"Die Kriegsschäden sind gigantisch"

Susanne Annen im Gespräch mit Katrin Heise · 11.01.2012
Der Krieg in Afghanistan hat nach Einschätzung von Susanne Annen auch zahlreiche Kulturstätten in dem Land zerstört. Außerdem gebe es immer noch Raubgrabungen, sagt Annen, die selbst als Beraterin des Kulturministers in Kabul war.
Katrin Heise: Susanne Annen ist Architektin und arbeitet als Ausstellungsleiterin in der Bundeskunsthalle in Bonn. Ihr Thema war und ist Afghanistan. Sie hat in Bonn eine Ausstellung mit Schätzen aus dem Kabuler Nationalmuseum umgesetzt, und zwar lief die im Juni 2010 bis jetzt Januar 2011.

Bereits in Vorbereitung dieser Ausstellung erhielt sie damals eine Anfrage des afghanischen Kulturministeriums: Man wollte sie als Beraterin nach Kabul holen, die Kulturgüter des kriegsgebeutelten Landes sollten gerettet beziehungsweise erhalten werden. Unterstützt vom Zentrum für internationale Migration und Entwicklung nahm Susanne Annen die Aufgabe an, und jetzt ist sie nach 16 Monaten in Afghanistan zurück in Deutschland, in Bonn. Ich grüße Sie, Frau Annen!

Susanne Annen: Ja, vielen Dank!

Heise: In Afghanistan herrscht ja seit Jahren mit kurzen Pausen – eigentlich seit Jahrzehnten – Krieg. Die Kriegsschäden sind gigantisch. Man erfährt zwar nicht viel von den Kulturgütern, aber beispielsweise von der Plünderung der Museen war hier auch die Rede. In welchem Zustand befinden sich denn die Kulturstätten im Land?

Annen: Die Kulturstätten im Land sind immer noch in kritischem Zustand. Viele der Kulturstätten sind aufgrund der politischen Situation nicht zugänglich. Es gibt immer noch Raubgrabungen. Kulturgut wird außer Landes geschafft und illegal zum Verkauf angeboten.

Heise: Das Nationalmuseum in Kabul, aber auch die Provinzmuseen, liegen Ihnen oder lagen Ihnen ja ganz besonders am Herzen. Wie weit ist man da mit dem Wiederaufbau oder aber auch dem Aufbau, was die Provinzmuseen betrifft?

Annen: Das Nationalmuseum ist in einem sehr guten Zustand, 2003 hat der Wiederaufbau dort begonnen. Durch Brände sind die ganzen Dokumentationen damals abhanden gekommen, aber man hat auch da jetzt begonnen, die ganzen Stücke wieder zu dokumentieren. Das Nationalmuseum wird besucht und hat ganz normale Öffnungszeiten.

Mit dem Provinzmuseen ist es ein bisschen schwieriger. Das erste Provinzmuseum in Herat haben wir eröffnet im Oktober des letzten Jahres, und auch da sind jetzt wieder Ausstellungsstücke zu sehen, und das Museum ist geöffnet und wird auch von Ausstellungsbesuchern besucht.

Heise: Und wie gehen die Leute vor Ort damit um? Ich kann mir das so gar nicht vorstellen: Menschen, die in einem solchen ja auch zerstörten Land stehen. Man kann sich da ja vorstellen, dass viele Bedürfnisse – Sicherheit, Bildung, ärztliche Versorgung, berufliches Auskommen –, das alles steht ja quasi vielleicht erst mal noch vor den Kulturgütern oder vor der Lust auf Kultur. Wie haben Sie das erlebt?

Annen: Sicherlich ist das so, aber Sie müssen da natürlich auch einen Unterschied machen zwischen den Städten und den ländlichen Regionen. In den Städten gibt es ja mittlerweile durchaus auch eine Mittelschicht, die Bedürfnis hat nach Schönem, nach Freizeitgestaltung, nach Kultur. Das sieht selbstverständlich ein bisschen anders in den ländlichen Regionen aus.

Heise: Was wird denn in den Provinzmuseen ausgestellt?

Annen: Dort sollen ausgestellt werden die Objekte aus den Grabungen in den Regionen. Es ist so per Gesetz in Afghanistan, dass nur die Masterpieces in das Nationalmuseum nach Kabul kommen und die anderen Ausgrabungen, die anderen Objekte, die bei Ausgrabungen in den Provinzen gefunden werden, werden dann auch in den Provinzmuseen ausgestellt.

Heise: Die Masterpieces sind die wichtigsten Stücke?

Annen: Das sind die wichtigsten Stücke, wo es keine Vergleichsobjekte gibt, die bedeutendsten Stücke aus den einzelnen Grabungen.

Heise: Circa 50 Kilometer von Kabul entfernt, da liegt die archäologische Stätte Mes Aynak. Sie misst, habe ich gelesen, über 4000 Hektar. Es wurde da beispielsweise ein buddhistisches Kloster und Münzen, Keramiken, Statuen gefunden. Wie kommen da eigentlich die Grabungen auf dieser ja von der Bedeutung her wohl mit dem Tal von Bamiyan vergleichbaren Grabungsstätte voran?

Annen: Im Moment ist es Winter in Afghanistan, (…) liegt auf fast 2500 Meter, und im Moment ruhen die Ausgrabungen dort. Aber die Ausgrabungen gehen sehr gut voran mit, wir haben eine ganze Menge Experten mittlerweile dort vor Ort, die in Kooperation mit dem Department of Archeology, in Kooperation mit dem Kulturministerium, diese Austreibung vorantreiben.

Heise: Man steht da wohl auch unter einem gewissen Zeitdruck, weil die Fundstätte – unter der Fundstätte befindet sich das größte Kupfervorkommen der Welt, und die Chinesen haben da die Verträge. Was bedeutet das? Wie läuft da die Kooperation?

Annen: Die Kooperation lief sehr gut, ich saß da in dem Gremium. Wir haben uns wöchentlich mit dem Bergbauministerium zusammengesetzt, die Grabungspläne mit den Abbauplänen des Kupfers abgestimmt. Der Abbau des Kupfers hat noch nicht begonnen, und man geht auch nicht davon aus, dass es in diesem Jahr mit dem Abbau des Kupfers beginnen wird.

Heise: Solche Grabungen sind ja Sachen von zum Teil Jahrzehnten, da ist ja ein Jahr eigentlich nicht viel, oder?

Annen: Ja, aber mit einer Abstimmung der Pläne Abbau Kupfer und Archäologie kann man da sehr wohl miteinander arbeiten.

Heise: Afghanistan und seine Kulturgüter – unser Thema im Deutschlandradio Kultur mit Susanne Annen, die als Beraterin der afghanischen Regierung sich für die Rettung der Kulturgüter eingesetzt hat und jetzt wieder zurück in Deutschland ist. Kultur ist ja wichtig als Bestandteil der Identitätsfindung. Wie steht es denn eigentlich, Ihrer Erinnerung nach oder Ihrer Anschauung nach, was haben Sie erlebt mit dem Bewusstsein einer gemeinsamen kulturellen Vergangenheit? Was bedeutet die für ein friedliches Zusammenleben im Jetzt?

Annen: Das kann ein Schritt auf mehr Einigung eines Vielvölkerstaates sein, dass ein Afghane sich als Afghane fühlt und nicht als Paschtune oder in erster Linie als Paschtune, als Hazar oder als Tadschike.

Heise: Und wie kann man das vorantreiben? Wie kann man, wie sollte man den Menschen vor Ort da in diesem Umgang mit den Kulturgütern helfen, was haben Sie da gemacht, oder wie haben Sie Mitarbeiter auch angeleitet vielleicht?

Annen: An vielen Schulen ist Kulturgeschichte in den Lehrplan aufgenommen worden. Es gibt eine Kooperation mit der Aga-Khan-Stiftung, die diesen Schulen Busse zur Verfügung stellt, um den Unterricht dann im Austausch mit den jungen Kuratoren des Nationalmuseums im Nationalmuseum vorzunehmen. Und da sind schon eine ganze Reihe schöne Projekte auf den Weg gebracht worden, die in diese Richtung gehen und bestimmt ein Schritt auf diesem Weg in die richtige Richtung sind.

Heise: Was war eigentlich ihre Haupttätigkeit als Beraterin in Sachen Kulturgüter der afghanischen Regierung?

Annen: Mein Fokus lag auf dem Nationalmuseum und den Provinzmuseen. Einerseits habe ich den Kulturminister unterstützt als Schnittpunkt zu den Geldgebern, zu Stiftungen, zu den Botschaften, entschieden, wo sinnvoll Gelder eingesetzt werden können. Mein Arbeitsplatz war am Nationalmuseum, ich habe mir dort mit vier jungen Kuratoren ein Büro geteilt, und wir haben gemeinsam Ausstellungen entwickelt.

Heise: Wenn Sie mal so Ihre Erfahrungen zusammenfassen, wie war die Zusammenarbeit da, wie war das Arbeiten dort?

Annen: Man hat mich gebeten, nach Afghanistan zu kommen, und ich bin da mit offenen Armen empfangen worden und sofort in den Kollegenkreis integriert worden. Selbstverständlich kommen Sie da in eine Struktur, die man hier nicht kennt. Als ich am Nationalmuseum ankam, gab es zum Beispiel keinen Internetanschluss, was nicht nur mir, sondern auch den jungen Kuratoren ziemliche Probleme bereitet. Wie sollen sich diese jungen Menschen mit Wissenschaftlern in der ganzen Welt austauschen? Wie sollen sie zu neuen Erkenntnissen kommen, neue wissenschaftliche Texte lesen? Mittlerweile gibt es einen Internetanschluss, und mittlerweile gibt es auch eine Website des Nationalmuseums. Das waren so kleinere Projekte, die wir in den letzten sechs Monaten umgesetzt haben.

Heise: Das heißt, da war Ihr Einfluss auch als Frau aus dem Westen doch ein ziemlich großer, auch diese Dinge dann dort anregen oder beziehungsweise vorantreiben zu können?

Annen: Es war nie eine Frage, dass ich als Frau dort vor Ort bin. Es ist nie thematisiert worden, es gibt am Nationalmuseum halt auch junge Kuratorinnen, nicht nur junge Kuratoren. Und dadurch, dass der Minister mich als Ausländerin gebeten hat, nach Afghanistan zu kommen, war der Einstieg sehr einfach.

Heise: Wie viel Einblick haben Sie auch in das Privatleben oder in das Leben, das Alltagsleben der Afghanen gehabt? Wie haben Sie beispielsweise gewohnt?

Annen: Ich habe gewohnt mit Franzosen zusammen, die französische archäologische Delegation hatte ein Projekthaus. Die haben mich aufgenommen, wofür ich sehr dankbar war, weil ich dadurch auch den direkten Kontakt zu den Kulturkollegen vor Ort hatte. Aber meinen Alltag, meinen gesamten Tag habe ich tatsächlich im Nationalmuseum mit meinen Kollegen geteilt. Wir haben zusammen gegessen, und wir haben zusammen versucht, die Probleme zu lösen. Und auch nur dann bekommen Sie natürlich auch die Probleme ganz hautnah mit, weil es werden ja auch dann plötzlich Ihre Probleme.

Heise: Welches sind denn die größten Probleme?

Annen: Eines der größten Probleme ist bestimmt die Ausbildung, was aber nicht heißt, dass die Studenten, die jungen Leute in Afghanistan dümmer sind. Sie haben einfach nicht den Zugang zu Bildung, den wir hier haben. Viele Fachliteraturen sind nicht in die Landessprache übersetzt, es gibt kaum einen Privathaushalt in Afghanistan, der einen Internetanschluss hat – es ist viel zu teuer –, und wenn es dann an solchen Institutionen wie dem Nationalmuseum keinen Internetanschluss gibt, ist der Austausch mit der Welt sehr, sehr schwierig.

Heise: Und da muss das Engagement, das persönliche Engagement um so größer sein?

Annen: Das ist so. Wenn man in der Kultur in Afghanistan arbeitet – und ich kann sagen, dass der junge Kurator, mit dem ich nun ganz eng zusammengearbeitet habe, mittlerweile hervorragend Englisch spricht und auch sehr gute Computerkenntnisse hat, kann man da nur mit Enthusiasmus am Nationalmuseum arbeiten, weil er würde ein Vielfaches von dem verdienen, wenn er für irgendeine ausländische Institution in Afghanistan arbeiten würde. Ich hatte Fahrer, die ein abgeschlossenes Studium hatten.

Heise: Was können Sie jetzt von Deutschland aus noch tun, also für den Weiteraufbau, für die Weiterrettung, für die Weitererhaltung der Kulturgüter in Afghanistan?

Annen: Ich sitze in mehreren Gremien, unabhängig von dieser Stelle, die ja nun ausgelaufen ist, hat das Ministerium ein Beraterkomitee gegründet und mich in dieses Komitee berufen. Ich sitze in der Jury für den Neubau in der Architekturjury für den Neubau des Nationalmuseums, bin von mehreren Organisationen für Kurzzeiteinsätze angefragt und hoffe, dass ich die Arbeit vor Ort von hier weitermachen kann mit Kurzzeiteinsätzen, eben nicht mehr mit vollem Einsatz vor Ort, aber die Projekte dann doch in irgendeiner Form weiterbetreuen kann. Und natürlich habe ich von hier aus die Möglichkeit, mit anderen Geldgebern Kontakt aufzunehmen, zu versuchen, Projekte finanziell abzusichern, und das ist eine Arbeit, die kann ich von hier aus sehr viel besser machen, als dort vor Ort.

Heise: Haben Sie da genügend Unterstützung hier von deutscher Seite aus für diese Arbeit?

Annen: Ja. Es gibt ein großes Interesse von Deutschland, und ich hatte die erste – also das war die erste Stelle, die Stelle soll neu besetzt werden, und es gibt ja auch einige Stiftungen in Deutschland, die in Afghanistan zum Beispiel die Henkel Stiftung vor Ort ist und da Projekte finanziert, mit denen ich auch schon zuvor zusammengearbeitet habe. Das Auswärtige Amt hat einige Projekte dort vor Ort – da gibt es schon eine große Unterstützung und auch ein großes Interesse von Deutschland.

Heise: Susanne Annen, gerade wieder zurück in der Bundeskunsthalle in Bonn. Sie war bis vor Kurzem Beraterin des afghanischen Kulturministers und berichtete von ihrer Arbeit in Afghanistan. Frau Annen, vielen Dank für das Gespräch!

Annen: Ich danke Ihnen!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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