Die Kiezläufer laufen aus

Von Katja Bigalke |
Was im Berliner Wedding als Projekt seit einem Jahr erfolgreich läuft, hat in Berlin Kreuzberg vor drei Monaten seinen Anfang genommen. Dabei konnte man auf die Erfahrungen der Weddinger Quartiersmanager zurückgreifen. Kiezläufer heißen sie rund um das Kottbusser Tor. Bei der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung gelten die Kiezläufer als Zukunftsmodell für die sogenannten Problemviertel.
Kreuzberg 36, Naunyn-, Ecke Adalbertstraße. Die Gegend gilt als gefährlich und die Anwohner haben genug:

"Für die Kinder ist es gefährlich. Es gibt so viele Drogenabhängige, man hat Angst, dass man die Kinder raus schickt. Ich hab Angst, dass die auch meine Kinder da reinnehmen. Mal sieht man Streit, die schlagen sich oder die verkaufen oder die rauchen. Es gibt Kinder sehr klein."
"Teilweise gibt es aggressive Jugendliche. Ich kann schon nachvollziehen, dass es für manche Leute kein angenehmes Umfeld ist, wenn sich Leute unwohl fühlen, wenn eine große Anzahl von türkischstämmigen Jugendlichen unterwegs ist und einen anmacht."
"Wie in so einem Halbghetto – so ist die Situation hier auch. Wir sind hier ausgegrenzt. Bei den Jugendlichen kommt hinzu, dass sie keine Zukunftsperspektive mehr haben und das schafft sie – da schlagen sie um sich. Das ist ein Dampfdeckel."

Um die Situation zu verbessern, patrouillieren hier seit drei Monaten die Kiezläufer. Fünf Männer und eine Frau zwischen 28 und 48, die nur eines qualifiziert – ihre Biografie. Sie sind hier aufgewachsen, kennen die Probleme aus eigener Erfahrung, genießen Respekt. Oft waren sie früher selbst harte Jungs, die mit dem Gesetz in Konflikt kamen. Die Kiezläufer sind die letzte Hoffnung des Quartiersrates, des lokalen Bürgergremiums.

An diesem Abend sind Ali und Selime im Einsatz. Die dreißigjährige Selime ist albanischer Abstammung. "Sprich mich an" steht in großen Buchstaben auf ihrem schwarzen Sweater, dessen Kapuze sie sich tief übers Gesicht gezogen hat. Mit 13 lief sie von zu Hause weg, verbrachte ihre Jugend im Heim und auf der Straße und hatte später "das eine oder andere Problem", wie sie sagt. All das verleiht ihr eine besondere Glaubwürdigkeit:

"Die Jugendlichen sehen ja auch, dass wir nicht besser sind als die und wir uns selber erst mal informieren müssen. Es ist so etwas Freundschaftliches, eine andere Art von Vertrauen, die sehen auch nur, dass wir versuchen, das Beste rauszuholen, aber versuchen zu helfen und Papiere zu organisieren, dass sie nicht alleine sind."

Viel ist nicht los auf der spärlich beleuchteten Strasse. Es ist kalt und nieselt. Für Selime und Ali scheint es ein entspannter Abend zu werden. Aber allein schon ihre Präsenz ist wichtig.

"Wo wir hier angefangen haben, bin ich hergekommen und wusste auch nicht, was mit mir passiert. Hab dann gemerkt, es reicht, dass ich da bin und die Jugendlichen sind auf mich zugekommen."

Auch Ali hält die Verwurzelung im Kiez für sein größtes Kapital:

"Warum die mich ernst nehmen? Weil die mich einfach kennen, meine Eltern, meine Brüder und die mich als großer Bruder sehen und nicht so fremd bin wie so ein Sozialpädagoge. Die können sich öffnen und müssen sich keine Sorgen machen, dass das was sie erzählen mal rauskommt."

Nichts an Ali lässt auf einen Sozialarbeiter schließen: Er ist ein bulliger Typ mit kurz geschorenen Haaren, der als Türsteher einer Disco arbeitete und Narben von 14 Messerstichen hat. In den Achtzigern war er Mitglied der berüchtigten Türken-Gang "36 Boys", die den Kiez damals fest im Griff hatte. Doch das Laute, Machohafte, Unduldsame ist nur ein Teil seiner Persönlichkeit. Der andere kommt zum Vorschein, wenn der 34-Jährige von seiner spät geglückten Ausbildung zum Heizungsbauer erzählt. Dann lächelt er wie der perfekte Schwiegersohn.

"Ich kann den Jugendlichen von meiner Perspektive was rüberbringen. Das manchmal, wenn man ne Ausbildung macht, das zwar erstmal wenig ist, weil man wenig verdient – 200 Euro im Monat. Aber auf dem Arbeitsmarkt später viel bessere Chancen."

Auf den Weg gebracht hat das ungewöhnliche Projekt der türkische Odak-Verein, der sich seit dreißig Jahren in Kreuzberg sozial engagiert. Diese Erfahrungen führten zur Idee mit den Kiezläufern. Orhan Akbiyk von Odak e.V.:

"Der Ansatz ist nicht neu: Wir hatten den auch schon in den 80er Jahren, als wir mit Drogenabhängigen gearbeitet haben – da hatten wir in Berlin viel mit zu tun, konnten die aber nicht erreichen. Und dann haben wir gedacht, vielleicht geht es mit Exkonsumenten – und sind mit denen auf die Straße gegangen und haben festgestellt, dass diese auf gleicher Augenhöhe diskutieren können. Wenn Jugendliche ohne Perspektive bleiben, wäre das natürlich schön, wenn sie mit einem gut ausgebildeten Sozialarbeiter reden würden, aber bis das passiert, verliert man manchmal sehr viel Zeit."

Projektleiter Akbiyk kennt viele Leute im Bezirk. So hatte er schnell genug potenzielle Kandidaten zur Hand, als der Kiezläufer-Auftrag kurzfristig vom Senat ausgeschrieben wurde. Kiezgrößen seien seine Leute, sagt er, Menschen mit Vergangenheit, die heute glaubhaft aus ihren Fehlern gelernt haben.

"Unsere Mitarbeiter haben in ihrer Jugendzeit ein Devianzverhalten gehabt. Wichtig ist, dass sie es heute als Scheiße empfinden und sagen: mach das nicht."

Bei der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung gelten die Kiezläufer als Zukunftsmodell für die sogenannten No-Go-Areas. 300.000 Euro steckt das Land Berlin pro Jahr in das Quartier rund um Naunyn- und Admiralstraße. Sprachkurse werden damit finanziert und Straßenfeste, Spielplätze ausgebaut, Hausaufgabenhilfen bezahlt. Doch was fehlte, war ein allgemeines Sicherheitsgefühl. Ralf Hirsch vom Berliner Senat:

"Die Jugendlichen stehen auf der Straße, pöbeln rum und saufen und viele fühlen sich bedroht. Das war die Ausgangslage und dann kam die Idee, wir brauchen jemand, der Zugang hat. Wenn ich dahin gehe im Anzug, dann drehen sie sich um und zeigen mir den Vogel. Wenn da jemand kommt, der ein Symbol ist, dann hat der einen anderen Zugang."

Hirsch, ein ehemaliger DDR-Bürgerrechtler, der beim Senat die Notfallprogramme für Problemgegenden koordiniert, fand die Kiezläufer-Idee gleich überzeugend. Damit stand er erst einmal allein. Leute als Vermittler auf die Straße zu schicken und mit Senatsgeldern zu bezahlen, die zum Teil früher selbst im Gefängnis saßen - das stieß auf wenig Begeisterung beim Bezirksamt und den Sozialpädagogen. Fehlende Ausbildung, keine Einbindung in existente Sozialstrukturen, zu große Nähe zur Problemklientel, lauteten die Bedenken. Doch Hirsch und der Quartiersrat setzten sich durch:

"Da gab es ein Konkurrenzdenken, auch politische Querelen. So ein Projekt bringt ja immer erst mal Unruhe. Dass es da Politiker gibt, die sich da übergangen fühlen. Der Streit um Geld ist immer groß - das Modell ist ein anderes. Die sind nicht Sozialarbeiter, sollen die auch nicht ersetzen – die sollen die da hinführen. Wenn wir das jetzt mit allen abgesprochen hätten, hätten wir aber drei Jahre gebraucht. So ein Projekt kann man nicht mit allen absprechen."

Die ersten drei Monate Probezeit sind vorbei. Inzwischen haben die Kiezläufer Kurse für Suchtprävention besucht und Deeskalationstrainings, wurden von der Polizei in rechtlichen Fragen unterrichtet. In der Senatsverwaltung glaubt man an das Projekt, es wurde um ein Jahr verlängert:

"Wir haben es erlebt, dass wir es geschafft haben, mit den Kiezläufern, mit diesen harten Jungs, die ersten zwei Runden zu machen. Da saßen 40 Jugendliche auf der Straße, die sehr vernünftig mit uns gesprochen haben, weil sie das erste Mal ernst genommen wurden. Da hat sich jemand um sie gekümmert. Die haben einfach beschrieben, was sie wollen. 9. Fußball wollen sie alle und Kraftsport – sie sagen, aber wir werden im Verein nicht aufgenommen. Jetzt überlegen wir mit den Jugendlichen eigene Trainings zu machen, wenn wir die zwei Tage von der Straße holen ist das schon ein Erfolg."

Zurück zu Selime und Ali. Die drehen gerade ihre nächste Runde in der Naunynstraße, vorbei am Internetcafé, vor dem sonst immer eine Traube unbeschäftigter Jugendlicher rumhängt. Doch heute hat sie der Nieselregen verscheucht. So steuern die beiden das Jugendzentrum Naunynritze an. Dort sitzt zwar nicht ganz ihre Klientel – die hat hier meist Hausverbot - aber man kann ja mal gucken. Und schon treffen die beiden auf erste bekannte Gesichter.
Selime umarmt ein Mädchen, lässt sich von einem jungen Mann übers Haar streichen. Die sportliche Frau mit den langen braunen Locken wirkt jetzt wie eine große Schwester. Ihre Aufgabe sieht sie darin, die Jugendlichen an die Hand zu nehmen und einen Ausweg von der Straße zu zeigen. Sozialarbeiter leisten diese Arbeit heute nicht mehr, meint sie und erinnert sich an ihre eigene Teenie-Zeit:

"Es war damals einfacher, es gab damals mehr Möglichkeiten: Wir waren mit dem Jugendtreff in Tschechien, haben Survival-Touren gemacht. Es war mehr Geld da und die Sozialarbeiter waren anders motiviert, an uns ranzugehen. Ich kenne Sozialarbeiter, die nicht gesagt haben, es gibt eine dunkle und eine helle Seite. Ich kannte Sozialarbeiter, die wirklich den Leuten hinterher gegangen sind, und wenn einer Mist gemacht hat, haben die trotzdem zu dem gehalten. So was gibt es heute nicht mehr."

Früher war alles besser? Wer weiß. Auf jeden Fall beschwert man sich in der Naunynstraße gerne. Über das Jobcenter, die Polizei oder das sozialpädagogische Angebot, das an den Interessen der Jugendlichen vorbeigehe:

"Ich stand hier erst mal ein paar Tage und dann haben sich viele beschwert, was in der Naunynritze passiert, dass die Projekte nicht auf sie austariert sind. Die Gruppen ausgebucht sind oder man ausgeschlossen wird. Ich hab mich dann informiert und für den Tanzkurs muss man richtig viel Beitragssummen bezahlen."

Auch Ali ist ein großer Kritiker der örtlichen Sozialarbeit. Obwohl er selbst ein und ausgeht im Jugendzentrum und hier viele Kontakte hat, findet er das angebotene Programm unzureichend. Tischtennis und Rap, das sei zu klischeehaft und für die meisten schnell ausgereizt:

"Wir haben einfach Jugendliche gefragt, die Langeweile haben, weil die Projekte in der Naunynritze sprechen die nicht an. Sie würden es gerne sehen, dass auch mal ihre Interessen verfolgt werden."

Auch wenn diese Interessen recht diffus bleiben – Fußball und "Wir wollen ernst genommen werden" – das Unbehagen ist offensichtlich allgemein. Mehmet, ein schlaksiger Junge, der sich zu Ali gesellt und an seiner Zigarette zieht wie an einem Joint, nickt anerkennend. Ali ist für ihn ein Vorbild:

"Ich hab vier Jahre in Knast gesessen, hatte nichts. Ali hat mir geholfen, ist mit mir zum Jobcenter gegangen jetzt hab ich Ausbildung. Wenn ich was anfange, will ich immer gleich das Dach bauen und vergesse dann die Wände. Die Kiezläufer haben mir geholfen – haben mir den Grundstein gebaut und jetzt klappt alles."

Mehmet, der vor ein paar Jahren einen Mann mit einem Messer niedergestochen hat, der jetzt lebenslang im Rollstuhl sitzt, wirkt wie ein Mensch, der sich alleine nicht sinnvoll beschäftigen kann. Kreuzberg habe sich negativ verändert in den Jahren, in denen er im Gefängnis saß. Dass er selbst unter den besseren Bedingungen straffällig wurde, kommt ihm dabei nicht in den Sinn.

"Meine alten Freunde sind nicht mehr da. Es ist nichts mehr hier wie früher. Früher war das eine lebendige Straße, heute sehen sie hier nichts mehr, anstatt wie früher in jeder Ecke saßen wir. Wir haben geredet und gequatscht und jetzt nichts mehr. Die Jungen sagen, wir haben keinen Bock mehr. 8 Jeder ist in einer Ecke."

Ein Kinder- und Jugendzentrum wie die Naunynritze ist sicher nicht der richtige Anlaufpunkt für einen vorbestraften Erwachsenen wie Mehmet. Der noch mal von vorne anfangen muss und dringend eine Perspektive braucht. Aber die Institutionen, die sich um Problemfälle wie ihn kümmern sollen, haben oft zu hohe Einstiegshürden. Viele trauen sich nicht hin oder ecken zum Beispiel im Jobcenter immer wieder an, erzählt Ali:

"Die können sich nicht artikulieren, werden sauer, verlieren das Vertrauen und dann haben sie keinen Bock mehr dahin zu gehen. Du stehst fünf Stunden an und dann kommst du dran und dann fehlt ein Vertrag und dann streitet er sich. Ich sag immer: Man hat einen Mund bekommen, um zu reden. Viele wissen sich nicht mehr zu artikulieren und dann setzen die ihre Hände ein und haben die dann auch eingesetzt."

Wieder nickt Mehmet zustimmend. Ali ist mit ihm zum Jobcenter gegangen, ein Helfer, den er ernst nimmt.

"Ist älter als ich und er kennt mich schon seit Jahren – ich kann über alles mit ihm reden, was ich nicht mit meinem Vater reden kann ... Kann sagen, so hat mehr im Buckel als wir. Die sind schon jahrelang hier – die haben diese Erfahrung, haben mehr gesehen als wir."

Das etwas selbstherrliche Auftreten der Kiezläufer verärgerte anfangs andere Sozialeinrichtungen des Bezirks. Man fühle sich zu wenig eingebunden, hieß es. Mittlerweile äußert jedoch kaum jemand öffentlich Kritik. Doch die Erfolgsmeldungen der Kiezläufer über vermittelte Ausbildungsplätze oder die von ihnen weiter gereichten Wunschlisten der Jugendlichen überzeugen Sozialarbeiter Dieter Booth vom Kreuzberger Sportprojekt Kick nicht ganz.

"Ich nehme für mich mal in Anspruch, dass wir auf Wünsche eingehen. Es gibt Klettern, Kanufahren und Tischtennis. Ich weiß dass im Bereich Fußball, das ist ja ein Kritikpunkt der Jugendlichen, dass da eine ganze Menge läuft. Wir haben Kooperationsangebote weitergegeben, speziell auch mit dem Fußball-Angebot - wir haben bis heute noch keine Rückmeldung bekommen von den Jugendlichen. Ich finde gut, wenn es für jeden Jugendlichen welche Hilfe auch immer gibt. Wenn nun einer in ein Ausbildungsverhältnis gerät, wäre es interessant zwei Wochen danach zu schauen, ob er das immer noch ist. Da gibt es aus der Sozialarbeit eher negative Erfahrungen. Kann natürlich sein, dass die Erfolgsquote bei den Kiezläufern eine andere ist."

Andere sind da optimistischer. Die Situation sei so desolat, meint Laila Atrache-Younes vom Kreuzberger Quartiersmanagement, das jede neue Idee willkommen ist:

"Man sollte alle Wege versuchen zu gehen und wenn viele gescheitert sind, dann finde ich ist jeder Weg der offen steht und zum Erfolg führen kann den sollte man ausprobieren – aber man muss natürlich eigentlich viel früher ansetzen. Aber das sind auch oft politische Entscheidungen: Ich kann ja nicht beeinflussen, dass Familie Ali keine Aufenthaltsgenehmigung bekommt und ihr Sohn keine Ausbildung bekommt."

In dem hellen Büro gleich hinterm Kottbusser Tor – dem Hauptdrogenumschlagsplatz des Bezirks – spürt man jedenfalls Veränderungen. Neue Gesichter sind hier in den letzten Monaten aufgetaucht, die sonst nie bei der elegant gekleideten Sozialwissenschaftlerin um einen Termin gebeten hätten.

"Viele Angebote erreichen die Leute nicht und da sehe ich eine mangelnde Kommunikationsstruktur wir legen zwar auch was aus aber unsere Kommunikationsstruktur und Lesestruktur und Schreibkultur das ist nicht ihre, die der Migranten, die kommen nicht vorbei und lesen über Angebote: Gesundheit oder Hausaufgabenhilfe - das geht nur, wenn man rundgeht und erzählt. Sie brauchen kontinuierliche Ansprechpartner wo sie ein Vertrauensverhältnis aufbauen. Einen Erfolg sehe ich auch, dass auf einmal Jugendliche hier reinkommen von denen wir noch nie etwas gesehen haben die dann gehört haben hier gibt es ein Quartiersmanagement und da kann man sich informieren über Angebote. Inzwischen grüßen mich junge Leute, die kennen mich alle ich sag wenn was ist kommt ins Büro. Das ist wirklich ein sehr positives Ziel."