Die Kraft der Trillerpfeife

Von Dieter Rulff |
"Ein Streik wird samstags beim Bäcker entschieden. Dann, wenn unter den nach Brötchen Anstehenden jemand auf die Streikenden zu schimpfen beginnt und das Gewerkschaftsmitglied in der Schlange sich entscheiden muss, ob er sich taub stellt oder dagegen hält."
Diese Faustformel für Sieg oder Niederlage in Arbeitskämpfen stammt von dem früheren Vorsitzenden der IG Metall Franz Steinkühler. Er hat sie den Mitgliedern seiner Gewerkschaft eingehämmert, als diese in den achtziger Jahren um die 35-Stunden-Woche kämpften. Sieben Wochen hielten sie dagegen, nicht nur beim Bäcker, sondern auch an den Werkstoren. Dann hatten sie ihr Ziel erreicht.

Auch die Mitglieder von ver.di sind seit nunmehr sieben Wochen im Ausstand. Ihnen geht es um den Erhalt der 38,5-Stunden-Woche. Doch wenn ein Streik tatsächlich beim Bäcker entschieden wird, dann haben sie ihn bereits verloren. Denn an den Ladentheken und Kneipentresen schwang von Anfang an das latente Misstrauen mit, dass hier eine privilegierte Bastion verteidigt wird. Gilt doch der öffentliche Dienst nach wie vor als ein sicherer Sektor in einer Arbeitswelt, in der zumeist für weniger Geld mehr geleistet werden muss. Dieses Misstrauen wurde zur Gewissheit in dem Maße, wie die Ersatzbetreuung der Kita-Kinder immer beschwerlicher und der Müllberg vor der Tür immer größer wurde. Dass mittlerweile nur noch eine Differenz von sechs Minuten die Fortdauer der Kampfmaßnahmen begründet, kann allenfalls noch von Experten auf dem Gebiet des Gesichtswahrens plausibel gemacht werden.

Der erfolgreiche Kampf um die 35-Stunden-Woche 1984 war zweifellos ein Höhepunkt in der Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung. In wochenlanger Vorbereitung war es gelungen, die teilweise durchaus widerstrebenden Interessen der Mitglieder mit der gesellschaftspolitischen Zielsetzung in Einklang zu bringen. Der Streik war getragen von der Gewissheit, dass hier Zukunft gestaltet wird, auch für andere Branchen und für andere Länder. Und Franz Steinkühler war ein Gewerkschaftsführer, der diese Gewissheit ausstrahlte.

Der erfolglose Kampf um die 38,5-Stunden–Woche ist zweifellos ein Tiefpunkt in der Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung. Ver.di wurde von den Arbeitgebern die Grenzen ihrer Handlungs- und Verhandlungsmacht vor Augen geführt. Die Tarifgemeinschaft der Länder saß von Anfang an am längeren Hebel. Sie führt, ob CDU oder SPD regiert, schon seit zwei Jahren mit jeder Neueinstellung die 40-Stunden-Woche ein, eine tarifvertragliche Regelung ist da für sie nicht zwingend. Bereits ein Fünftel des Öffentlichen Dienstes arbeitet unter den Bedingungen, gegen die ver.di angetreten ist und täglich werden es mehr. Der Streik basierte auf der stillschweigenden Annahme, dass die politischen Parteien angesichts der drei Landtagswahlen eine lange und harte Auseinandersetzung scheuen würden. Doch diese Annahme verkannte nicht nur die Stimmung beim Bäcker, sondern auch den Wandel des Föderalismus zu einem Wettbewerbsmodell. Mit ihm droht ein Ende des Flächentarifvertrages. Weder ver.di noch den wirtschaftlich schwachen Bundesländern kann daran gelegen sein. Wohl dem Landespolitiker, der unter diesen Bedingungen voreilig zu Zugeständnisse bereit ist.

Die Gewerkschaften, nicht nur ver.di, befinden sich schon seit Jahren in der Defensive. Daraus ist ihnen kein Vorwurf zu machen, denn mit der eigenen Schwäche gegenüber einem entgrenzten und deshalb mächtigen Kapital hat auch eine Regierung Merkel zu kämpfen.

Die Gewerkschaften finden für ihre Defensive jedoch keine Sprache und keine Strategie, das macht ihre Lage fatal. Sie verharren in einer Rhetorik der Stärke, die nicht so recht passen will zu den Niederlagen, die sie einstecken, zu den kleinen Kompromissen, die sie täglich schließen müssen. Und vor allem nicht zu den Mitgliedern, die ihnen massenhaft den Rücken kehren.

Seit Steinkühlers Zeiten haben die Gewerkschaften gut ein Drittel ihrer Mitglieder verloren. Damals war der Betrieb mit dem besten gewerkschaftlichen Organisationsgrad die SPD-Fraktion im Bundestag. Die hatte man weitgehend im Griff und nutzte sie als Basis gesellschaftspolitischer Veränderungen. Heute erfreuen sich Bsirske und Peters eines ähnlich hohen Einflusses nur noch bei der Linkspartei, deren verbaler Radikalismus im umgekehrt proportionalen Verhältnis zu ihrer Regierungsfähigkeit steht.

Man wärmt sich untereinander an Kraftmeiereien, wo kalte Analyse gefragt wäre. Man sagt einem vorherrschenden Neoliberalismus den Kampf an, als wäre es pure Ideologie, die der ganzen übrigen Gesellschaft das Hirn vernebelt. Das verkennt die reale Dynamik der Veränderungen. Die zwingt die Gewerkschaften seit Jahren in die Ecke des Strukturkonservatismus. Um aus ihr herauszufinden fehlt ihnen, was sie zu Steinkühlers Zeiten noch auszeichnete: die Vorstellung von einer Zukunft der Gesellschaft, die auch in Strategie umsetzbar und mehrheitsfähig ist. Die Zeiten, in denen alle Räder stillstanden, wenn nur ein starker Arm es wollte, sind vorbei. Heute ist eher ein kluger Kopf gefragt, um die vielen Stellschrauben zu justieren, mit denen Arbeitsverhältnisse gestaltet und Gesellschaften verändert werden. In den Gewerkschaften müsste es eigentlich solche Köpfe geben.

Dieter Rulff, Jahrgang 1953, studierte Politikwissenschaft in Berlin und arbeitete zunächst in der Heroinberatung in Berlin. Danach wurde er freier Journalist und arbeitete im Hörfunk. Weitere Stationen waren die "taz" und die Ressortleitung Innenpolitik bei der Hamburger "Woche". Vom März 2002 bis Ende 2005 arbeitete Rulff als freier Journalist in Berlin. Er schreibt für überregionale Zeitungen und die "Neue Gesellschaft/ Frankfurter Hefte". Ab 1. Januar 2006 Redakteur der Zeitschrift "Vorgänge".