelt jetzt ein halbes Dutzend Fliegen im Zuckerflash. Ich drehe mich um. Der Ausgang ist noch da.
Sie fährt den Mann also in einen Busch und sagt ihm, dass er dort pinkeln soll. "Du blöde Kuh", pöbelt er. "Ich muss doch gar nicht." Auftritt die Moderatorin:
"Ins Gebüsch pinkeln, da kanns einem ja auch vergehn, womöglich vor Publikum."
Die Blondierte weint. Ihre Schwester meldet sich zu Wort:
"Na, drei Tage die Woche hast Du ja frei. Du hast deine Arbeit und einen Tag für dich!"
Pause. Scharfer Blick der Blondierten.
"Trotzdem, es ist furchtbar. Mein Mann kann nicht schlafen. Mehr als eine Stunde die Nacht ist nicht drin, egal wie viele Schlaftabletten ich ihm gebe. Und wenn er wach ist, möchte er gerne ausgeführt werden."
Tagsüber, so erzählt sie, schiebe sie ihn dann durch Kaufhäuser und Boutiquen. "Wäre ein Park nicht hübscher?", verbessert Frau K.
Aus Ratlosigkeit oder so habe ich sehr viel Kaffee getrunken, und der will jetzt wieder raus. Aber ich werde hier nirgendwo aufs Klo gehen. Nicht mal zu Recherchezwecken.
Frau K. spricht einen jungen Mann an, der unablässig auf die Fliegenkekse starrt.
"Wie geht es denn mit Ihrer Mutter?"
Er sieht kurz auf, bohrt seinen Blick dann wieder in das Gebäck.
"Ein Mal pro Woche will sie in die Messe. Aber das kriegen die im Heim nicht hin."
Wenn er dann nachfrage, heißt es:
"Das hat sie mal wieder vergessen."
"Junger Mann", greift Herr K. da mit donnernder Stimme ein. "Sie müssen mit denen in einem anderen Ton reden." "Ach, immer dieses Müssen", sagt eine Frau, die bisher still geblieben war. Der junge Mann ruckelt unbehaglich mit dem Kopf und Herr K. deutet auf seine Armbanduhr. Die Zeit ist um. Ob überall so wenige Männer in den Angehörigengruppen sind, will ich noch wissen. "Die Männer sind halt zuerst dran.", sagt der junge Mann. "Frauen sind immer jünger." Frau K. weiß:
"Die Männer machen das anders. Die organisieren sich Hilfe."
Ach so. Wir räumen ab. Die Kekse gehen vollzählig in die Küche zurück.
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