Die Komik des alltäglichen Horrors

Rezensiert von Marius Meller |
Guy Helminger liefert mit seinem Erzählband "Etwas fehlt immer" eine fesselnde Studie des bundesdeutschen Alltagshorrors. Virtuos verknüpft er seine Kurzgeschichten über das Leitmotiv des Lichts. Dabei sind seine Geschichten ebenso brutal wie abgründig komisch.
Warum sagt man, dass Männer, die mal eben Zigaretten holen gehen, oft nie wieder zurückkommen? In Guy Helmingers brillanten Erzählungen "Etwas fehlt immer" wird das endlich einmal erklärt: Es liegt daran, dass nach dem Gang zum Zigarettenautomaten die Wirklichkeit eine vollkommen andere ist. Auf dem Namensschild an der Klingel steht ein wildfremder Name, jemand wildfremdes wohnt im eigenen Zuhause und ist äußerst irritiert, wenn an der Wohnungstür ein ihm gänzlich Unbekannter mit Zigarettenschachtel in der Hand stottert: "Entschuldigen Sie, aber ich dachte ich wohne hier." Die vertrauten Verhältnisse lassen sich nur durch einen Trick wiederherstellen, der hier nicht verraten werden soll, und der nicht nur die Raucher unter den Literaturfreunden interessieren wird.

Der gebürtige Luxemburger Guy Helminger, Jahrgang 1963, seit 1985 in Köln lebend, ist mit seinem ersten Buch im Suhrkamp Verlag kein Debütant. In kleineren Verlagen veröffentlichte der ehemalige Barkeeper, Schauspieler und 3D-Grafiker bereits vier Gedicht- und zwei Prosabände. Beim Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb gewann er 2004 mit seiner skurrilen Kurzgeschichte "Pelargonien", die sich auch in dem aktuellen Erzählband findet, den 3sat-Preis. Das Niveau des Wettbewerbs damals war ausgesprochen hoch. Ein Jahr später hätte Helminger gewiss den ersten Preis gewonnen – mit jeder der achtzehn Geschichten von "Etwas fehlt immer".

Helminger ist schwarzer Humorist. Seine Geschichten sind ebenso brutal wie abgründig komisch. Nach dem Vorbild von Raymond Carvers "Short Cuts" und Ingo Schulzes "Simple Stories" sind alle achtzehn kurzen Erzählungen durch Personnage und Handlungsmotive überaus kunstvoll miteinander verzahnt.

In der schwülen Hitze einer wohl rheinländischen Stadtlandschaft bricht aus der Alltagslethargie haarsträubende Gewalt. Ein harmloser Vorstadtbewohner wird von seinen Nachbarn dunkler Machenschaften bezichtigt. Die Gerüchteküche kocht hoch, und als er wegen abstruser Anschuldigungen zur Rede gestellt wird, explodiert seine Spießerseele.

Ein geistig minderbemittelter Radfahrer liebt es, Passanten einen Klaps auf den Hinterkopf zu geben, wird Zeuge eines Autounfalls und verliebt sich das Unfallopfer. Er verfolgt es und wird zum unheimlichen Stalker.

Ein Familienvater besucht samt seiner Familie jede Aufführung einer Schauspielerin, die sich bald am Rande der Paranoia befindet. Beiläufig erfährt man später, dass eben dieser Familenvater seine Hände bei einem grausigen Menschenhandel im Spiel hat…

Helmingers ebenso lakonische wie poetische Prosa ist durchsetzt von Lichtmetaphern:

"Das Licht schlenzte über die Schaufenster, blitzte in einer Ecke auf, verschwand, funkelte über die Wagen und stach ohne Vorwarnung an anderer Stelle auf die Rücken der Passanten ein."

Es ist die Rede von "Lichtplatten" und "Lichtseilen", "Lichtblöcken" und "Lichtkörnern" – das Licht wird materiell, wird unheimlich massiv, wird zur Hauptfigur in Helmingers Erzählgewebe. Ein Krimineller und Hobbymaler mit dem sprechenden Namen Skull verweist auf die metaphysische Dimension dieses Motivs, wenn er über die Impressionisten räsoniert:

"Bei denen sieht das Licht immer aus, als sei Gott gerade inkontinent."

In Helmingers virtuosem Erzählnetz lösen minimale Bewegungen der Protagonisten Erschütterungen aus, die durch die ganze Prosa spürbar bleiben und zu merkwürdigen Wendungen führen. Andersherum beeinflussen die Ausbrüche roher Gewalt die Handlungsfäden bis in die feinsten Verästelungen. Das alles verbindende Medium ist das unerbittliche Licht, das gnadenlos seine Schatten in die unerlöste Welt wirft – in der eben immer etwas fehlt –, als wollte es das Böse erst möglich machen.

Helminger hält diesen literarischen Trick über seine achtzehn Erzähltexte virtuos in der Schwebe und erzeugt einen enormen literarischen Sog. Man muss nicht nur Guy Helminger zu dieser fesselnden Studie des bundesdeutschen Alltagshorrors gratulieren, sondern auch dem Suhrkamp Verlag, der einem hochbegabten Autor nun ein angemessenes Forum bietet.

Guy Helminger: Etwas fehlt immer
Erzählungen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005,
269 Seiten, 19,80 Euro