Die Kopie ist immer (auch) ein Original

Von Elisabeth Nehring · 04.06.2012
Überall wird über das Urheberrecht debattiert. Von Choreografen und Tänzern hört man in dieser Sache wenig. Doch eine Urheberdebatte in Bezug auf den zeitgenössischen Tanz gibt es durchaus – sie hält jedoch besondere Schwierigkeiten bereit.
Juristisch gestritten wird im Tanz nur selten. Eines dieser raren Ereignisse liegt bereits über 60 Jahre zurück und betrifft den deutschen Revue-Film "Sensation in San Remo" von 1951. Madeline Ritter, Leiterin des Tanzfonds Erbe:

"Es hat mal mit Marika Rökk und Kurt Joos einen Gerichtsfall gegeben, wo Kurt Joos gesagt hat, sie hat eine Szene aus dem 'Grünen Tisch' genommen für ihren Film. Und am Ende hat er die Companie vortanzen lassen im Gerichtssaal und dann war es so eindeutig, dann haben sie den Film angeschaut und sich das Originalwerk angeschaut und gesagt, ja, das ist geklaut und sie musste die Szene rausschneiden."

Nicht, dass sich Stars der Popkultur nicht gerne an den Schöpfungen der Avantgarde bedienten oder – in ihrer eigenen Terminologie – sich von innovativen Künstlern "inspirieren" ließen, wie das Musikvideo "Countdown" von Beyoncé zeigt, in dem die amerikanische Sängerin sehr offensichtlich und bis ins letzte Detail Sequenzen aus Tanzvideos der belgischen Choreografin Anne Teresa de Keersmaeker kopiert. Doch davon abgesehen weisen die ohnehin schon diffizilen Fragen um das Urheberrecht in Bezug auf den zeitgenössischen Tanz einige besondere Schwierigkeiten auf.
Zum Beispiel sind die Kompositionsprinzipien der Choreografie klar – Raum, Zeit, Energie. Doch welche Rolle spielen Qualität und Dynamik der Ausführung? Und wie überprüft oder vergleicht man das alles nach Ende der Vorstellung? Verschiedene choreografische Notationssysteme helfen da oft nicht weiter. Und auch Videoaufzeichnungen, da sind sich alle einig, können immer nur einen unvollständigen Eindruck wiedergeben. Dennoch fußen die Prozesse der Archivierung des zeitgenössischen Tanzes vor allem auf der Videodokumentation – doch die sind für die Choreografen oft selbst nicht unproblematisch. Madeline Ritter:
"Ich nehme nur mal das Beispiel Pina Bausch, die in all ihren Stücken Populärmusik benutzt hat und zwar richtig viel! Wenn Sie jetzt – das Archiv entsteht jetzt gerade und das soll ein lebendiges Archiv sein und die möchten Sachen auch ins Internet stellen – dann haben Sie ein großes Problem. Wenn Sie da jedes Lied bezahlen würden, ist das nicht bezahlbar. Auch wenn im Moment Tanzwerke nicht auf Millionenklicks kommen, sondern die liegen so zwischen 20. und 30.000 Klicks – trotzdem: Da hat der Tanz selber ein Problem!"

Madeline Ritter leitet als Geschäftsführerin unter anderem den Tanzfonds Erbe, eine Initiative der Kulturstiftung des Bundes. Dieser Fonds fördert Projekte zum Kulturerbe Tanz, die eine künstlerische Herangehensweise mit fundierter wissenschaftlicher Aufarbeitung verbinden. Auf originelle Weise sollen vergangene Werke und einflussreiche Künstler des 20. Jahrhunderts über die Tanzszene hinaus bekannt gemacht werden. Wie mit den Ergebnissen, die bei diesen Projekten heraus kommen, umgegangen wird, ist bereits vorher vertraglich geregelt. Was das Gesetz nicht regeln kann, ist die Frage, was überhaupt als Kunst oder in diesem Fall als schützenswerte Choreografie oder Bewegungssequenz gilt. Choreograf Christoph Winkler:

"Also es gibt den Begriff der Schöpfungshöhe, der wurde mal eingeführt. Das Genie sollte geschützt werden. Deshalb gibt es eine Schöpfungshöhe, das heißt, es muss ein Kunstwerk sein. Nun kann das Recht aber schlecht entscheiden, was Kunst ist. Die Schöpfungshöhe – ab wann etwas Kunst ist – kann eben nicht derjenige entscheiden, der es tut, sondern das ist ein langer gesellschaftlicher Prozess. Ich kann erst mal behaupten, ich bin Künstler. Aber die Gesellschaft sagt nach einer Weile: Ja, du bist es. Die liegt da auch oft falsch. Es gibt viele verkannte und manche werden gar nicht entdeckt. Aber ich kann das selbst nicht festlegen, und schon gar nicht das Recht. Es ist ein komplexer sozialer Prozess. Da gibt es keine Gerechtigkeit und objektiven Kriterien. Etwas, das ausgehandelt wird und das mit Rechtsbegriffen auf keinen Fall fassbar ist."

Christoph Winkler hat nach einem Urheberrechtsstreitfall, zu dem er als Tanz-Sachverständiger geladen war, ein Stück über "Tanz und Urheberrecht" gemacht. Die Produktion "Dance! Copy! Right?" weist auf die Krux der Urheberrechtsdebatte im Tanz. Denn die ist das Medium dieser Kunstform selbst: der tanzende Körper. Den gibt es nun einmal nicht in Verdoppelung, sondern immer nur als Original, selbst wenn er dieselben Schritte und Bewegungen wie ein anderer Körper ausführt. Während Musik und Film digital simuliert werden können, ist die Kopie eines Tanzes stets ein anderer tanzender Mensch.

Christoph Winkler: "Deshalb offenbart eine tänzerische Bewegung mehr das Paradoxon von Urheberrecht, weil man natürlich nicht so leicht dem anderen Menschen eine eigene Leistung aberkennen kann und weil man den anderen auch sieht als unterschiedliche Person – Geschlecht, Kulturkreis, Ausbildung, Level von Fertigkeiten, also wie gut kann er tanzen. Also man hat da ein bisschen Schwierigkeiten, dem das zu verbieten. Jetzt verbiete ich dir diese Bewegung – das ist natürlich ein enormer Eingriff in die Rechte der Person."

Zur Frage des Urheberrechts finden sich auf dem Gebiet des zeitgenössischen Tanzes genauso unterschiedliche Haltungen wie in der zur Zeit heftig geführten spartenübergreifenden Debatte. Christoph Winkler plädiert für einen lässigeren Umgang mit dem Begriff des originellen Schöpfertums und weist in diesem Zusammenhang auf die Differenz zwischen dem einmaligen Ereignis der Aufführung und ihrer Dokumentation:

"Das Tanzstück ist zu Ende, wenn die Zuschauer es verlassen. Das andere ist dann eben ein Video. Es gibt von Kilián einen Satz, der drauf angesprochen wurde auf die zahlreichen Entlehnungen oder Ähnlichkeiten von Choreografien zu seinen Stücken, der hat gesagt: 'Geklaut wird nur von den besten. Also sollen sie machen.' Also, ich würde auch mit der ganzen Schöpfermetaphorik sehr vorsichtig sein. Grundsätzlich kopieren wir ja alle. Anders geht das gar nicht. Wir lernen etwas, wir bekommen etwas beigebracht – beim Tanz ist das ganz deutlich. Man lernt eine Technik, die Technik bringt man in das nächste Projekt. Aus diesem Projekt geht man ins nächste und bringt das dann auch wieder ein."

Einen Vorschlag, wie mit dem Schutz des eigenen Werkes umzugehen sei, hat Tanzfonds-Leiterin Madeline Ritter. Nach dem Vorbild der amerikanischen Fair-Use-Initiative regeln manche zeitgenössische Choreografen wie zum Beispiel Xavier Le Roy die Rechte an ihren Stücken nach der Methode der creative common licence:

"Da legt man fest, dass das eigene Werk von anderen auch publiziert und benutzt werden kann – unter bestimmten Voraussetzungen. Und die kann ich auch festlegen. Es muss klar werden, woher es kommt und dass, wenn ich selber etwas damit mache, die creative common licences weitergebe, so dass ein Schneeballeffekt der guten Nutzung passiert. Also ich kann nicht von jemand anderem umsonst nehmen und selber dann damit Geld machen."
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