Die Krise als Argument für die EU?

Von Martin Alioth |
Sind die trotzigen Iren endlich zermürbt und gefügig geworden? Ein Augenschein in der Provinzstadt Waterford, der ältesten Stadt Irlands, im Südosten der Insel, am Vorabend des zweiten Referendums. Das Wahrzeichen der Stadt, die Kristall-Fabrik, ist verschwunden, und mit ihr auch viel Zuversicht. Arbeitslose und Staatsdiener befürchten gleichermaßen, dass es noch viel schlimmer wird, weil der Staat drastisch sparen muss. Irland braucht jetzt Freunde - ein zweiter Nasenstüber für die EU ist daher unwahrscheinlich.
Erstens soll man sich einen sicheren Ort suchen. Zweitens still stehen. Drittens gut umschauen. - Verkehrsunterricht für die Kleinsten in der Volksschule von Butlerstown außerhalb von Waterford im irischen Südosten.

Was den Kindern hier eingepaukt wird, stünde in dieser ungewöhnlichen Wirtschaftskrise auch den Erwachsenen Irlands nicht schlecht an. Vor den Fenstern der modernen Schule entfaltet sich an einem der in diesem Jahr seltenen Schönwetter-Tage eine Postkartenidylle: Kühe weiden auf sanften Hügeln, in den Hecken leuchten die Beeren des Weißdorns rot.

Im Lehrerzimmer allerdings lässt sich die grobe Wirklichkeit nicht ganz verleugnen. Angesichts drastisch geschrumpfter Einnahmen hat der irische Staat schon im letzten April Sondersteuern erhoben und eine zusätzliche Rentenabgabe für den öffentlichen Dienst. Der 61-jährige Lehrer Joe Cashin macht Kassensturz:

"I mean I would notice that it would be, for me, over 200 Euro per fortnight, which would be about, almost 5000 Euro per annum."

Netto verdient er pro Jahr rund 5000 Euro weniger. Das merkt man. Aber es sind nicht nur die Gehälter, die dem Rotstift schon zum Opfer gefallen sind. Bis vor kurzem hatte Scoil Mhuire - irisch für Sankt Marien - acht Klassen und acht Lehrer.

"Now, we have lost a teacher because of the government's policy, and we therefore had to double up some of the classes ..."

Nun haben sie einen Lehrer verloren, das heißt, dass die obersten beiden Klassen statt wie bisher 20 nun 30 und 31 Schüler haben.

"...but because of the changes that have been made, they have 30 and 31 pupils."

Während er in der Pause ein fürsorgliches Auge auf die spielenden Kinder hat, macht sich Joe Cashin Sorgen, dass die Fortschritte Irlands im Bildungsbereich wieder verloren gehen könnten. Und wen trifft das besonders?

"Bright children will get through this..."

Begabte Kinder überstünden auch das, aber die schwächeren, jene mit körperlichen oder geistigen Benachteiligungen, die würden eher vernachlässigt. - Cashin wird verbindlich:

"...because as soon as you remove a prop, it is the people at the bottom who fall first."

Es sei wie immer: Wenn man eine Stütze, eine Krücke entferne, dann stürzten die Untersten zuerst.

Zum Beispiel Seamus Kiely. Der 57-Jährige lehnt mitten in der Stadt Waterford an einem Geländer und schaut streitenden Schwänen zu. Er hatte alles exakt geplant: Nächstes Jahr hätte der gelernte Glasschleifer nach 41 Dienstjahren in vorzeitige Rente gehen sollen. Aber im letzten Januar machte seine Firma, Waterford Crystal, die Verkörperung dieser Stadt, pleite. Seamus stand mit 800 Kollegen auf der Straße.

"I feel very hurt over what happened, you know. Specially after putting all your - it's a lifetime that I've put into it, you know, 40 years, to walk out like that with nothing. It's sad, really."

Verletzt ist er. Nach 40 Jahren stehe er da mit nichts. Traurig. - Tatsächlich ist auch die Pensionskasse der Firma fast leer nach unglücklichen Investitionen, Seamus Kiely lebt von den 204 Euro, die er pro Woche als Arbeitsloser erhält, auf eine Rente hofft er nicht mehr.

"That's the way the country is gone. Every second day there's places going by the board. There's another couple of hundred that went last Friday, I think."

So habe sich Irland verändert. Jeden zweiten Tag würden Massenentlassungen gemeldet, grad letzte Woche wieder 200, schließt der nutzlos gewordene Handwerksmeister resigniert.

Für Opfer der Krise wie Seamus gibt es in der Innenstadt das Beratungszentrum St. Brigid's. Der Leiter, der einst die Geschäfte des Pharmakonzerns Ciba-Geigy in Irland dirigierte, Dick Hickey, berichtet von unsichtbaren Verheerungen:

"We are finding families now, coming for marriage counselling that maybe five or six years ago would have been leading very happy lives without any difficulties."

Zur Eheberatung kämen neuerdings Paare, die vor fünf Jahren noch glücklich und problemlos zusammenlebten.

"We find that the suicide rate, now, is spreading across older sections of the population..."

Selbstmorde seien nicht mehr auf junge Männer beschränkt, sondern erfassten auch ältere Männer und Frauen.

"...That's something that's new to us and we believe is due to that economic stress that is being placed on people."

Das sei ein neues Phänomen, verursacht, so glaubt Hickey, durch die psychischen Belastungen der Wirtschaftskrise.

Der Hauptgrund, weshalb die irische Wirtschaftsleistung dieses Jahr um etwa neun Prozent einbricht und die Arbeitslosigkeit schon auf zwölf Prozent hochgeschnellt ist, liegt hier, am Nordrand von Waterford. In den Spekulationsruinen, den leeren Bürogebäuden, den Äckern, für die Phantasiepreise bezahlt wurden, liegt der hausgemachte Teil der irischen Wirtschaftskrise begraben.

Der Immobilienmakler Des Purcell deutet auf einen hohen Stahlzaun und das struppige Brachland dahinter: sündhaft teures Bauland, umgeben von halbfertigen und unverkäuflichen Wohnsiedlungen.

"As you can see as we look at it, there are containers rusting on the site ..."

Da sieht man die rostenden Container, die einst das Werkzeug und die Maschinen des Bau-Unternehmers enthielten. All das sei nun zum Stillstand gekommen.

In den guten Zeiten hatte Purcell zwölf Angestellte, heute sind es grad noch drei. Im Boom gab es keine Grenzen:

"We could work eighty hours a week if we wanted to work eighty hours a week as agents because as soon as you got property in, you sold it ..."

Wir hätten 80 Stunden pro Woche arbeiten können, erinnert sich der Makler. Sobald eine Immobilie da war, war sie auch schon verkauft.

"...the banks were shoveling money out the door as if there was no tomorrow, it was very easy to get loans, it was very easy to get funding for business - everything just sold."

Die Banken schaufelten das Geld damals raus wie wenn der Weltuntergang bevorstünde. Jeder habe Hypotheken oder Kredite erhalten, alles wurde verkauft. Vor exakt einem Jahr mussten Irlands Banken mit einer staatlichen Pauschalgarantie gestützt werden. Da wurde die selbst gemachte Krise, die schon monatelang erkennbar gewesen war, global.

Purcell wandert in eine fertige Wohnsiedlung und bleibt vor einer Reihe von etwa 25 identischen Einfamilienhäusern stehen. Vor anderthalb Jahren waren die für 250.000 Euro auf dem Markt, jetzt könnte man so eines für 170 kaufen, aber die Häuserzeile ist leer, die Haustüren von einer dicken Staubschicht überzogen.

Hier wohnt niemand, hier gibt's keine Post, hier klappert niemand am Briefkasten, weil die Türklingel nicht funktioniert.

"Our economy has collapsed more than any country in the world since the Second World War ..."

Der Kollaps der irischen Wirtschaft sei schlimmer als nirgendwo sonst seit 1945. Seine Freunde - Architekten, Anwälte, Ingenieure - seien plötzlich arbeitslos.

"...and this was middle-class Ireland, and they never expected people who are middle-class to be unemployed the way we are now."

Diese Mittelschicht, das irische Bürgertum, habe nie damit gerechnet, arbeitslos zu werden. - Purcell beginnt, Schuld zuzuteilen:

"Really, I think our planners just behaved very badly. Because they have zoned enough land for 40 years!"

Die staatlichen Raumplaner hätten versagt. Sie verwandelten genug Äcker in Bauland für die nächsten 40 Jahre.
- Und was ist mit den Spekulanten und Bau-Unternehmern?

"All of them, all of them were from out of town. They weren't local. And there's an old saying in Ireland: 'An expert is a guy from a hundred miles out of town' - well these experts got it all wrong! And they got very badly burnt and it's bloody well good enough for them!"

Alle kamen von außen. Da sei kein Einheimischer drunter gewesen. Experten seien ja bekanntlich Leute, die 150 Kilometer entfernt wohnten; diese Experten hätten sich eben verhauen, und sich dabei die Finger verbrannt, was ihnen recht geschehe, schließt Purcell leidenschaftlich.

Sind diese Siedlung und das wertlose Bauland daneben denn nun Kandidaten für die staatliche Immobilienbank, Nama genannt, die den Banken alle ihre Hypotheken und Spekulanten-Darlehen abkaufen soll?

"Oh absolutely: this is a prime candidate for Nama, and there'll be a lot of property in this location ..."

Natürlich, Nama werde in dieser Gegend viele Objekte finden. Die Baulöwen seien alle am Trudeln, deshalb werde Nama hier die stolze Eigentümerin von vielen Häuschen werden.

"They are now all in financial distress, and Nama will be very busy in this area, and will be the proud owner of very many homes."

Nama ist das Gesprächsthema Nummer Eins, seit Finanzminister Brian Lenihan dem erschütterten Parlament die Rechnung präsentierte:

"From our estimates, it is expected that Nama will pay approximately 54 billion in relation to the 77 billion of loans that I mentioned earlier. This is an estimated aggregate discount of 30 percent. And it is an estimate."

Der Staat werde 54 Milliarden Euro für Immobiliendarlehen mit einem Buchwert von rund 77 Milliarden bezahlen. Das sei ein durchschnittlicher Abschlag von rund einem Drittel.

Waterford bezeichnet sich selbst als die älteste Stadt Irlands - die Wikinger gründeten die erste Siedlung bei der Mündung des Flusses Suir im 9. Jahrhundert. Heute leben 45.000 Menschen in der Stadt, weitere 80.000 in der näheren Umgebung. Neben Reginald's Turm, einem Relikt der Skandinavier, berichtet Michael Garland, der Leiter der Handelskammer, über die Probleme der Stadt:

"Waterford is struggling. We have a very heavy manufacturing base ..."

Es gehe der Stadt nicht gut. Die Wirtschaft sei einseitig von der verarbeitenden Industrie abhängig. Und da werde derzeit ein Betrieb nach dem anderen geschlossen oder verkleinert.

"And the simple reason is: Ireland, at the moment, is expensive to be a manufacturer."

Irland sei für die reine Fabrikation einfach zu teuer geworden. Denn die sauberen, schlauen Branchen, die Irland sonst kennzeichnen, die Elektronik, die Software, Pharma - die kamen nie bis Waterford.

"And one of the main reasons for that is, of course, we have all our eggs in one basket. And we didn't have the foresight in the 50s and 60s to push for Waterford to have a university."

Waterford habe sich allzu sehr auf die alten Fabriken verlassen und es versäumt, eine eigene Universität aufzubauen. Das ist jetzt der Plan für die Zukunft.

So lange kann der 50-jährige Seán Egan nicht warten. Als der Graveur seine Stelle bei Waterford Crystal verlor, marschierte er unverzüglich zum Ortsmuseum, um seine Dienste anzubieten. Jetzt ritzt er seine Zeichnungen mit einem Diamanten vor Publikum ins Kristall und verkauft Maßarbeit.

"Been more educated in the last four months than I have been for the last 35 years. Because you think for yourself. You've no comfort zone."

Er habe in den letzten vier Monaten mehr gelernt als in den 35 Jahren zuvor. Denn er musste selber denken, das nahm ihm niemand mehr ab. Aber der Jungunternehmer blickt zornig zurück auf die Zeit der Maßlosigkeit, auf die Baulöwen und Spekulanten.

"I mean these fellows have done very well out of it. The big cars... they lost the run of themselves. They were getting helicopters to work. You know, and I was cycling."

Die hätten sich saniert. Große Autos, hemmungslos. Die seien im Helikopter zur Arbeit geflogen, während er immer noch radelte. Auch für die Politiker, die mit den Bankern und den Spekulanten unter einer Decke steckten, hat er wenig übrig.

"Maybe Ireland is the only country in the world; the politicians just seem to be lining their own pockets first. They just look after themselves."

Vielleicht sei Irland ja einzigartig, aber hier arbeiteten die Politiker bloß in die eigene Tasche statt fürs Allgemeinwohl.

Zum Auftakt der Herbstsaison stellte sich dann der glücklose Chef, der zentristische Premierminister Brian Cowen, einer Befragung in der Late Late Show im irischen Fernsehen, angeblich der ältesten Talkshow der Welt.

"If I knew then what I know now, we wouldn't have spent as much ..."

Wenn er damals gewusst hätte, was er heute weiß, hätte er als Finanzminister nicht so viel ausgegeben. Aber die Zeiten waren halt gut. Vollbeschäftigung, billiges Geld...

"...the fact of the matter is: we had full employment, there was a great demand in the economy, money was cheap..."

Jetzt ist Irland dabei, die Scherben zusammenzukehren. Der Schock über den jähen Absturz sitzt tief. Selbst die Opposition befürchtet, die Wähler könnten sich an der verachteten Regierung rächen. Senator Paudie Coffey vertritt Waterford für die ebenfalls bürgerliche Oppositionspartei Fine Gael in der zweiten Parlamentskammer:

Er hoffe sehr, dass auch die Gegner der amtierenden Regierung für den Lissabonner Vertrag stimmten, denn er sei Irlands einzige Hoffnung.

Manche haben deshalb ihre Meinung geändert. Zum Beispiel Michael Keane, der Präsident des lokalen Bauernverbandes:

"Everyone have done well out of Europe so far. But I'll be afraid: Europe will move on without us. And in the current climate, we have to be at the heart of it."

Alle hätten bisher von Europa profitiert. Die EU werde ohne Irland eigene Wege gehen - aber Irland müsse im Herzen Europas bleiben.