Die Kanzlerin als Jubilarin

Lauschen und Lernen

Angela Merkel, Bundeskanzlerin
Angela Merkel, Bundeskanzlerin © picture alliance / dpa / Foto: Stephanie Lecocq
Von Stephan Detjen · 17.07.2014
Große Partys sind ihre Sache nicht. Angela Merkel genießt zu ihren runden Geburtstagen lieber wissenschaftliche Vorträge. Zu ihrem 50. erfreute ein Hirnforscher die Kanzlerin, zu ihrem 60. wird im Berliner Konrad-Adenauer-Haus ein Historiker vor den geladenen Gästen sprechen.
Sollte sich noch einer der 1.000 geladenen Gäste fragen, womit man ihr heute Abend eine kleine Freude machen kann - machen Sie sich keine Sorgen: die Kanzlerin ist wunschlos glücklich
"Was soll ich sagen? Als Regierungschefin kann ich mir ja eigentlich täglich meine Wünsche erfüllen, nicht?"
Angela Merkel macht sich lieber wieder selbst ein Geschenk. So wie vor zehn Jahren, als sie ihre Gäste mit einer Feier zum 50. frappierte, wie man sie weder in Bonn noch in Berlin je erlebt hatte.
"Da hab ich echt zunächst mal – gestaunt."
Keine Jubelfeier, kein dröger Stehempfang
Bekannte ein verblüffter Edmund Stoiber, im Juli 2004 nachdem er die Einladung zu Merkels 50. gelesen hatte. Keine Jubelfeier, keinen drögen Stehempfang, sondern einen wissenschaftlichen Vortrag in der Parteizentrale hatte sich die CDU Vorsitzende erbeten. Eine Stunde lang dozierte der Frankfurter Hirnforscher Wolf Singer vor staunenden Politikern, Wirtschaftsführern und dem hohen Klerus über das Gehirn als "Beispiel selbstorganisierter Systeme".
"Wenn wir wüssten, wie dieses System sich selbst organisiert und stabilisiert, dann täten wir uns sehr viel leichter bei dem Versuch, auch andere komplexe Systeme, die auch diese vernetzte Struktur aufweisen – Wirtschaftssysteme, soziale Systeme, Biotop-Systeme und natürlich auch die politischen Systeme – nicht besser zu verstehen, sondern auch adäquater behandeln zu können."
Wenn man sich Singers Geburtstagsvortrag von 2004 heute noch einmal anhört, wirkt er wie der neurobiologische Leitfaden für die Kanzlerschaft, die Merkel ein Jahr später antrat. Das Wissen über die komplexe Struktur des Hirns, erklärte Singer, lehre Skepsis gegenüber großen Welterklärungen und lege Veränderung nur in kleinen Schritten nahe:
"Das hat uns die Evolution vorgemacht: wenn es große Sprünge gab, gab es tödliche Mutationen und die Dinosaurier waren weg. Man muss kleine Veränderungen machen und kurzfristig nachschauen, was die Effekte sind und dann bereit sein, Irrtümer einzugestehen."
Die künftige Kanzlerin lauschte – und lernte. In einem kurzen Dankeswort fasste sie ihren Erkenntnisgewinn damals so zusammen:
"Strukturiertes Verhalten und chaotisches Verhalten liegen unglaublich eng zusammen."
Merkel blieb auch Kanzlerin ein ständig weiter lernendes System. Vor Studenten in Brügge erklärte sie einmal, wie Einsteins Relativitätstheorie bis heute ihre Weltsicht präge:
"Da kann man etwas lernen wie schwer es ist, aus einem bekannten Weltbild hinüber zugehen in ein neues Bild, das durch wissenschaftliche Erkenntnis gewonnen wurde."
Bei anderer Gelegenheit im Sommerinterview, Frage an Merkel nach der Ferienlektüre:
"Also ich hab jetzt ein sehr interessantes Buch über die Wirkung von sogenannten Kondratjew-Wellen im Wirtschaftswachstum gelesen."
Der russische Wirtschaftswissenschaftler Nikolai Kondratjew hatte in den 20er-Jahren eine Theorie über den Zusammenhang von technischen Innovationen und Konjunkturzyklen entwickelt. Merkel dürfte das im Hinterkopf haben, wenn sie als Antwort auf die Euro-Krise Strukturreformen und Bildungsinvestitionen fordert.
Heute ist Geschichte dran
Zum 60. gönnt sich Merkel heute Abend einen neuen Bildungsschub. Im Adenauer-Haus gibt es wieder eine. Heute ist Geschichte dran. Die Kanzlerin hat sich einen Vortrag des Konstanzer Historikers Jürgen Osterhammel gewünscht. Wie kein anderer hat Osterhammel den Blick der Geschichtswissenschaft auf die globalen Zusammenhänge historischer Entwicklungen geöffnet.
"Das beginnt im Alltag. Dass man die anderen zunächst überhaupt erst mal wahrnimmt, dass man sich die Frage stellt – das klingt jetzt sehr naiv, ist aber eine gewisse kulturelle Leistung – wie war es dann gleichzeitig anderswo?"
In bahnbrechenden Studien hat Osterhammel vor allem die wechselseitige Wahrnehmung Europas und Asiens im 19. Jahrhundert als Epoche einer Weltverwandlung beschrieben. Osterhammel trifft damit eine Lebenserfahrung Merkels in ihrem sechsten Lebensjahrzehnt: Auf der weltpolitischen Bühne deckt sich der Horizont immer weniger mit dem begrenzten Sichtfeld von Wählern und Politikern daheim, im vermeintlich behaglichen Schutzraum des Nationalen:
"Das ist genau die Kernfrage, die mich dann umtreibt, wenn ich sage: wovon wollen wir eigentlich dann mal später leben. Stellen sie sich mal vor, die Chinesen können eines Tages so gut Autos bauen wie wir? Dann werden die nicht mehr bei uns gebaut, sondern in China. Gentechnologie haben wir keine Lust drauf – und das brauchen wir nicht, dies brauchen wir nicht. Aber wenn man zum Schluss nichts mehr braucht, hat man zum Schluss auch nichts mehr, wofür man arbeiten kann."
Erregt fragen viele Beobachter im Vorfeld des heutigen Geburtstagsabends, ob man da vielleicht etwas darüber erfahren werde, was Merkel selbst eigentlich noch so vor hat und vor allem wie lange sie noch Kanzlerin bleiben will. Hier aber endet die Erkenntniskraft der Wissenschaft. Das Geburtstagskind jedenfalls empfiehlt die reine Empirie:
"Also ich würd mal sagen, es hat sich schon immer jemand gefunden, der was werden wollte in Deutschland."
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