Die Kindheit in der der Ferne

30.09.2010
Als Ildikó und ihre Schwester in die Schweiz ziehen, fühlen sie sich fremd. Die Eltern sind aus Titos Jugoslawien ausgewandert. Dann bricht der Krieg in der alten Heimat auf dem Balkan aus, und die Familienmitglieder klammern sich aneinander.
Erst wandern die Eltern aus Titos Jugoslawien aus, dann holen sie einige Jahre später ihre Töchter nach - in die Schweiz. Ildikó, die ältere der beiden, erzählt in "Tauben fliegen auf" vom Heranwachsen in der Fremde und der Sehnsucht nach dem, was sich bei jedem Besuch im vertrauten Herkunftsland als unwiderruflich vergangen erweist. Das zweite Buch der 1968 im serbischen Becsej geborenen und in der Schweiz aufgewachsenen Schriftstellerin und Musikerin Melinda Nadj Abonji, deren Debüt "Im Schaufenster im Frühling" 2004 erschien, ist ein berührender, niemals sentimentaler Roman über den Verlust der Heimat.

Der Balkan ist in diesem Buch einmal nicht Schauplatz für schrullig-schrille Personen und Ereignisse, sondern Ort der verlorenen Kindheit. Dort wohnen Mamika, die geliebte Oma, und Onkel Piri, die schöne, ältere Halbschwester Janka und die Cousine Csilla, die aus Liebe zu einem Mann dessen bittere Armut teilt.

Bei jedem Besuch vergewissern sich die Schwestern voller Angst, dass in Mamikas Haus und in der Umgebung alles so geblieben ist, wie sie es kennen. Jedes Mal aber hat sich etwas verändert, und manches erklärt die Oma. Doch je mehr die jungen Mädchen von ihrer Familiengeschichte begreifen, desto rascher entgleitet ihnen die alte Heimat und um so stärker halten sie zusammen in der Schweiz. Um mit ihrer Schwester den Eltern in deren Caféteria zu helfen, vernachlässigt Ildikó sogar das Studium.

Die Kriege in Jugoslawien bringen das prekäre Familienidyll durcheinander. Die hilflose Sorge um die Verwandten - Angehörige der ungarischen Minderheit in der Vojvodina – erzeugt Konflikte. In der Caféteria geraten serbische und kroatische Angestellte aneinander. Auch Ildikós erste Liebe ist ausgerechnet ein geflohener Serbe, der den Eltern auf keinen Fall präsentiert werden kann. Und obendrein reagieren manche Schweizer feindselig auf die Einwanderer.

"Tauben fliegen auf" ist ein prägnant, mit großer Wärme und Stilsicherheit erzählter Roman. Anfangs pendelt die Erzählerin kapitelweise von der Schweiz in die Vojvodina. Später rückt, so wie es von ihr erlebt wird, die neue Heimat in den Vordergrund. Doch beide Stränge sind eng miteinander verflochten: Gegenwärtiges und Vergangenes, Wahrnehmung und Reflexion wechseln einander mitten im Satz ab. Zudem nähern zahllose Einschübe und Ergänzungen den Tonfall dieses Romans dem mündlichen Erzählen an.

Mancher Relativsatz wird dabei weit weg gerückt von dem, was er erklären soll, doch erstaunlicherweise leidet die Verständlichkeit nicht. Das Ergebnis ist ein dichtes Gewebe, das Satz für Satz das Bemühen ausdrückt, wieder zusammenzubinden, was ein für allemal auseinandergefallen ist.

Dasselbe Motiv regiert auch die Beziehungen der Figuren: Die Zuneigung der Familienmitglieder untereinander und das oft erstaunliche Verständnis füreinander entspringen auch einer Verlustangst.

Melinda Nadj Abonji zeigt – nicht anders als beim kapitelweisen Wechsel der Schauplätze, beim Aufbau der Sätze – beides, Zuneigung und Angst, und lässt klugerweise manches Geheimnis Geheimnis sein. Für schrille oder auch nur individualistische Töne ist bei solchen Vermittlungsversuchen kein Platz, und daher wird erst am Ende aus dem Auswandererroman, der zudem ein Familienroman ist, ein Bildungsroman: Ildikó befreit sich. "Tauben fliegen auf" ist ein ziemlich aussichtsreicher Anwärter auf den Deutschen Buchpreis.

Besprochen von Jörg Plath

Melinda Nadj Abonji: Tauben fliegen auf
Jung und Jung, Salzburg und Wien 2010
315 Seiten, 22 Euro