Die kleine Form

17.03.2011
Am Ende von Henning Ritters Notizhefte stehen leere weiße Seiten. Der Autor, der ein Misstrauen hegt gegen die Originalität der auftrumpfenden, scheinbar neuen These, beendet sein Buch nicht mit einem Schlussaplomb. Sondern mit freiem Raum für neue Beobachtungen und Einfällen.
Auch der Leser kann hier Ritters Spiel der Beobachtung in höherer Potenz fortsetzen. Oder er legt ein Register an, auf das Henning Ritter verzichtet hat.

Was sich hier öffnen würde, wäre ein Milieu geistiger Spannungen der letzten drei Jahrhunderte – mit dem Schwerpunkt auf dem französischen 18. Jahrhundert; ein Taubleau bedeutender Denker, gelehrter Einzelgänger und exzentrischer Außenseiter am Rande der philosophischen Zunft. Ritters Lieblingsautoren Rousseau und Montesquieu fänden sich hier neben einer Galerie heroischer Pessimisten aus der deutschen Tradition – Schopenhauer, Nietzsche, Gottfried Benn oder Arnold Gehlen. Dazu gesellen sich Ritters im engeren Sinne akademische Lehrer Hans Blumenberg, Klaus Heinrich und Jacob Taubes. Ansonsten sind die Reihen der Nachkriegsintelligenz kaum bestückt – kein Habermas nirgends.

Das ist umso erstaunlicher, da der Band "Notizen aus den Jahren 1990 bis 2009" enthält. Nur von ferne ragen Ereignissplitter jener Jahre wie das "zusammenstürzende World Trade Center" in Ritters Notizhefte. In bewusster Unzeitgemäßheit hält Ritter, der von 1985 bis 2008 als Redakteur die "Geisteswissenschaften" in der FAZ betreute, sich die Debatten und Aufgeregtheiten der letzten zwanzig Jahre auf Distanz. Und dennoch schreibt Ritter nicht an der eigenen Zeit vorbei, sondern beleuchtet sie vor dem fernen Spiegel der ideenhistorischen Überlieferung. In einem Panoptikum wilder Gleichzeitigkeit treten hier Paulus-Interpretationen neben Glossen zur Bundesrepublik oder Beobachtungen zum Erschlaffen des Pathos der kunsthistorischen Avantgarde.

Alles wird dem feinsinnigen Beobachter Ritter zum Gegenstand seines scheinbar absichtslosen Interessens. Aber man lasse sich von der schöngeistigen Maskerade des Buches nicht täuschen. Hinter dem Reigen der Gelehrsamkeit, den Perlen ausgesuchter Zitate steckt ein politischer Kopf. Ritters Invektiven gegen die "Ideologie" der Menschenrechte, die "Einfalt" des Multikulturalismus oder die verordnete "Homogenität" der Vergangenheitspolitik, in der die Volksgemeinschaft weiterlebt, markieren das konservative Profil.

Im vergangenen Herbst wurden Ritters "Notizhefte", die auch für den Leipziger Buchpreis nominiert wurden, als Hausbuch des deutschen geistigen Hoch-Feuilletons viel gerühmt. Und in der Tat stellen Ritters ideenreiche und funkelnde "Notizhefte" in der kleinen geisteswissenschaftlichen Szene ein Ausnahmeereignis dar. Aber sie markieren auch eine Wetterwende. An die Stelle der großen Erzählungen und systematischen Theorien tritt die kleine Form. An die Stelle der Kritik der antiquarische Gestus des Bewahrens und Sammelns. In der Zwischenzeit der nuller Jahre eines neuen Jahrtausends wird emphatische Epigonalität zur souveränen Verhaltenslehre.

Besprochen von Stephan Schlak

Henning Ritter: Notizhefte
Berlin Verlag, Berlin 2010,
426 Seiten, 32,00 Euro