Die Kinder der Pizzabäcker
Ihre Eltern sind Pizzabäcker, Arbeitslose oder Hilfsarbeiter und sprechen bis heute noch nicht gut deutsch. Um Hilfe in der Schule brauchen die Kinder nicht zu fragen. Oft ist deshalb der Weg für den Nachwuchs der Migrantenfamilien vorgezeichnet: Die meisten schaffen gerade die Hauptschule, nur fünf Prozent machen Abitur. Das will das Start-Stipendium für Migrantenkinder ändern, zum zweiten Mal wurde es jetzt in Mecklenburg-Vorpommern vergeben.
"Man glaubt einfach nicht an uns. Und das ist mit dem Stipendium für mich ein echt gutes Zeichen zu zeigen, dass es echt auch Migranten gibt, die auch was drauf haben und die es hier schaffen können. Und das ist eigentlich auch mein Ziel: Zu zeigen, dass ich es als Migrant hier schaffen kann."
Es könnte eine Schulentlassungsfeier sein: Fein herausgeputzte Jugendliche, aufgeregte Eltern, rote Rosen und feierliche Musik. Ein kleiner, grauhaariger Herr tritt auf die Bühne und erzählt, dass er aus einer türkischen Arbeiterfamilie kommt und dass keiner an ihn glaubte, als er ein Kind war. Dass seine Lehrer ihn nicht ans Gymnasium lassen wollten und dass er es dennoch schaffte. Bis zur Promotion. Irgendwann wollte sich dann Dr. Kenan Önen nicht mehr damit zufrieden geben, dass nur fünf Prozent aller Migrantenkinder in Deutschland das Abitur ablegen. Gemeinsam mit der Hertie-Stiftung in Hessen rief er vor sechs Jahren das Start-Programm ins Leben, das Schülerstipendien an begabte Zuwandererkinder vergibt. 500 Jugendliche aus 60 Nationen werden bundesweit gefördert. Elf davon kommen aus Mecklenburg-Vorpommern. Heute bekommen sie ihre Stipendien.
Ben Li, der junge Posaunist aus China, spielt im Bundesjugendsinfonieorchester, Jeshurun aus Sri Lanka ist Landesmeister im Schach, Lisaweta aus Moldawien gewann einen Comedy-Wettbewerb in Berlin, andere die Matheolympiade oder Englisch-Wettbewerbe. Sie sind Klassensprecher, manchmal Klassenbeste, einige haben Klassen übersprungen, andere geben Nachhilfeunterricht für ihre deutschen Mitschüler. Sie sind das exakte Gegenteil dessen, was manche in Deutschland sich unter dem Wort "Migrantenkinder" vorstellen. Sie sind die Kinder der Pizzabäcker und Hilfsarbeiter, die es schaffen wollen. Die eben nicht die "Problemkinder" sind.
"Die widerlegen dieses Vorurteil. Auch das, was jetzt in der momentanen Debatte ist: Jugendliche Migranten als Kriminelle oder vorwiegend kriminelle Täter. Das ist natürlich ein ungerechtes und einseitiges Bild. Und diese Kinder und jungen Menschen widerlegen das und zeigen, dass sie vorbildhaft sind und auch andere mitziehen können."
Dr. Dorothea Rother ist die Landeskoordinatorin für das Start-Programm in Mecklenburg-Vorpommern. Neben einem monatlichen Bildungsgeld von 100 Euro, einem Laptop und einem Internetanschluss gehört ein anspruchsvolles Bildungsprogramm zur Förderung der Stipendiaten. Und so organisiert die Lehrerin aus Waren/Müritz Bildungsseminare und Work-Shops, Theater-, Museums- und Firmenbesuche. Den Unterschied der Stipendiaten zu ihren deutschen Mitschülern beschreibt die Latein- und Religionslehrerin so.
"Es ist einfach – ich will’s mal so bezeichnen – ein anderer Absättigungsgrad bei unseren Jugendlichen als dort. Hier bei den Stipendiaten ist einfach das unbedingte Wollen: Ich möchte es schaffen. Und auch: Ich möchte nicht enttäuschen, was meine Eltern erwarten. Das ist ein ganz großer Faktor. Meine Eltern haben so viel aufgegeben für mich und jetzt möchte ich das auch zurückgeben. Das beeindruckt mich bei diesen Jugendlichen ganz besonders."
Die jüngste Mecklenburger Stipendiatin kommt aus Dorothea Rothers Schule, dem Warener Richard-Wossidlo-Gymnasium. Es ist die 14-jährige Benita aus Nigeria.
Ibo, ihre Muttersprache, kann Benita nur noch verstehen, aber kaum noch sprechen. Ab und an singt ihr die Mutter ein Lied auf Ibo vor, damit sie die Sprache nicht ganz vergisst. Benita war sechs, als die Familie nach Deutschland kam.
"Wir sind aus Nigeria geflohen, weil wir von Muslimen verfolgt wurden. Mein Vater war in Nigeria Pastor. Es wurde ein Anschlag auf unser Haus verübt und wir sind noch in der Nacht geflüchtet. Ohne gar nichts, nur das, was wir hatten und haben das Nötigste zusammengerafft von Verwandten und sind dann hier rüber, nach Deutschland."
Zentralstelle für Asylbewerber in Horst, ein gefängnisartiger Bau im Westen Mecklenburgs, Asylheim in Waren, die ganze Familie jahrelang auf einem Zimmer, für Schularbeiten keine sehr förderliche Atmosphäre - Benita hat durch, was die meisten Migrantenkinder durchhaben. Vielleicht hatte sie es aber besonders schwer, denn sie war das einzige dunkelhäutige Mädchen in ihrer Schule – und ist es bis heute.
"Die Grundschulzeit war ’ne schwere Zeit für mich. Weil meine Mitschüler nicht damit umgehen konnten, dass ich eine andere Hautfarbe habe und ihre Sprache nicht sprechen konnte. Ich hatte auch Angst, dass ich was Falsches sage, weil ich mich ja nicht so ausdrücken konnte."
Die Zeiten, in denen sich Benita nicht so recht ausdrücken konnte, sind vorbei. Sie packt ihr Heft aus und zeigt es der Mutter: Eine Eins im Deutsch-Aufsatz. Thema: Argumentation. Es ging um die Kriminalität junger Migranten.
"Benita ist auch sehr, sehr fleißig. Sie macht alles sehr – hm – that’s a problem with Deutsch – that you do your Hausaufgabe very well, you don’t have any Fehler, you know, and to be sure of what you are doing!”"
Deutsch und Englisch purzeln bei Benitas Mutter noch durcheinander. Sie ist arbeitslos wie ihr Mann und hat wenig Gelegenheit, Deutsch zu sprechen und sich weiter zu entwickeln. Sie hat kaum Chancen hier, wie viele Einwanderer ihrer Generation. Deshalb ist sie so glücklich, dass Benita mit dem Start-Programm eine Chance bekommen hat – und sie auch nutzt.
" "Wir wissen, sie ist stark! Sie macht alles wie ein Junge, nicht wie ein Mädchen."
Schule, Leichtathletik-Training, Wettkämpfe, Hip-Hop-Tanzkurs, Konfirmandenunterricht und nun noch die monatlichen Seminare für die Stipendiaten– um Benitas Pensum zu schaffen, muss man schon robust sein. Etwas Zeitersparnis bringt der neue Laptop und der Internetzugang, den die Vierzehnjährige vom Start-Programm bekam.
"Ich hatte vorher keinen Computer. Da kam das natürlich wie gerufen. Also mittlerweile kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, ohne Internet zu leben. Weil das einem natürlich ungeheuer hilft, wenn man was nachsuchen soll in der Schule. Sonst wäre ich ja immer auf Freunde angewiesen. Die kennen sich blendend aus. Und ich lern’ jetzt halt dazu, als Nachzügler – na ja, macht nichts!"
Auch die 16-jährige Parez wagte bisher nicht an einen eigenen Computer zu denken. Die Rostocker Stipendiatin ist Kurdin und kommt aus dem Irak. Die sechsköpfige Familie wohnt in einem Plattenbau, genau wie Benita.
"Meine Mutti ist Hausfrau, mein Vater ist arbeitssuchend oder arbeitslos. Aber ich muss sagen, wir kommen ganz gut über die Runden. Man kann sich natürlich nicht alles leisten. Es gibt sehr viele Familien auch in Mecklenburg-Vorpommern, da ist die Armut schon ziemlich groß. Und von daher: Ich fühl’ mich nicht arm, ich fühl’ mich nicht reich, das ist so ein Mittelding. Ich bin auch nicht der Typ, der sagt: Diese Klamotten hätte ich jetzt gern oder Markenklamotten müssen es sein, sondern es passt eigentlich alles so, wie es ist."
Vom Bildungsgeld, das sie mit dem Start-Stipendium bekommt, kaufte sich das Mädchen einen Schreibtisch und den Stuhl dazu, bezahlte Bücher und eine Klassenfahrt. Dinge, die sonst nur unter großer Anstrengung vom Familienbudget abzuknapsen wären. In ihrer Klasse am Erasmus-Gymnasium in Rostock-Lütten-Klein gehört Parez zu den Besten. Und sie musste sich eine kleine Neid-Diskussion anhören, als bekannt wurde, dass sie ein Stipendium bekommen habe.
"Einige haben sich jetzt sogar aufgeregt: Ja, warum denn nur für die Ausländer? Wir Deutschen haben doch die gleichen Rechte! Und alles Mögliche. Warum werden die gefördert und wir nicht? Habe ich auch schon zu hören gekriegt. Aber ich lass mir von denen eigentlich nichts sagen, da habe ich schon meinen Sturkopf. Ja, es sind halt meine Leistungen, ich bin durch meine Leistungen dazu gekommen. Es ist eigentlich – ja, wie soll ich sagen – selber auch mit mein Verdienst, bin ich auch ganz stolz mit drauf. Ich denke, wenn man hier irgendwas erreichen will, mus man auch selbst als Migrant und auch als Deutscher – da ist die Schule der Grundbaustein, und man tut es ja auch für sich selber, für sein Wissen und auch für die Zukunft."
Rostock-Altstadt, eine Wohnung in der Nähe vom Markt. Hier wohnt die sechsköpfige Familie von Jeshurun aus Sri Lanka. Sie sind Tamilen.
Jeshuruns Mutter war in ihrer Heimat Gymnasiallehrerin, hier fand sie nach langer Arbeitslosigkeit eine Teilzeitstelle als englischsprachige Erzieherin in einem internationalen Kindergarten. Alle vier Kinder der tarmilischen Familie gehen auf die Werkstattschule in Rostock, eine freie Schule. Jeshurun, der dunkelhäutige 11.Klässler, ist froh, auf diese Schule zu gehen.
"Weil ichauf die Werkstattschule gehe, da merke ich schon, dass bessere Grundvoraussetzungen vorhanden sind als wenn ich auf Schulen gehen würde, wo ich höre, dass auf dem Hof die Emigranten die Deutschen verprügeln oder andersrum. Da ist es klar, dass man von denen ein schlechtes Bild hat, weil die halt mehr so wie Gäste sind in einem fremden Land und dann denkt man: Ach, die Migranten wieder. Aber manche Grundvoraussetzungen müssen einfach geschaffen werden, dass eine Gesellschaft entsteht, die integrieren kann."
Ein Stück von dieser Gesellschaft erlebt Jeshurun an seiner Schule: Da er und seine Geschwister gute Schüler sind, wird der Familie das Schulgeld erlassen.
"Die Schule hat mich sehr geprägt, dass wir einfach besser lernen, auch mal zusammen zu kooperieren, anstatt dass jeder nur versucht, seine guten Noten zu kriegen. Dass man einfach in der Gemeinschaft etwas schafft. Das hat mich doch stark geprägt."
Jeshuruns Mutter, die einst Naturwissenschaften unterrichtete, hilft ihren Kindern viel bei den Hausaufgaben und sorgt dafür, dass auch in den Ferien ein wenig gelernt wird. Bildung, so sagt sie, ist in ihrer Heimat das Wichtigste.
"Wir sind die Minderheit in Sri Lanka. Ob wir viel lernen auch – wir kriegen nicht das gleiche Recht wie die Mehrheit. So müssen wir unbedingt gut lernen, um mit der Mehrheit zu konkurrieren."
"Das auch Glück gehabt meine Kinder, dass meine Frau ist eine Lehrerin. So macht sie das. Ich bin von Beruf ein Techniker. Und hier mache ich einen Pizza-Service. Ich und meine Frau das Einkommen ist sehr wenige. Aber wegen dem Start-Stipendium das ist große Hilfe für unsere Kind Zukunft."
Allein die Klassenfahrten, mindestens 150 Euro pro Kind, rechnet der Vater vor. Er möchte doch so gern, dass sie alles mitmachen können in der Schule. Deshalb verzichtete er auf seine eigene Weiterbildung. Drei Jahre hätte es gedauert, bis der Klimatechniker aus Sri Lanka einen deutschen Abschluss gehabt hätte – und: Es hätte Geld gekostet. Geld, das der Pizzabäcker nicht hat.
Schwerin, Plattenbausiedlung Großer Dreesch. Hier wohnt Lisaweta aus Moldawien. Ihre Muttersprache Russisch – hier bei einem Auftritt mit ihrer Theatergruppe - redet sie noch wie ein Wasserfall – so gut, dass, es für einen Preis ihres "Russischen Quatsch-Comedy-Clubs" beim bundesweiten Poetry-Slam-Wettbewerb in Berlin gereicht hat.
Lisaweta wird von allen Lisa genannt. Und sie hat nichts gegen die Abkürzung, denn dann merkt man nicht gleich, dass sie Ausländerin ist, sagt sie. Als sie in der achten Klasse auf eigene Faust von der Realschule aufs Gymnasium wechselte, ließ sie ihre Mitschüler dort lange in dem Glauben, sie sei eine Deutsche. Nach dem, was sie an ihrer früheren Schule erlebt hatte, schien das der damals 13-Jährigen geraten.
"Nachdem meine Klassenlehrerin mitgekriegt hat, dass ich aufs Gymnasium wechseln möchte und das dann die ganze Schule wusste, verging kein Tag, an dem nicht ein Lehrer zu mir kam und meinte: Du darfst nicht wechseln, du wirst es nicht schaffen, du wirst sofort zurückkommen! Und solche Sachen. Vielleicht mir auf dem Weg alles Gute zu wünschen, zu sagen, du kannst mehr schaffen, geh aufs Gymnasium, das wird schon – das hat keiner getan, kein einziger Lehrer!"
Am Gymnasium wurde es dann anders, die Lehrer machten dem Mädchen Mut. Noch zwei Jahre zuvor, mit elf, konnte Lisaweta kein Wort Deutsch. Fast ein halbes Jahr sprach sie kaum, bis dann der Knoten platzte und die neue Sprache förmlich aus ihr heraussprudelte. Heute spricht die 17-Jährige fünf Sprachen, ist Sprecherin des Deutsch-Leistungskurses, Mitglied in zwei Theatergruppen und – eine der besten Schülerinnen in ihrer Klasse.
"Bildung war ja sozusagen auch der Grund, wieso wir hergekommen sind. Meine Eltern wollten eine Zukunft für mich und meinen Bruder, und die gab es in Moldawien eigentlich für uns nicht. Deshalb haben meine Eltern alles aufgegeben. Und dann war natürlich meine Aufgabe: Ich darf sie nicht enttäuschen. Sprich, ich muss alles dafür tun, dass sie wissen, sie haben es nicht umsonst gemacht."
Es scheint, als wären Lisa und Jeshurun, Parez und Benita durch ihre Geschichte schon ein wenig früher erwachsen geworden als andere. Und so sehr sie und ihre Eltern sich über die Förderung und das Start-Stipendium freuen, so spürt man zwischen den Sätzen auch die Last, die diese Kinder wegzuschleppen haben. Es ist der Preis dafür, unter allen Bedingungen gut sein zu müssen.
"Druck? Auf jeden Fall. Weil man eben weiß, dass viele an dich glauben, dass viele Erwartzungen in dich gesteckt werden. Manchmal denke ich: Eigentlich bin ich ja auch ein ganz normaler Mensch, eigentlich bin ich noch ja fast ein Kind. Und möchte auch mal faulenzen und nichts machen, einfach mal zu Hause bleiben – ach, was normale Kinder so tu. Man gewöhnt sich dran. Vor meinen Eltern habe ich wirklich ganz, ganz viel Respekt. Was sie an Sachen einstecken mussten und müssen. Für mich ist es hier viel einfacher. Ich habe die Sprache jetzt drauf und fühle mich voll integriert. Die Erwachsenen, die haben es viel, viel schwerer als wir."
Lisas Eltern, beide haben studiert, sind als Hilfsarbeiter tätig. Andere sind arbeitslos, haben einen Minijob oder sind Pizzabäcker. Das Gefühl der Eltern dieser begabten Kinder fasst Jeshuruns Vater in zwei Sätzen zusammen.
"Unsere Zeit ist vorbei, aber jetzt ist unsere Kinder Zukunft. Das ist unsere Hoffnung."
Es könnte eine Schulentlassungsfeier sein: Fein herausgeputzte Jugendliche, aufgeregte Eltern, rote Rosen und feierliche Musik. Ein kleiner, grauhaariger Herr tritt auf die Bühne und erzählt, dass er aus einer türkischen Arbeiterfamilie kommt und dass keiner an ihn glaubte, als er ein Kind war. Dass seine Lehrer ihn nicht ans Gymnasium lassen wollten und dass er es dennoch schaffte. Bis zur Promotion. Irgendwann wollte sich dann Dr. Kenan Önen nicht mehr damit zufrieden geben, dass nur fünf Prozent aller Migrantenkinder in Deutschland das Abitur ablegen. Gemeinsam mit der Hertie-Stiftung in Hessen rief er vor sechs Jahren das Start-Programm ins Leben, das Schülerstipendien an begabte Zuwandererkinder vergibt. 500 Jugendliche aus 60 Nationen werden bundesweit gefördert. Elf davon kommen aus Mecklenburg-Vorpommern. Heute bekommen sie ihre Stipendien.
Ben Li, der junge Posaunist aus China, spielt im Bundesjugendsinfonieorchester, Jeshurun aus Sri Lanka ist Landesmeister im Schach, Lisaweta aus Moldawien gewann einen Comedy-Wettbewerb in Berlin, andere die Matheolympiade oder Englisch-Wettbewerbe. Sie sind Klassensprecher, manchmal Klassenbeste, einige haben Klassen übersprungen, andere geben Nachhilfeunterricht für ihre deutschen Mitschüler. Sie sind das exakte Gegenteil dessen, was manche in Deutschland sich unter dem Wort "Migrantenkinder" vorstellen. Sie sind die Kinder der Pizzabäcker und Hilfsarbeiter, die es schaffen wollen. Die eben nicht die "Problemkinder" sind.
"Die widerlegen dieses Vorurteil. Auch das, was jetzt in der momentanen Debatte ist: Jugendliche Migranten als Kriminelle oder vorwiegend kriminelle Täter. Das ist natürlich ein ungerechtes und einseitiges Bild. Und diese Kinder und jungen Menschen widerlegen das und zeigen, dass sie vorbildhaft sind und auch andere mitziehen können."
Dr. Dorothea Rother ist die Landeskoordinatorin für das Start-Programm in Mecklenburg-Vorpommern. Neben einem monatlichen Bildungsgeld von 100 Euro, einem Laptop und einem Internetanschluss gehört ein anspruchsvolles Bildungsprogramm zur Förderung der Stipendiaten. Und so organisiert die Lehrerin aus Waren/Müritz Bildungsseminare und Work-Shops, Theater-, Museums- und Firmenbesuche. Den Unterschied der Stipendiaten zu ihren deutschen Mitschülern beschreibt die Latein- und Religionslehrerin so.
"Es ist einfach – ich will’s mal so bezeichnen – ein anderer Absättigungsgrad bei unseren Jugendlichen als dort. Hier bei den Stipendiaten ist einfach das unbedingte Wollen: Ich möchte es schaffen. Und auch: Ich möchte nicht enttäuschen, was meine Eltern erwarten. Das ist ein ganz großer Faktor. Meine Eltern haben so viel aufgegeben für mich und jetzt möchte ich das auch zurückgeben. Das beeindruckt mich bei diesen Jugendlichen ganz besonders."
Die jüngste Mecklenburger Stipendiatin kommt aus Dorothea Rothers Schule, dem Warener Richard-Wossidlo-Gymnasium. Es ist die 14-jährige Benita aus Nigeria.
Ibo, ihre Muttersprache, kann Benita nur noch verstehen, aber kaum noch sprechen. Ab und an singt ihr die Mutter ein Lied auf Ibo vor, damit sie die Sprache nicht ganz vergisst. Benita war sechs, als die Familie nach Deutschland kam.
"Wir sind aus Nigeria geflohen, weil wir von Muslimen verfolgt wurden. Mein Vater war in Nigeria Pastor. Es wurde ein Anschlag auf unser Haus verübt und wir sind noch in der Nacht geflüchtet. Ohne gar nichts, nur das, was wir hatten und haben das Nötigste zusammengerafft von Verwandten und sind dann hier rüber, nach Deutschland."
Zentralstelle für Asylbewerber in Horst, ein gefängnisartiger Bau im Westen Mecklenburgs, Asylheim in Waren, die ganze Familie jahrelang auf einem Zimmer, für Schularbeiten keine sehr förderliche Atmosphäre - Benita hat durch, was die meisten Migrantenkinder durchhaben. Vielleicht hatte sie es aber besonders schwer, denn sie war das einzige dunkelhäutige Mädchen in ihrer Schule – und ist es bis heute.
"Die Grundschulzeit war ’ne schwere Zeit für mich. Weil meine Mitschüler nicht damit umgehen konnten, dass ich eine andere Hautfarbe habe und ihre Sprache nicht sprechen konnte. Ich hatte auch Angst, dass ich was Falsches sage, weil ich mich ja nicht so ausdrücken konnte."
Die Zeiten, in denen sich Benita nicht so recht ausdrücken konnte, sind vorbei. Sie packt ihr Heft aus und zeigt es der Mutter: Eine Eins im Deutsch-Aufsatz. Thema: Argumentation. Es ging um die Kriminalität junger Migranten.
"Benita ist auch sehr, sehr fleißig. Sie macht alles sehr – hm – that’s a problem with Deutsch – that you do your Hausaufgabe very well, you don’t have any Fehler, you know, and to be sure of what you are doing!”"
Deutsch und Englisch purzeln bei Benitas Mutter noch durcheinander. Sie ist arbeitslos wie ihr Mann und hat wenig Gelegenheit, Deutsch zu sprechen und sich weiter zu entwickeln. Sie hat kaum Chancen hier, wie viele Einwanderer ihrer Generation. Deshalb ist sie so glücklich, dass Benita mit dem Start-Programm eine Chance bekommen hat – und sie auch nutzt.
" "Wir wissen, sie ist stark! Sie macht alles wie ein Junge, nicht wie ein Mädchen."
Schule, Leichtathletik-Training, Wettkämpfe, Hip-Hop-Tanzkurs, Konfirmandenunterricht und nun noch die monatlichen Seminare für die Stipendiaten– um Benitas Pensum zu schaffen, muss man schon robust sein. Etwas Zeitersparnis bringt der neue Laptop und der Internetzugang, den die Vierzehnjährige vom Start-Programm bekam.
"Ich hatte vorher keinen Computer. Da kam das natürlich wie gerufen. Also mittlerweile kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, ohne Internet zu leben. Weil das einem natürlich ungeheuer hilft, wenn man was nachsuchen soll in der Schule. Sonst wäre ich ja immer auf Freunde angewiesen. Die kennen sich blendend aus. Und ich lern’ jetzt halt dazu, als Nachzügler – na ja, macht nichts!"
Auch die 16-jährige Parez wagte bisher nicht an einen eigenen Computer zu denken. Die Rostocker Stipendiatin ist Kurdin und kommt aus dem Irak. Die sechsköpfige Familie wohnt in einem Plattenbau, genau wie Benita.
"Meine Mutti ist Hausfrau, mein Vater ist arbeitssuchend oder arbeitslos. Aber ich muss sagen, wir kommen ganz gut über die Runden. Man kann sich natürlich nicht alles leisten. Es gibt sehr viele Familien auch in Mecklenburg-Vorpommern, da ist die Armut schon ziemlich groß. Und von daher: Ich fühl’ mich nicht arm, ich fühl’ mich nicht reich, das ist so ein Mittelding. Ich bin auch nicht der Typ, der sagt: Diese Klamotten hätte ich jetzt gern oder Markenklamotten müssen es sein, sondern es passt eigentlich alles so, wie es ist."
Vom Bildungsgeld, das sie mit dem Start-Stipendium bekommt, kaufte sich das Mädchen einen Schreibtisch und den Stuhl dazu, bezahlte Bücher und eine Klassenfahrt. Dinge, die sonst nur unter großer Anstrengung vom Familienbudget abzuknapsen wären. In ihrer Klasse am Erasmus-Gymnasium in Rostock-Lütten-Klein gehört Parez zu den Besten. Und sie musste sich eine kleine Neid-Diskussion anhören, als bekannt wurde, dass sie ein Stipendium bekommen habe.
"Einige haben sich jetzt sogar aufgeregt: Ja, warum denn nur für die Ausländer? Wir Deutschen haben doch die gleichen Rechte! Und alles Mögliche. Warum werden die gefördert und wir nicht? Habe ich auch schon zu hören gekriegt. Aber ich lass mir von denen eigentlich nichts sagen, da habe ich schon meinen Sturkopf. Ja, es sind halt meine Leistungen, ich bin durch meine Leistungen dazu gekommen. Es ist eigentlich – ja, wie soll ich sagen – selber auch mit mein Verdienst, bin ich auch ganz stolz mit drauf. Ich denke, wenn man hier irgendwas erreichen will, mus man auch selbst als Migrant und auch als Deutscher – da ist die Schule der Grundbaustein, und man tut es ja auch für sich selber, für sein Wissen und auch für die Zukunft."
Rostock-Altstadt, eine Wohnung in der Nähe vom Markt. Hier wohnt die sechsköpfige Familie von Jeshurun aus Sri Lanka. Sie sind Tamilen.
Jeshuruns Mutter war in ihrer Heimat Gymnasiallehrerin, hier fand sie nach langer Arbeitslosigkeit eine Teilzeitstelle als englischsprachige Erzieherin in einem internationalen Kindergarten. Alle vier Kinder der tarmilischen Familie gehen auf die Werkstattschule in Rostock, eine freie Schule. Jeshurun, der dunkelhäutige 11.Klässler, ist froh, auf diese Schule zu gehen.
"Weil ichauf die Werkstattschule gehe, da merke ich schon, dass bessere Grundvoraussetzungen vorhanden sind als wenn ich auf Schulen gehen würde, wo ich höre, dass auf dem Hof die Emigranten die Deutschen verprügeln oder andersrum. Da ist es klar, dass man von denen ein schlechtes Bild hat, weil die halt mehr so wie Gäste sind in einem fremden Land und dann denkt man: Ach, die Migranten wieder. Aber manche Grundvoraussetzungen müssen einfach geschaffen werden, dass eine Gesellschaft entsteht, die integrieren kann."
Ein Stück von dieser Gesellschaft erlebt Jeshurun an seiner Schule: Da er und seine Geschwister gute Schüler sind, wird der Familie das Schulgeld erlassen.
"Die Schule hat mich sehr geprägt, dass wir einfach besser lernen, auch mal zusammen zu kooperieren, anstatt dass jeder nur versucht, seine guten Noten zu kriegen. Dass man einfach in der Gemeinschaft etwas schafft. Das hat mich doch stark geprägt."
Jeshuruns Mutter, die einst Naturwissenschaften unterrichtete, hilft ihren Kindern viel bei den Hausaufgaben und sorgt dafür, dass auch in den Ferien ein wenig gelernt wird. Bildung, so sagt sie, ist in ihrer Heimat das Wichtigste.
"Wir sind die Minderheit in Sri Lanka. Ob wir viel lernen auch – wir kriegen nicht das gleiche Recht wie die Mehrheit. So müssen wir unbedingt gut lernen, um mit der Mehrheit zu konkurrieren."
"Das auch Glück gehabt meine Kinder, dass meine Frau ist eine Lehrerin. So macht sie das. Ich bin von Beruf ein Techniker. Und hier mache ich einen Pizza-Service. Ich und meine Frau das Einkommen ist sehr wenige. Aber wegen dem Start-Stipendium das ist große Hilfe für unsere Kind Zukunft."
Allein die Klassenfahrten, mindestens 150 Euro pro Kind, rechnet der Vater vor. Er möchte doch so gern, dass sie alles mitmachen können in der Schule. Deshalb verzichtete er auf seine eigene Weiterbildung. Drei Jahre hätte es gedauert, bis der Klimatechniker aus Sri Lanka einen deutschen Abschluss gehabt hätte – und: Es hätte Geld gekostet. Geld, das der Pizzabäcker nicht hat.
Schwerin, Plattenbausiedlung Großer Dreesch. Hier wohnt Lisaweta aus Moldawien. Ihre Muttersprache Russisch – hier bei einem Auftritt mit ihrer Theatergruppe - redet sie noch wie ein Wasserfall – so gut, dass, es für einen Preis ihres "Russischen Quatsch-Comedy-Clubs" beim bundesweiten Poetry-Slam-Wettbewerb in Berlin gereicht hat.
Lisaweta wird von allen Lisa genannt. Und sie hat nichts gegen die Abkürzung, denn dann merkt man nicht gleich, dass sie Ausländerin ist, sagt sie. Als sie in der achten Klasse auf eigene Faust von der Realschule aufs Gymnasium wechselte, ließ sie ihre Mitschüler dort lange in dem Glauben, sie sei eine Deutsche. Nach dem, was sie an ihrer früheren Schule erlebt hatte, schien das der damals 13-Jährigen geraten.
"Nachdem meine Klassenlehrerin mitgekriegt hat, dass ich aufs Gymnasium wechseln möchte und das dann die ganze Schule wusste, verging kein Tag, an dem nicht ein Lehrer zu mir kam und meinte: Du darfst nicht wechseln, du wirst es nicht schaffen, du wirst sofort zurückkommen! Und solche Sachen. Vielleicht mir auf dem Weg alles Gute zu wünschen, zu sagen, du kannst mehr schaffen, geh aufs Gymnasium, das wird schon – das hat keiner getan, kein einziger Lehrer!"
Am Gymnasium wurde es dann anders, die Lehrer machten dem Mädchen Mut. Noch zwei Jahre zuvor, mit elf, konnte Lisaweta kein Wort Deutsch. Fast ein halbes Jahr sprach sie kaum, bis dann der Knoten platzte und die neue Sprache förmlich aus ihr heraussprudelte. Heute spricht die 17-Jährige fünf Sprachen, ist Sprecherin des Deutsch-Leistungskurses, Mitglied in zwei Theatergruppen und – eine der besten Schülerinnen in ihrer Klasse.
"Bildung war ja sozusagen auch der Grund, wieso wir hergekommen sind. Meine Eltern wollten eine Zukunft für mich und meinen Bruder, und die gab es in Moldawien eigentlich für uns nicht. Deshalb haben meine Eltern alles aufgegeben. Und dann war natürlich meine Aufgabe: Ich darf sie nicht enttäuschen. Sprich, ich muss alles dafür tun, dass sie wissen, sie haben es nicht umsonst gemacht."
Es scheint, als wären Lisa und Jeshurun, Parez und Benita durch ihre Geschichte schon ein wenig früher erwachsen geworden als andere. Und so sehr sie und ihre Eltern sich über die Förderung und das Start-Stipendium freuen, so spürt man zwischen den Sätzen auch die Last, die diese Kinder wegzuschleppen haben. Es ist der Preis dafür, unter allen Bedingungen gut sein zu müssen.
"Druck? Auf jeden Fall. Weil man eben weiß, dass viele an dich glauben, dass viele Erwartzungen in dich gesteckt werden. Manchmal denke ich: Eigentlich bin ich ja auch ein ganz normaler Mensch, eigentlich bin ich noch ja fast ein Kind. Und möchte auch mal faulenzen und nichts machen, einfach mal zu Hause bleiben – ach, was normale Kinder so tu. Man gewöhnt sich dran. Vor meinen Eltern habe ich wirklich ganz, ganz viel Respekt. Was sie an Sachen einstecken mussten und müssen. Für mich ist es hier viel einfacher. Ich habe die Sprache jetzt drauf und fühle mich voll integriert. Die Erwachsenen, die haben es viel, viel schwerer als wir."
Lisas Eltern, beide haben studiert, sind als Hilfsarbeiter tätig. Andere sind arbeitslos, haben einen Minijob oder sind Pizzabäcker. Das Gefühl der Eltern dieser begabten Kinder fasst Jeshuruns Vater in zwei Sätzen zusammen.
"Unsere Zeit ist vorbei, aber jetzt ist unsere Kinder Zukunft. Das ist unsere Hoffnung."