Die Kinder des Herrn Büchner
Die Regensburger Domspatzen haben einen harten Arbeitstag. Er beginnt um 6.30 Uhr mit einer Morgenandacht und endet nicht vor 19.30 Uhr. Doch trotz der Anstrengung wissen die Chorknaben die Vorteile ihrer Ausbildung im Domspatzeninternat zu schätzen.
6:30 Uhr. Verschlafen reibt sich Philipp F. die Augen. Er ist zehn Jahre alt, seit ein paar Monaten Regensburger Domspatz und schrecklich müde. Seinen drei Zimmerkameraden geht es nicht besser. Die vier verstrubbelten Buben wirken so früh am morgen sehr kindlich, fast rührend, wie sie noch immer schlaftrunken in ihre dicken Hosen und Pullis steigen. Zuhause würde ihnen jetzt die Mutter das Frühstück machen. Stattdessen mahnt Erzieherin Christine Eckert die Jungs, sich zu beeilen, gleich fängt die Morgenandacht an.
Mit schlurfenden Schritten und hochgezogenen Schultern strömen die Jungs der fünften bis achten Klassen in die eiskalte hauseigene Kapelle. Nur für die Unterstufe ist die Morgenandacht Pflicht. Von den älteren Schülern ist keiner anwesend. Aus den gleichmäßigen Reihen der 70 ungekämmten Bubenköpfe ragen nur die schwarzen Gewänder von vier Nonnen heraus. Als die Orgel das erste Lied intoniert, sind es ihre Stimmen, die man hört. So früh am Morgen sind auch Domspatzen noch nicht wirklich in Singlaune.
Philipp sitzt in der Bankmitte, um ihn herum seine Zimmerkumpels. Philipp ist gerne mittendrin. Er ist der Typ bayerischer Lausbub par excellence. Allerdings ist von seinem freundlich frechen Wesen an diesem Morgen noch nichts zu spüren. Der Kopf mit den dunkeln, sehr kurz geschnittenen Haaren hängt leicht nach vorne. Die großen braunen Augen blicken verschlafen. Die runden Backen sind gerötet. Noch ist er ganz leise.
"Immer wenn Hauskapelle ist, die viertel Stunde die brauch ich einfach. Ich weiß auch nicht, immer wenn Hauskapelle ist bin i total miad. Sonst nie."
Den Gottesdienst hält wie immer Internatsleiter Rainer Schinko. Schon seit jeher, das heißt seit dem Jahr 975, ist der Leiter der Domschule ein Geistlicher. Das war schon immer so – ein Satz, den Bayern lieben.
"Das hat in katholischen Häusern eine lange Tradition, dass man früher nüchtern natürlich in die Messe geht und wir haben diese Tradition beibehalten. Das Frühstück bringt immer eine gewisse Unruhe. Das ist die erste Möglichkeit sich auszutoben und wenn dann noch mal Ruhe und Stillsitzen, dann ist es schwierig. Also raus vom Bett in die Studierzeit, auch mit einem Morgengebet zu beginnen, das ist a ganz a guter Anfang, der sich auch bewährt hat. Es ist jetzt das erste Mal, das ich diese Idee jetzt höre, dass man das ändern könnten."
7.30 Uhr Frühstück im großen Speisesaal. Rund 200 Jungs stopfen in rasender Eile frische Semmeln mit Marmelade, Müsli oder Joghurt in sich hinein. Dabei schaffen sie es, einen ohrenbetäubenden Lärm zu veranstalten. An der Stirnseite des großen Raumes, etwas erhöht, sitzen an einer langen Tafel die Präfekten, einige weitere Erzieher laufen zwischen den Tischen Patrouille. Sie passen auf, dass ihre Schützlinge nicht übermütig werden. Laut sein ist okay, aufstehen oder Quatsch machen nicht. Wer über die Strenge schlägt, wird sofort ermahnt. Im Domspatzeninternat herrschen Ordnung und Disziplin. Philipp und die anderen Fünftklässler sitzen ganz vorne, so sind sie besser unter Kontrolle. Nach hastigen zehn Minuten haben die Jungs alles aufgegessen, warten darauf, dass ein Erzieher das Mikrofon ergreift und ein Gebet spricht. Ehe das Amen richtig verklungen ist, sprinten alle los, noch einmal toben, bevor die Arbeit los geht. Schule, Gesangstunde, Studierzeit, Chorprobe, Ministrantenunterricht – ein Tag im Domspatzeninternat ist durchgeplant wie der eines Managers.
Erst gegen acht Uhr wird es langsam leiser in dem riesigen Haus. Niemand rennt mehr durch die langen, verwinkelten Gänge, kein Knabe saust die unendlichen Treppen rauf und runter, Stille herrscht auch in den fünf Stockwerken des Rundbaus mit seinen vielen Schlafzimmern. Verweist der Speisesaal, die Studierzimmer, Bücherei, Fotolabor, Fernseh- und Computerräume, Tischtennis -, Kicker-, Fitness - und Billiardraum, das Schwimmbad, die Turnhalle, Kletterwand, Bolz-, Beachvolleyball- und Tennisplatz – das Domspatzeninternat hat mehr Infrastruktur zu bieten als eine durchschnittliche ostdeutsche Kleinstadt. Lediglich im großen Konzertsaal, sitzt Bernard Mallmann und übt Orgel.
Bernard macht nächstes Jahr Abitur. Wie alle Oberstufenschüler bewohnt er ein Einzelzimmer in einem extra Bau und hat heute morgen alleine gefrühstückt. Jetzt am Vormittag nutzt er eine Freistunde zum Musizieren. Domspatzen fangen in der fünften Klasse mit Geige oder Klavier an. Sobald die Knaben in den Stimmbruch kommen und die Chorproben wegfallen, können sie ein zweites Instrument lernen. Bernard hat sich für Orgel entschieden, um die ungewohnte Freizeit auszunutzen.
"Im ersten Moment war es schon irgendwie a Schlag. Weil man ist das so gewohnt Singstunde und dann Chor. Aber man ist dann doch ganz froh, wenn man jetzt dann mal zwei Jahre hat wo man sich mit seinen eigenen Interessen beschäftigen kann. Und jetzt aus späterer Sicht ist man wirklich froh, dass man die Zeit gehabt hat."
Niemand muss Bernard zum Üben anhalten. Neun Jahre ist er nun Domspatz. Die hauseigenen Regeln sind ihm in Fleisch und Blut übergegangen.
"Ich finde Ordnung und Disziplin ist eigentlich schon wichtig. Die Ordnung und Disziplin wird ja auch ein Charakter gebildet und man braucht das ja auch. Ohne das geht’s nicht. Wenn keiner da ist, der sagt mach das und das, dann funktioniert’s nicht. Es würde ja die ganze Institution nicht funktionieren, wenn nicht jemand da wäre, der sagen würde, da geht’s lang."
Bernards Klassenkameraden Floh, Michael und Jonas nutzen ihre Freistunde anders und rauchen gemütlich eine Wasserpfeife. Michael und Jonas sind fast die ältesten Jungs im Internat, sie haben ein oder zwei Ehrenrunden hinter sich. Weil ihnen irgendwann niemand mehr sagte, was sie zu tun und zu lassen hatten, haben sie es einfach gelassen. Das Lernen. Selber Schuld sagen sie heute und arbeiten wieder freiwillig. Auch das gehört zur Disziplin der Domspatzen. Jeder muss kapieren, dass er für sich und seine Leistung selbst verantwortlich ist. Jonas musste dafür sogar einen Umweg in Kauf nehmen:
"Ich bin in der neunten Klasse runter gegangen, weil es hier in der Schule nicht allzu super gelaufen ist und ich habe mir gedacht, schau ich mal auf ne gemischte Schule, ob das irgendwie lustiger ist mit Mädchen in der Klasse und so und weil ich dann auch Samstag frei habe und nicht jeden Abend so spät heim komme wegen dem Chor, weil ich dann auch wieder in den Chor gekommen bin. Ich bin dann zufällig in eine Klasse gekommen wo 21 Mädchen waren und zwei Jungs. Aber irgendwie hat mich der Zickenterror aufgeregt. Das war keine Klassengemeinschaft, sondern alle haben sich nur gegenseitig angezickt. Und die Lehrer waren komisch. Wenn man von denen mal privat was wissen wollte zum Stoff, dann hat’s nur geheißen, ja Buch. War irgendwie auf komische Weise viel mehr Stress als hier und da habe ich mir gedacht, nee, komm lieber wieder zurück."
Jonas Einzelzimmer sieht aus wie wahrscheinlich 90 Prozent aller Zimmer von jungen Männern: zwei Sofas, mit Glastisch davor, Computer auf dem Schreibtisch, leere Flaschen auf dem Schrank, "Herr der Ringe" - und andere Kinoposter an den Wänden. Es herrscht gemütliches Chaos. Natürlich, so erzählen die drei habe man mit dem Image "brave Chorbubis" zu kämpfen gehabt, aber irgendwann hatten dann alle kapiert, dass Domspatzen ganz normal seien. Nur die Regeln hier sind anders: Ausgang ist bis Mitternacht, Mädchen müssen angemeldet werden und das Haus bis 18 Uhr wieder verlassen haben. Alkohol darf nur in Form von Bier und nur in Maßen getrunken werden, rote Haare oder Dreadlocks sind unmöglich. Flo, der ein Piercing in der rechten Augenbraue trägt, findet das total okay.
"Ich werde gebeten es vor den Konzerten rauszunehmen. Weil es auch ältere Menschen gibt, die das nicht verstehen und die auch das Domspatzenimagebild noch im Kopf haben und das finde ich auch kein Problem, das verstehe ich auch. Ich mach’s einfach raus und dann hat sich das. Das schraubste raus und weg ist es."
Weg, das heißt fristlos entlassen, sind auch die vier Jungs, die in den Sommerferien zu Hause Haschisch geraucht hatten. Zu Hause wohlgemerkt.
"Das weiß man nicht, wie das raus gekommen ist, das ist ein Geheimnis von der Internatsleitung. Das hätte uns auch interessiert."
"Es gibt immer wieder Gespräche und dann läuft so manches, was dann gesagt wird.. ja. Nein, Verpfeifen nicht. Es gibt immer wieder Mitschüler, die sich um andere Mitschüler sorgen. Die wirklich sagen, der lernt schlecht, der schaut schlecht aus, schauen‘s da mal, der ist nachts lange auf. Die Domspatzen lernen schnell Verantwortung füreinander zu übernehmen. Das lernen sie im Chor. Ein Chor funktioniert nur, wenn alle am selben Strang ziehen. Im Gemeinschaftsleben, im Internat ist es ähnlich. Ein Internat kann nur funktionieren, wenn jedes Mitglied wirklich mitzieht, am selben Strang zieht und wenn dann ein Glied ausfällt, dann machen sich wirklich die Mitschüler auch Sorgen."
12.30 Mittagessen - und wieder veranstalten die Jungs einen Heidenlärm. Gebrüll und Musik – diese beiden Geräusche hört man im Domspatzeninternat häufiger. Und auch bei dieser Mahlzeit stopfen die Buben Fleisch, Kartoffeln und Gemüse rasend schnell in sich hinein. Denn nach dem Essen, vor der Studierzeit haben sie eine Stunde frei. Eine gute Gelegenheit zum erneuten Raufen. Diesmal stürzen sich fünf Jungs gleichzeitig auf Philipp. Der kleine Mann verteidigt sich eisern, ohne zu murren. Mitmachen gehört in einem Internat unbedingt dazu. Dass sich alle immer auf ihn werfen, findet Philipp nicht ungerecht.
"Nojooaaa, iiii hob scho, blos, die anderen, die sind hald dann weg. Ned alle, ned die fünf, die auf mir drauf hängen, da müssad eigentlich noch fünf auf meiner Seite geben. Auf einen von die anderen fünf drauf hängen. Des gfallt ma jetzt ungefähr so wie Mathestund. Die ist manchmal todlangweilig, die ist manchmal, wenn ma guat ausgschlofa is, schee."
Irgendwann haben alle genug gekämpft und überlegen, wie sie die Reporterin noch beeindrucken könnten. Mit Gebrüll und Musik natürlich. Womit sonst?
14 Uhr Gesangstunde bei Michaela Reiser. Der kleine Übungsraum mit dem Klavier in der Mitte und den bunten Kinderbildern an den Wänden kann die Stimmgewalt der Lehrerin kaum aufnehmen. Ein Mal die Woche kommt Philipp her, um für 20 Minuten zu lernen, was hier alle können, das Singen. Ein weiteres Mal hat er Blattsing-Unterricht. Vor Anstrengung steht der Junge ganz schief, zieht die Schultern hoch und runzelt die Augenbrauen. Man merkt ihm deutlich an, dass er es gut machen will. Geduldig korrigiert ihn seine Lehrerin, drückt ihm die Schultern sanft nach unten, schiebt den Bauch nach hinten und lockert sein Kinn. Jeder Domspatz wird von Anfang an stimmlich geschult. Musikalität, eine schöne Stimme und die Gymnasialreife sind die Voraussetzungen, um im Internat überhaupt aufgenommen zu werden. Die meisten Jungs hier haben vorher schon die hauseigene musikalische Früherziehung besucht. Seit ein paar Jahren gibt es im benachbarten Ort Pielenhofen sogar ein Internat für Grundschüler. Der Nachwuchs soll so früh wie möglich herangezogen werden. 400 Euro bezahlen die Eltern für ihre Jungs im Monat. In dem Betrag enthalten sind Schulgeld, Kost und Logis, Musik- und Gesangsunterricht und Wäsche waschen. Wer wenig Geld hat, kann bei Internatsleiter Rainer Schinko ein 50-Euro-Stipendium beantragen.
"400 Euro ist natürlich schon eine gewaltige Sache, aber auf der anderen Seite, wir sind eines der billigsten Internate insgesamt und allein, wenn man die musikalische Ausbildung sieht, die die Schüler bei uns erhalten, wäre das an einer Musikschule fast schon verbraucht. Wir sind ein Betrieb, der zuschussbedürftig ist. Gefördert werden wir natürlich von der Kirche hauptsächlich, die mit gut zwei Millionen Euro jährlich uns da bezuschusst. Lachen. Schon schön. Ja."
Das Domspatzeninternat unterscheidet sich nicht nur durch den Preis von anderen Privatschulen, sondern auch durch die Auswahl der Schüler. Wer hier her kommt, muss in der Regel eine schöne Stimme und Spaß am Singen haben, sonst wird er erstens nicht genommen und hält zweitens den Stress nicht durch. Das Klischee von den überarbeiteten Eltern, die ihren unfähigen Nachwuchs ins Internat abschieben, gilt nicht. Die Kinder kommen freiwillig. Auch Philipp wollte unbedingt her. Sein Bruder ist bereits seit einem Jahr Domspatz und den hat er schrecklich vermisst:
"Also erstens i hab Daheim immer Zeitlang noch meim Bruder ghabt. Zweitens, mei also, wenn i aufs Gymnasium müsste, dann müsste i halt um sechs aufstehen, damit i mim Zug ind Stadt fahr. Da gabs jetzt nur drei Möglichkeiten, erstens aufd Hauptschule, zweitens um sechs aufstehen oder drittens des. Hab ich des gnommen. Ja mei guat, weil mei Bruder da ist sowieso. Ja mei, weil ma da holt mehr lernt."
Mehr lernt und mehr singt. Noch ist Philipp in einem der beiden hauseigenen Nachwuchschöre. Erst wenn er richtig gut geworden ist, darf er vielleicht in den ersten Chor, den sogenannten Konzertchor aufsteigen. Und nur mit dem könnte er dann auf Reisen gehen und CDs aufnehmen. Bislang muss sich Philipp mit kleineren Auftritten in Kirchen und bei diversen Feiern und offiziellen Anlässen begnügen. So einen richtigen Riesenspaß macht ihm das Singen noch nicht.
"Jo, Riesenspaß, hmm, jo, kimmt drauf a, was ma singen. Wenn’s jetzt so was Langsames ist wie O nata lux, des gfallt mir ned so. Aber Jubilate Deo vom Judasch des gfallt mir besser."
Und was ist mit Popmusik?
"Nana, des gfallt mir überhaupt ned."
Konzertchor?
"Ja, erstens des is no lang hie. Zweitens jetzt is mir des no einigermoßen egal, aber auf das sprech i scho no an. Des kimmt dann scho no."
17 Uhr Probe des Konzertchores. Mit durchgedrücktem, geraden Rücken sitzt Bernard an der vordersten Stuhlkante. Über die Schultern seines Vordermannes blickt er in die Noten, die dieser hält. Immer drei Domspatzen teilen sich eine Partitur. Nicht aus Kostengründen, sondern weil die Sänger so gezwungen sind, die Stücke teilweise auswendig zu lernen und besser aufeinander zu hören. Wenn gerade die anderen Stimmen proben, kann Bernard seinen Blick in dem großen Saal mit dem hohen Giebeldach, dem schwarzen Flügel und den baumartigen Zimmerpflanzen umherschweifen lassen, kann aus dem Fenster blicken bis hin zu den beiden Türmen des Regensburger Domes. Eine sehr symbolische Sicht, denn schließlich ist der Hauptzweck des Chores die musikalische Umrahmung der Gottesdienste dort. Heute proben die 80 Knaben- und Männerstimmen für das Weihnachtsprogramm. Alle Sänger sind hoch konzentriert, niemand tuschelt oder kaspert herum. Im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit steht Domkapellmeister Roland Büchner. Wie ein Alleinunterhalter rennt der 60-Jährige vorne hin und her, gibt Töne am Klavier an, singt vor, kritisiert, lässt wiederholen und lobt. Für ihn gibt der Chor alles und er alles für den Chor. Mittelmaß ist nicht drin.
"Ich spür auch immer wieder, wenn ich das drei, vier Mal mache, dass ich, sagen wir mal, schlampe, dann werden se sauer wie abgestandene Milch. Das ist so. Und dann spüre ich selber auch, hoppla jetzt aber ran. Und dann krieg ich das wieder zurück und das ist ganz toll. Ohh, das war aber cool oder das war eine geile Probe heute wow. Und sie gehen aus der Probe raus und singen weiter und man hört durchs ganze Haus irgendwelche Hallelujas schallen oder irgendwelche Amens und das freut mich ungemein. Lachen."
Roland Büchner ist gerne Chorleiter, liebt seine Sänger. Das merkt man dem Mann an. Probleme wie sein Kollege im bayerischen Winsbacher Knabenchor sind Büchner fremd. Dem Winsbacher wird von den Eltern vorgeworfen, er drangsaliere die Kinder und quäle sie für eine bessere Leistung. Büchner redet lieber wie ein Vater mit seinen Buben, sagt er.
"Es gibt schon auch mal, dass man im Eifer des Gefechts- man steht auch selber unter Stress- dann kommt ein Konzert und dann steht das Stück noch nicht so toll und man gibt den Druck dann auch weiter. Das ist wie überall. Wenn ich das spüre, macht es mir auch gar nichts aus, einen Buben, den ich vielleicht verletzt habe, nachher zu mir zu holen und zu sagen, du das war so nicht gemeint, du weißt wie das zu nehmen ist. Wenn ich spür, da ist jetzt was passiert, ist es kein Problem für mich, mich zu entschuldigen."
Domkapellmeister Büchner war selbst kein Domspatz, obwohl er es für sein Leben gerne geworden wäre. Seine Mutter wollte den Zehnjährigen nicht von zu Hause weg in ein Internat geben. Dafür durfte Büchners ältester Sohn herkommen, der zweite war leider nicht gut genug in der Schule. Schon als kleiner Junge hat Büchner selbst in einem Chor gesungen, schon damals war er fasziniert von dem großartigen Erlebnis Musik, das er heute an seine Schüler weiter gibt.
"Wenn hier jemand rein kommt spürt er vom ersten Tag an, wenn er im Chor drin ist, dieses große Gemeinschaftserlebnis. Dieses Schöne am Klang, dieses Klangerlebnis, das sie bindet. Dann ist das, was ich mit der Leistungsbereitschaft beschrieben habe, sehr schnell zu wecken bei dem einzelnen. Dass man sagt, komm, du kannst das doch, du willst das doch und es geht eigentlich automatisch."
19.30 Uhr Ministrantenunterricht. Der Tag im Internat ist auch für die Kleinen noch nicht zu Ende. Gemeinsam mit seinen Kumpels übt Philipp in der Kapelle Schritte, Verbeugungen und Handhabungen beim Ministrieren. Zwölfeinhalb Stunden dauert sein Tag nun schon. Von Müdigkeit und Lustlosigkeit keine Spur. Erstaunlich. Aber schließlich wollte Philipp her und außerdem machen seine Freunde den Stress ja auch mit. Alle sind daran gewöhnt von morgens bis abends alles zu geben. Und dann sagt mal wieder einer so einen Domspatzensatz.
"Dass man zum Beispiel, wenn man jetzt Ministrant ist, dass man auch zuverlässig zu den Proben kommt und zu den Gottesdiensten und dass man das nicht als Muss empfindet, sondern als Dürfen, weil man es ja freiwillig macht. – Sehr schön. Das wäre mir eine Freude, wenn es bei jedem so wäre."
So ganz ernst können die Jungs solche Sätze dann doch nicht nehmen. Auch ihren Ministrantenunterricht haben sie in der Sekunde vergessen, wo sie die Kapelle verlassen, wie immer lärmend durch die schon dunklen Gänge bis zum Schlaftrakt rasen und dort nahtlos zu ihrer eigentlichen Lieblingstätigkeit übergehen: dem Raufen.
An Weihnachten werden Bernard und die anderen Abiturienten ihr letztes Konzert singen. Anschießend müssen sie sich auf ihre Prüfungen vorbereiten. Im Sommer werden sie die Welt der Domspatzen endgültig verlassen.
"Natürlich bin ich jetzt froh, dass dann die ganzen Singstunden und Konzertreisen wegfallen, weil man hat dann einfach mehr Zeit, die einem jetzt abgeht. Aber in meiner Heimatpfarrei spekulieren schon alle darauf, dass ich in den Kirchenchor gehe."
"Das ist immer eine ganz bewegende Feier, wenn dann die Absolvia endgültig verabschiedet wird. Da gibt es fürchterlich viele Tränen. Ich lass mir es oft nicht so anmerken oder schau, dass ich möglichst schnell weg komm, um nicht auch überwältigt zu werden von dem. Mir selbst kommen auch, wenn ich sie so vor der ganzen Schulgemeinschaft anspreche, da gibt’s schon manchen Kloß im Hals."
Mit schlurfenden Schritten und hochgezogenen Schultern strömen die Jungs der fünften bis achten Klassen in die eiskalte hauseigene Kapelle. Nur für die Unterstufe ist die Morgenandacht Pflicht. Von den älteren Schülern ist keiner anwesend. Aus den gleichmäßigen Reihen der 70 ungekämmten Bubenköpfe ragen nur die schwarzen Gewänder von vier Nonnen heraus. Als die Orgel das erste Lied intoniert, sind es ihre Stimmen, die man hört. So früh am Morgen sind auch Domspatzen noch nicht wirklich in Singlaune.
Philipp sitzt in der Bankmitte, um ihn herum seine Zimmerkumpels. Philipp ist gerne mittendrin. Er ist der Typ bayerischer Lausbub par excellence. Allerdings ist von seinem freundlich frechen Wesen an diesem Morgen noch nichts zu spüren. Der Kopf mit den dunkeln, sehr kurz geschnittenen Haaren hängt leicht nach vorne. Die großen braunen Augen blicken verschlafen. Die runden Backen sind gerötet. Noch ist er ganz leise.
"Immer wenn Hauskapelle ist, die viertel Stunde die brauch ich einfach. Ich weiß auch nicht, immer wenn Hauskapelle ist bin i total miad. Sonst nie."
Den Gottesdienst hält wie immer Internatsleiter Rainer Schinko. Schon seit jeher, das heißt seit dem Jahr 975, ist der Leiter der Domschule ein Geistlicher. Das war schon immer so – ein Satz, den Bayern lieben.
"Das hat in katholischen Häusern eine lange Tradition, dass man früher nüchtern natürlich in die Messe geht und wir haben diese Tradition beibehalten. Das Frühstück bringt immer eine gewisse Unruhe. Das ist die erste Möglichkeit sich auszutoben und wenn dann noch mal Ruhe und Stillsitzen, dann ist es schwierig. Also raus vom Bett in die Studierzeit, auch mit einem Morgengebet zu beginnen, das ist a ganz a guter Anfang, der sich auch bewährt hat. Es ist jetzt das erste Mal, das ich diese Idee jetzt höre, dass man das ändern könnten."
7.30 Uhr Frühstück im großen Speisesaal. Rund 200 Jungs stopfen in rasender Eile frische Semmeln mit Marmelade, Müsli oder Joghurt in sich hinein. Dabei schaffen sie es, einen ohrenbetäubenden Lärm zu veranstalten. An der Stirnseite des großen Raumes, etwas erhöht, sitzen an einer langen Tafel die Präfekten, einige weitere Erzieher laufen zwischen den Tischen Patrouille. Sie passen auf, dass ihre Schützlinge nicht übermütig werden. Laut sein ist okay, aufstehen oder Quatsch machen nicht. Wer über die Strenge schlägt, wird sofort ermahnt. Im Domspatzeninternat herrschen Ordnung und Disziplin. Philipp und die anderen Fünftklässler sitzen ganz vorne, so sind sie besser unter Kontrolle. Nach hastigen zehn Minuten haben die Jungs alles aufgegessen, warten darauf, dass ein Erzieher das Mikrofon ergreift und ein Gebet spricht. Ehe das Amen richtig verklungen ist, sprinten alle los, noch einmal toben, bevor die Arbeit los geht. Schule, Gesangstunde, Studierzeit, Chorprobe, Ministrantenunterricht – ein Tag im Domspatzeninternat ist durchgeplant wie der eines Managers.
Erst gegen acht Uhr wird es langsam leiser in dem riesigen Haus. Niemand rennt mehr durch die langen, verwinkelten Gänge, kein Knabe saust die unendlichen Treppen rauf und runter, Stille herrscht auch in den fünf Stockwerken des Rundbaus mit seinen vielen Schlafzimmern. Verweist der Speisesaal, die Studierzimmer, Bücherei, Fotolabor, Fernseh- und Computerräume, Tischtennis -, Kicker-, Fitness - und Billiardraum, das Schwimmbad, die Turnhalle, Kletterwand, Bolz-, Beachvolleyball- und Tennisplatz – das Domspatzeninternat hat mehr Infrastruktur zu bieten als eine durchschnittliche ostdeutsche Kleinstadt. Lediglich im großen Konzertsaal, sitzt Bernard Mallmann und übt Orgel.
Bernard macht nächstes Jahr Abitur. Wie alle Oberstufenschüler bewohnt er ein Einzelzimmer in einem extra Bau und hat heute morgen alleine gefrühstückt. Jetzt am Vormittag nutzt er eine Freistunde zum Musizieren. Domspatzen fangen in der fünften Klasse mit Geige oder Klavier an. Sobald die Knaben in den Stimmbruch kommen und die Chorproben wegfallen, können sie ein zweites Instrument lernen. Bernard hat sich für Orgel entschieden, um die ungewohnte Freizeit auszunutzen.
"Im ersten Moment war es schon irgendwie a Schlag. Weil man ist das so gewohnt Singstunde und dann Chor. Aber man ist dann doch ganz froh, wenn man jetzt dann mal zwei Jahre hat wo man sich mit seinen eigenen Interessen beschäftigen kann. Und jetzt aus späterer Sicht ist man wirklich froh, dass man die Zeit gehabt hat."
Niemand muss Bernard zum Üben anhalten. Neun Jahre ist er nun Domspatz. Die hauseigenen Regeln sind ihm in Fleisch und Blut übergegangen.
"Ich finde Ordnung und Disziplin ist eigentlich schon wichtig. Die Ordnung und Disziplin wird ja auch ein Charakter gebildet und man braucht das ja auch. Ohne das geht’s nicht. Wenn keiner da ist, der sagt mach das und das, dann funktioniert’s nicht. Es würde ja die ganze Institution nicht funktionieren, wenn nicht jemand da wäre, der sagen würde, da geht’s lang."
Bernards Klassenkameraden Floh, Michael und Jonas nutzen ihre Freistunde anders und rauchen gemütlich eine Wasserpfeife. Michael und Jonas sind fast die ältesten Jungs im Internat, sie haben ein oder zwei Ehrenrunden hinter sich. Weil ihnen irgendwann niemand mehr sagte, was sie zu tun und zu lassen hatten, haben sie es einfach gelassen. Das Lernen. Selber Schuld sagen sie heute und arbeiten wieder freiwillig. Auch das gehört zur Disziplin der Domspatzen. Jeder muss kapieren, dass er für sich und seine Leistung selbst verantwortlich ist. Jonas musste dafür sogar einen Umweg in Kauf nehmen:
"Ich bin in der neunten Klasse runter gegangen, weil es hier in der Schule nicht allzu super gelaufen ist und ich habe mir gedacht, schau ich mal auf ne gemischte Schule, ob das irgendwie lustiger ist mit Mädchen in der Klasse und so und weil ich dann auch Samstag frei habe und nicht jeden Abend so spät heim komme wegen dem Chor, weil ich dann auch wieder in den Chor gekommen bin. Ich bin dann zufällig in eine Klasse gekommen wo 21 Mädchen waren und zwei Jungs. Aber irgendwie hat mich der Zickenterror aufgeregt. Das war keine Klassengemeinschaft, sondern alle haben sich nur gegenseitig angezickt. Und die Lehrer waren komisch. Wenn man von denen mal privat was wissen wollte zum Stoff, dann hat’s nur geheißen, ja Buch. War irgendwie auf komische Weise viel mehr Stress als hier und da habe ich mir gedacht, nee, komm lieber wieder zurück."
Jonas Einzelzimmer sieht aus wie wahrscheinlich 90 Prozent aller Zimmer von jungen Männern: zwei Sofas, mit Glastisch davor, Computer auf dem Schreibtisch, leere Flaschen auf dem Schrank, "Herr der Ringe" - und andere Kinoposter an den Wänden. Es herrscht gemütliches Chaos. Natürlich, so erzählen die drei habe man mit dem Image "brave Chorbubis" zu kämpfen gehabt, aber irgendwann hatten dann alle kapiert, dass Domspatzen ganz normal seien. Nur die Regeln hier sind anders: Ausgang ist bis Mitternacht, Mädchen müssen angemeldet werden und das Haus bis 18 Uhr wieder verlassen haben. Alkohol darf nur in Form von Bier und nur in Maßen getrunken werden, rote Haare oder Dreadlocks sind unmöglich. Flo, der ein Piercing in der rechten Augenbraue trägt, findet das total okay.
"Ich werde gebeten es vor den Konzerten rauszunehmen. Weil es auch ältere Menschen gibt, die das nicht verstehen und die auch das Domspatzenimagebild noch im Kopf haben und das finde ich auch kein Problem, das verstehe ich auch. Ich mach’s einfach raus und dann hat sich das. Das schraubste raus und weg ist es."
Weg, das heißt fristlos entlassen, sind auch die vier Jungs, die in den Sommerferien zu Hause Haschisch geraucht hatten. Zu Hause wohlgemerkt.
"Das weiß man nicht, wie das raus gekommen ist, das ist ein Geheimnis von der Internatsleitung. Das hätte uns auch interessiert."
"Es gibt immer wieder Gespräche und dann läuft so manches, was dann gesagt wird.. ja. Nein, Verpfeifen nicht. Es gibt immer wieder Mitschüler, die sich um andere Mitschüler sorgen. Die wirklich sagen, der lernt schlecht, der schaut schlecht aus, schauen‘s da mal, der ist nachts lange auf. Die Domspatzen lernen schnell Verantwortung füreinander zu übernehmen. Das lernen sie im Chor. Ein Chor funktioniert nur, wenn alle am selben Strang ziehen. Im Gemeinschaftsleben, im Internat ist es ähnlich. Ein Internat kann nur funktionieren, wenn jedes Mitglied wirklich mitzieht, am selben Strang zieht und wenn dann ein Glied ausfällt, dann machen sich wirklich die Mitschüler auch Sorgen."
12.30 Mittagessen - und wieder veranstalten die Jungs einen Heidenlärm. Gebrüll und Musik – diese beiden Geräusche hört man im Domspatzeninternat häufiger. Und auch bei dieser Mahlzeit stopfen die Buben Fleisch, Kartoffeln und Gemüse rasend schnell in sich hinein. Denn nach dem Essen, vor der Studierzeit haben sie eine Stunde frei. Eine gute Gelegenheit zum erneuten Raufen. Diesmal stürzen sich fünf Jungs gleichzeitig auf Philipp. Der kleine Mann verteidigt sich eisern, ohne zu murren. Mitmachen gehört in einem Internat unbedingt dazu. Dass sich alle immer auf ihn werfen, findet Philipp nicht ungerecht.
"Nojooaaa, iiii hob scho, blos, die anderen, die sind hald dann weg. Ned alle, ned die fünf, die auf mir drauf hängen, da müssad eigentlich noch fünf auf meiner Seite geben. Auf einen von die anderen fünf drauf hängen. Des gfallt ma jetzt ungefähr so wie Mathestund. Die ist manchmal todlangweilig, die ist manchmal, wenn ma guat ausgschlofa is, schee."
Irgendwann haben alle genug gekämpft und überlegen, wie sie die Reporterin noch beeindrucken könnten. Mit Gebrüll und Musik natürlich. Womit sonst?
14 Uhr Gesangstunde bei Michaela Reiser. Der kleine Übungsraum mit dem Klavier in der Mitte und den bunten Kinderbildern an den Wänden kann die Stimmgewalt der Lehrerin kaum aufnehmen. Ein Mal die Woche kommt Philipp her, um für 20 Minuten zu lernen, was hier alle können, das Singen. Ein weiteres Mal hat er Blattsing-Unterricht. Vor Anstrengung steht der Junge ganz schief, zieht die Schultern hoch und runzelt die Augenbrauen. Man merkt ihm deutlich an, dass er es gut machen will. Geduldig korrigiert ihn seine Lehrerin, drückt ihm die Schultern sanft nach unten, schiebt den Bauch nach hinten und lockert sein Kinn. Jeder Domspatz wird von Anfang an stimmlich geschult. Musikalität, eine schöne Stimme und die Gymnasialreife sind die Voraussetzungen, um im Internat überhaupt aufgenommen zu werden. Die meisten Jungs hier haben vorher schon die hauseigene musikalische Früherziehung besucht. Seit ein paar Jahren gibt es im benachbarten Ort Pielenhofen sogar ein Internat für Grundschüler. Der Nachwuchs soll so früh wie möglich herangezogen werden. 400 Euro bezahlen die Eltern für ihre Jungs im Monat. In dem Betrag enthalten sind Schulgeld, Kost und Logis, Musik- und Gesangsunterricht und Wäsche waschen. Wer wenig Geld hat, kann bei Internatsleiter Rainer Schinko ein 50-Euro-Stipendium beantragen.
"400 Euro ist natürlich schon eine gewaltige Sache, aber auf der anderen Seite, wir sind eines der billigsten Internate insgesamt und allein, wenn man die musikalische Ausbildung sieht, die die Schüler bei uns erhalten, wäre das an einer Musikschule fast schon verbraucht. Wir sind ein Betrieb, der zuschussbedürftig ist. Gefördert werden wir natürlich von der Kirche hauptsächlich, die mit gut zwei Millionen Euro jährlich uns da bezuschusst. Lachen. Schon schön. Ja."
Das Domspatzeninternat unterscheidet sich nicht nur durch den Preis von anderen Privatschulen, sondern auch durch die Auswahl der Schüler. Wer hier her kommt, muss in der Regel eine schöne Stimme und Spaß am Singen haben, sonst wird er erstens nicht genommen und hält zweitens den Stress nicht durch. Das Klischee von den überarbeiteten Eltern, die ihren unfähigen Nachwuchs ins Internat abschieben, gilt nicht. Die Kinder kommen freiwillig. Auch Philipp wollte unbedingt her. Sein Bruder ist bereits seit einem Jahr Domspatz und den hat er schrecklich vermisst:
"Also erstens i hab Daheim immer Zeitlang noch meim Bruder ghabt. Zweitens, mei also, wenn i aufs Gymnasium müsste, dann müsste i halt um sechs aufstehen, damit i mim Zug ind Stadt fahr. Da gabs jetzt nur drei Möglichkeiten, erstens aufd Hauptschule, zweitens um sechs aufstehen oder drittens des. Hab ich des gnommen. Ja mei guat, weil mei Bruder da ist sowieso. Ja mei, weil ma da holt mehr lernt."
Mehr lernt und mehr singt. Noch ist Philipp in einem der beiden hauseigenen Nachwuchschöre. Erst wenn er richtig gut geworden ist, darf er vielleicht in den ersten Chor, den sogenannten Konzertchor aufsteigen. Und nur mit dem könnte er dann auf Reisen gehen und CDs aufnehmen. Bislang muss sich Philipp mit kleineren Auftritten in Kirchen und bei diversen Feiern und offiziellen Anlässen begnügen. So einen richtigen Riesenspaß macht ihm das Singen noch nicht.
"Jo, Riesenspaß, hmm, jo, kimmt drauf a, was ma singen. Wenn’s jetzt so was Langsames ist wie O nata lux, des gfallt mir ned so. Aber Jubilate Deo vom Judasch des gfallt mir besser."
Und was ist mit Popmusik?
"Nana, des gfallt mir überhaupt ned."
Konzertchor?
"Ja, erstens des is no lang hie. Zweitens jetzt is mir des no einigermoßen egal, aber auf das sprech i scho no an. Des kimmt dann scho no."
17 Uhr Probe des Konzertchores. Mit durchgedrücktem, geraden Rücken sitzt Bernard an der vordersten Stuhlkante. Über die Schultern seines Vordermannes blickt er in die Noten, die dieser hält. Immer drei Domspatzen teilen sich eine Partitur. Nicht aus Kostengründen, sondern weil die Sänger so gezwungen sind, die Stücke teilweise auswendig zu lernen und besser aufeinander zu hören. Wenn gerade die anderen Stimmen proben, kann Bernard seinen Blick in dem großen Saal mit dem hohen Giebeldach, dem schwarzen Flügel und den baumartigen Zimmerpflanzen umherschweifen lassen, kann aus dem Fenster blicken bis hin zu den beiden Türmen des Regensburger Domes. Eine sehr symbolische Sicht, denn schließlich ist der Hauptzweck des Chores die musikalische Umrahmung der Gottesdienste dort. Heute proben die 80 Knaben- und Männerstimmen für das Weihnachtsprogramm. Alle Sänger sind hoch konzentriert, niemand tuschelt oder kaspert herum. Im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit steht Domkapellmeister Roland Büchner. Wie ein Alleinunterhalter rennt der 60-Jährige vorne hin und her, gibt Töne am Klavier an, singt vor, kritisiert, lässt wiederholen und lobt. Für ihn gibt der Chor alles und er alles für den Chor. Mittelmaß ist nicht drin.
"Ich spür auch immer wieder, wenn ich das drei, vier Mal mache, dass ich, sagen wir mal, schlampe, dann werden se sauer wie abgestandene Milch. Das ist so. Und dann spüre ich selber auch, hoppla jetzt aber ran. Und dann krieg ich das wieder zurück und das ist ganz toll. Ohh, das war aber cool oder das war eine geile Probe heute wow. Und sie gehen aus der Probe raus und singen weiter und man hört durchs ganze Haus irgendwelche Hallelujas schallen oder irgendwelche Amens und das freut mich ungemein. Lachen."
Roland Büchner ist gerne Chorleiter, liebt seine Sänger. Das merkt man dem Mann an. Probleme wie sein Kollege im bayerischen Winsbacher Knabenchor sind Büchner fremd. Dem Winsbacher wird von den Eltern vorgeworfen, er drangsaliere die Kinder und quäle sie für eine bessere Leistung. Büchner redet lieber wie ein Vater mit seinen Buben, sagt er.
"Es gibt schon auch mal, dass man im Eifer des Gefechts- man steht auch selber unter Stress- dann kommt ein Konzert und dann steht das Stück noch nicht so toll und man gibt den Druck dann auch weiter. Das ist wie überall. Wenn ich das spüre, macht es mir auch gar nichts aus, einen Buben, den ich vielleicht verletzt habe, nachher zu mir zu holen und zu sagen, du das war so nicht gemeint, du weißt wie das zu nehmen ist. Wenn ich spür, da ist jetzt was passiert, ist es kein Problem für mich, mich zu entschuldigen."
Domkapellmeister Büchner war selbst kein Domspatz, obwohl er es für sein Leben gerne geworden wäre. Seine Mutter wollte den Zehnjährigen nicht von zu Hause weg in ein Internat geben. Dafür durfte Büchners ältester Sohn herkommen, der zweite war leider nicht gut genug in der Schule. Schon als kleiner Junge hat Büchner selbst in einem Chor gesungen, schon damals war er fasziniert von dem großartigen Erlebnis Musik, das er heute an seine Schüler weiter gibt.
"Wenn hier jemand rein kommt spürt er vom ersten Tag an, wenn er im Chor drin ist, dieses große Gemeinschaftserlebnis. Dieses Schöne am Klang, dieses Klangerlebnis, das sie bindet. Dann ist das, was ich mit der Leistungsbereitschaft beschrieben habe, sehr schnell zu wecken bei dem einzelnen. Dass man sagt, komm, du kannst das doch, du willst das doch und es geht eigentlich automatisch."
19.30 Uhr Ministrantenunterricht. Der Tag im Internat ist auch für die Kleinen noch nicht zu Ende. Gemeinsam mit seinen Kumpels übt Philipp in der Kapelle Schritte, Verbeugungen und Handhabungen beim Ministrieren. Zwölfeinhalb Stunden dauert sein Tag nun schon. Von Müdigkeit und Lustlosigkeit keine Spur. Erstaunlich. Aber schließlich wollte Philipp her und außerdem machen seine Freunde den Stress ja auch mit. Alle sind daran gewöhnt von morgens bis abends alles zu geben. Und dann sagt mal wieder einer so einen Domspatzensatz.
"Dass man zum Beispiel, wenn man jetzt Ministrant ist, dass man auch zuverlässig zu den Proben kommt und zu den Gottesdiensten und dass man das nicht als Muss empfindet, sondern als Dürfen, weil man es ja freiwillig macht. – Sehr schön. Das wäre mir eine Freude, wenn es bei jedem so wäre."
So ganz ernst können die Jungs solche Sätze dann doch nicht nehmen. Auch ihren Ministrantenunterricht haben sie in der Sekunde vergessen, wo sie die Kapelle verlassen, wie immer lärmend durch die schon dunklen Gänge bis zum Schlaftrakt rasen und dort nahtlos zu ihrer eigentlichen Lieblingstätigkeit übergehen: dem Raufen.
An Weihnachten werden Bernard und die anderen Abiturienten ihr letztes Konzert singen. Anschießend müssen sie sich auf ihre Prüfungen vorbereiten. Im Sommer werden sie die Welt der Domspatzen endgültig verlassen.
"Natürlich bin ich jetzt froh, dass dann die ganzen Singstunden und Konzertreisen wegfallen, weil man hat dann einfach mehr Zeit, die einem jetzt abgeht. Aber in meiner Heimatpfarrei spekulieren schon alle darauf, dass ich in den Kirchenchor gehe."
"Das ist immer eine ganz bewegende Feier, wenn dann die Absolvia endgültig verabschiedet wird. Da gibt es fürchterlich viele Tränen. Ich lass mir es oft nicht so anmerken oder schau, dass ich möglichst schnell weg komm, um nicht auch überwältigt zu werden von dem. Mir selbst kommen auch, wenn ich sie so vor der ganzen Schulgemeinschaft anspreche, da gibt’s schon manchen Kloß im Hals."