Die Klugheit des Durchwurstelns

Von Markus Reiter |
Der visionslose Politikstil der Bundeskanzlerin ist oft kritisiert worden. Doch wer auf dem Grat über dem Abgrund spaziert, ist mit kleinen Schritten besser bedient als mit ausholendem Voranschreiten, gibt der Publizist Markus Reiter zu bedenken.
Am 15. Juni 1919 nahm ein sechzehnjähriger Schüler an einer Demonstration in Wien teil. Der junge Mann sympathisierte mit der neu gegründeten Kommunistischen Partei Österreichs.

Deren Anhänger waren von ihrer Führung aufgerufen worden, für die Freilassung von 130 inhaftierten Genossen zu marschieren, obwohl schwer bewaffnete Polizisten in der Stadt Stellung bezogen hatten. Die Kommunisten hofften, dass eine Eskalation durch den Staat den Funken zünden würde, der zur Ausrufung einer Räterepublik führen könnte.

In der Hörlgasse im IX. Wiener Stadtbezirk eröffnete die Polizei das Feuer auf die Demonstranten. Nach Schätzungen verbluteten mindestens ein Dutzend Kommunisten, etwa 80 wurden verletzt. Die Funktionäre hatten den Tod der Demonstranten billigend in Kauf genommen, um den Volkszorn zu schüren. Zur österreichischen Räterepublik kam es dennoch nicht.

Jener Schüler war Karl Popper. An jenem Tag verlor er seinen Glauben an den Kommunismus – und an alle anderen großen, angeblich welterlösenden Ideologien. In seinem sozialphilosophischen Hauptwerk "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" skizzierte Popper 20 Jahre später ein Gegenmodell.

Politik dürfe sich nicht an großen Visionen oder an einer angeblich geschichtlichen Notwendigkeit orientieren, sondern müsse in kleinen, überschaubaren Schritten voranschreiten. Auf Englisch nennt man das "piecemeal social engineering". Man könnte es auf Deutsch etwas salopp mit "Durchwursteln" übersetzen.

Und damit kommen wir zur amtierenden Bundeskanzlerin. Wer Angela Merkel nicht wohlgesonnen ist, erhebt gerne den Vorwurf, sie betreibe eine Politik des Durchwurstelns. Sicherlich verlangt kaum jemand von der Kanzlerin eine Welterlösungsideologie, wie es noch in den 60er Jahren der Fall gewesen wäre.

Ein guter Politiker aber habe ein großes Ziel am Ende eines langen Weges vor Augen, eine Vision, einen Masterplan. Er plane seine nächsten, übernächsten und über-übernächsten Schritte weit im Voraus und wisse also bereits heute, was die Welt von Morgen bestimmen werde. So jedenfalls schreiben es die großsprecherischen Kritiker vor. Wer eine solche Weltsicht hat, wird Angela Merkel in der Tat schwerlich als gute Politikerin bezeichnen können. Nur führt dieser Anspruch völlig in die Irre.

Niemand weiß nämlich, wie die Zukunft aussehen wird – weder in der Eurokrise, noch in der Energiewende noch in einem anderen Politikfeld. Zwar mangelt es der Kanzlerin nicht an forschen Ratgebern, die in Talkshows, Medieninterviews und Leitartikeln vorgeben, ganz genau wissen, was geschehen werde, wenn die Politik so oder so entscheide. Doch wird am Ende keiner von ihnen die Verantwortung übernehmen wollen, wenn die Sache schief geht.

Die Risiken der Gegenwart sind gewaltig. Daher ist es am Ende klüger, sich von Krisengipfel zu Krisengipfel, von Einzelentscheidung zu Einzelentscheidung durchzuwursteln, zu beobachten, wie die beschlossenen Maßnahmen wirken, im Zweifel einen Rückzieher zu machen und etwas Neues zu probieren. Das sieht nicht elegant aus, bringt uns aber am sichersten weiter.
Wer auf dem Grat über dem Abgrund spaziert, ist mit kleinen Schritten besser bedient als mit ausholendem Voranschreiten.

In ihrer Neujahrsansprache vor zwei Jahren hat Angela Merkel einmal Karl Popper zitiert. Mehr Popper-Zitate lassen sich zumindest im Internet nicht von ihr finden. Dennoch darf man annehmen, dass die Kanzlerin dessen Philosophie der kleinen Schritte zu schätzen weiß.

Der letzte Kanzler, der sich öffentlich auf Poppers politische Theorie berief, war übrigens Helmut Schmidt. Weshalb er jenen, die Visionen hätten, empfahl – das Bonmot ist allseits bekannt: zum Arzt zu gehen. So wurde auch er als ein Bundeskanzler des Durchwurstelns bezeichnet. Heute gilt Schmidt den Deutschen als der beliebteste und vertrauenswürdigste Politiker.

Mit dem Abstand der Geschichte wirkt manches Durchwursteln eben visionär.

Markus Reiter arbeitet als Schreibtrainer, Journalist und Publizist. Er studierte Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Geschichte an den Universitäten Bamberg, Edinburgh und FU Berlin. Unter anderem war er Feuilletonredakteur der FAZ und schreibt Bücher über Kultur, Sprache und Kommunikation. Mehr unter www.klardeutsch.de
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