Die Kandidatin

Von Eberhard Schade |
Es ist unwahrscheinlich, dass sich Gesine Schwan bei der Wahl des Bundespräsidenten im Mai gegen Amtsinhaber Horst Köhler durchsetzen wird. Und dennoch: Die ehemalige Präsidentin der Europa-Universität Viadrina kämpft unermüdlich um den Einzug ins Schloss Bellevue.
Die lichtdurchflutete Mensa der Bertolt-Brecht-Oberschule in Berlin-Spandau ist zum Bersten gefüllt. 400 bis 500 Schüler und Schülerinnen sitzen in engen Stuhlreihen. Warten ungeduldig dort, wo sie sonst entspannen, Kaffee trinken, Erdnüsse und Eis essen. Wer hier ist, hat zwei Stunden keinen Unterricht – genau deshalb sind auch Jasmin und Eileen gekommen.

"Uns wird nicht wirklich viel erzählt, was jetzt hier abgeht. Halt nur, dass jemand herkommt und uns viel über Demokratie erzählt, deswegen habe ich jetzt nicht wirklich viel Erwartungen, ich lass mich einfach mal drauf ein. Ich bin ganz ehrlich, die deutsche Politik ist mir auch ein bisschen fade, deswegen sitz ich ja auch hier."

Der "jemand", der gleich kommt, ist die Frau, die das höchste Amt im Staat anstrebt. Gesine Schwan, Bundespräsidentschaftskandidatin.

"Liebe Gäste, liebe Schülerinnen, Frau Gesine Schwan sitzt im Taxi, ist aber noch nicht ganz angekommen. Wir wollen mit der Begrüßung ein paar Minuten warten, ich hoffe dass sie das hinnehmen."

Fünf Minuten später ist sie da. Man erkennt sie schon von weitem, an diesem Schopf, der - vor allem wenn sie auf hohen Schuhen tippelt - wie ein Leuchtturm aus der Masse der 08/15-Frisuren herausragt. Vorbei an den vielen Schülern bahnt sich die 65-Jährige ihren Weg auf das Podium.

"Was macht Demokratie aus, das ist das Motto unserer heutigen Veranstaltung und ganz herzlich begrüße ich Frau Professorin Gesine Schwan, die als Bundespräsidentschaftskandidatin sich heute zur Verfügung gestellt hat. Ich wünsche mir einen herzlichen Applaus."

Schwan sitzt zwischen einem Lehrer der Schule und einem jungen, smarten Bundestagsabgeordneten, einem ihrer früheren Studenten. Der Lehrer hatte die Idee zu der Veranstaltung, der Abgeordnete den Kontakt. Schwan soll ein Impulsreferat halten, zum Thema "Was macht Demokratie aus?" Danach haben die Schüler Gelegenheit, Fragen zu stellen. Politik zum Anfassen also.

"Ganz herzlichen Dank. Zunächst mal ist es eine Freude in so viele junge Gesichter zu sehen und in eine so volle Aula, die sich für Demokratie interessiert, das ist schon mal prächtig."

Die zu spät gekommene verliert keine Zeit. Stellt sich vor: 65 Jahre in 5 Minuten.

"Ich bin jetzt 65 Jahre alt, das hat den Vorteil, dass ich mehr erleben und erfahren konnte. Geboren bin ich in einem richtigen Lehrerhaushalt …"

Ein streitbares Haus, in dem sie schon früh dazu erzogen wird, einmal politische Verantwortung zu übernehmen. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg gehört dazu vor allem das Bewusstsein, dass es sehr viel wieder gut zu machen gilt. Auch deshalb schicken ihre Eltern sie auf ein französisches Gymnasium. Damit sie den sogenannten "Erbfeind" besser kennenlernt.

"Dann habe ich Philosophie, Politikwissenschaft usw. studiert und da ich mich sehr für Polen interessiert habe, habe ich dann angefangen polnisch zu lernen."

Einfach so, weil sie glaubt, Völkerverständigung nach Osten ist noch wichtiger als in Richtung Westen. Ihre Doktorarbeit schreibt sie über einen polnischen Philosophen, 1977 habilitiert sie sich mit einer Arbeit über die Gesellschaftskritik von Karl Marx. 1999 wird sie Präsidentin der Europa Universität Viadrina in Frankfurt/Oder.
Jasmin und Eileen nicken anerkennend.

"Aber nun soll ja die Frage heute lauten: Was macht heute Demokratie aus, wie können wir heute Demokratie praktizieren?"

Schwan spricht jetzt davon, wie die Bürger mit ihrem Denken, Tun und Fühlen politische Institutionen beeinflussen und beleben können und wie gleichzeitig das Vertrauen in Institutionen wie zum Beispiel Parteien verloren geht. Sie sitzt dabei sehr aufrecht. Das hat auch mit ihrem Nacken zu tun, der steif geworden ist, ihrem Kopf nicht mehr erlaubt, sich zu drehen. Ihre Sprache: lebendig. Ohne Skript oder Notizen guckt sie die Schüler und Schülerinnen direkt an. Hält dabei das Mikrofon in der rechten Hand, gestikuliert mit der linken.

"Heute heißt Demokratie in meiner Sicht nicht nur Engagement in den traditionellen Institutionen, sondern gerade auch in Initiativen, ob in der Schule oder im Sportverein oder in irgendeiner Integrationsgruppe oder am runden Tisch gegen Gewalt. So stelle ich mir Demokratie heute vor. Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit."

Nach knapp 20 Minuten Referat und einem herzlichen Applaus will sie erneut keine Zeit verlieren, wartet auf Fragen.

"Meistens ist ja ne Frau die Mutigste als erste – ein Mann, aha."

Lukas traut sich. Und hinter ihm baut sich, anfangs zögerlich, dann immer schneller, eine kleine Schlange auf. Janine, Marcel, Jessica. Einer nach dem anderen tritt an ein aufgestelltes Mikrofon im Mittelgang.

"Ich bin Lukas und meine Frage ist: nach den Hessen-Wahlen mit 61 Prozent Wahlbeteiligung – ob es sinnvoll wäre aufgrund dieser Politikverdrossenheit für mehr Volksentscheide auf Bundesebene zu plädieren, um möglicherweise den Bürgern zu zeigen, dass ihre politische Meinung gefragt ist?"

Die Fragen der Schüler gehen über Volksentscheide, Bildung, Integration bis hin zum Thema Innere Sicherheit. Gesine Schwan macht sich ab und zu ein paar Notizen, nach der fünften Frage ist sie wieder dran. Und kommt gleich auf eines ihrer Lieblingsthemen zu sprechen: die Bildung.

"Es gibt zwei Grundaspekte bei der Bildung. Zum einen ist die finanzielle Ausstattung bei der Bildung zu gering. Und ich hätte es besser gefunden, wenn da nicht nur in die Häuser investiert würde sondern in die Menschen …"

… zum anderen ist es die Frage, wie wir Bildung verstehen. Gesine Schwan findet, dass diese in Deutschland zu stark an Elitestandards gemessen wird. Indirekt sieht sie auch eine Ursache der Finanzkrise ist.

"Die Finanzkrise ist meiner Meinung nach entstanden auch dadurch, dass ganz viele sogenannte Verantwortungsträger einfach mitgelaufen sind mit dem, was man so machte, in diesem Hamsterrad mitgelaufen sind, weil die Konkurrenz es verlangte, es sich so gehörte. Das ist ein Verhalten, das zeigt wir haben nicht genügend nonkonformistische Persönlichkeiten in diesen Verantwortungspositionen."

Jetzt muss die Kandidatin los. Ein wichtiges Vier-Augen-Gespräch in der SPD-Zentrale. Genauso schnell wie sie durch die Mensa aufs Podium getippelt ist, bahnt sie sich nun den Weg zurück. Trotz Geschubse und Gedränge strahlt sie dabei wie ein Popstar. Und erzählt - so ganz nebenbei - einer Lehrerin, die sie hinaus begleitet, wie gut sie gestern Abend, auf einem Podium mit Michael Naumann in Hamburg, war.

Draußen wartet ein Taxi. Im Taxi: back to business. Schwans Mine wird plötzlich ernst – sie reckt ihren Kopf nach vorn, dort sitzt ihre Assistentin. Ein Interview muss sofort gestoppt werden.

"Ich hab per Fax da was bekommen, ein Interview, das ich im Sommer gegeben hab, das kam jetzt plötzlich hoch und ich finde ist im Moment völlig deplaziert – Frau im Spiegel. Jedenfalls stoppen, das wäre sehr wichtig."

Gesine Schwan lächelt, lehnt sich zurück, wirkt sofort wieder entspannt. Aus einer kleinen schwarzen Handtasche holt sie zwei Mobiltelefone, legt sie in ihren Schoss, lässt sie aber noch ausgeschaltet. Dann ein Zwei-Euro großes Cremedöschen. Sie öffnet es, streicht Creme auf beide Augenlider. Sie dreht ihren Oberkörper in Richtung Gesprächspartner. Und zieht spontan ein Resümee ihres Besuchs an der Oberschule.

"Ich glaube, wenn man das so sieht, kann man nicht einfach von Politikverdrossenheit oder Desinteresse oder so was sprechen und das fand ich sehr ermutigend. Ich mach so was gerne."

Gleich der Termin im Willy-Brandt-Haus, später dann noch ein Gespräch mit der Berliner Pressekonferenz, alle anderen Termine heute hat sie nicht im Kopf. Sie weiß nur: Es werden immer mehr. Denn sie möchte am 23. Mai zur Bundespräsidentin gewählt werden. Eigentlich kein Amt, das man sich in einem Wahlkampf erstreitet oder durch Rütteln an irgendwelchen Gitterstäben. Sie aber kämpft, um wahrgenommen zu werden. Auch wenn sie die vielen Termine in ihrem Kalender herunter spielt.

"Prinzipiell hat sich mein Leben nicht verändert. Ich habe immer einen Kalender gehabt, der optisch erstens ´ne DinA4-Seite war und morgens los ging und oft bis 23 Uhr ging."

Weil sie als Präsidentin der Viadrina viele öffentliche Auftritte hat, zeitgleich über Jahre als deutsch-polnische Koordinatorin arbeitet. Und jetzt, mit 65: nach 2004 die zweite Kandidatur für das höchste Amt im Staat. Das Einzige, sagt sie, was sie in der aktiven Politik wirklich interessiert.

"… weil es auch in Kontinuität zu meinem bisherigem Leben steht, also nicht dass ich jetzt sagen will, es liefe alles darauf zu, aber die Tätigkeit ist eine, die ich auch in meinem Leben in anderem Kontext meinte praktiziert zu haben. Zu einer Verständigung führen ist etwas, was ich eigentlich jahrzehntelang gemacht habe und das würde mich auch in dem Amt locken …"

Diesmal, sagt sie, sei die Kandidatur ungemütlicher, die Kommunikation mit den Medien lange nicht so entspannt wie noch 2004.

"Das ist zum Beispiel ne Gefahr, ich mach hin und wieder ein paar Witze und das kann dann oft ausgeschlachtet werden wenn es in einen anderen Kontext kommt …"

Schwans Problem ist, dass ihr forsches Naturell manchmal ganz einfach mit ihr durchgeht. Sie nicht leise, sondern laut, nicht vornehm, sondern eher direkt versucht, auf sich aufmerksam zu machen. Gerade am Anfang ihrer Kandidatur. Da posiert sie für ein Foto mit einem ausgestopften Schwan in einem Ruderboot oder hält wie Ben Hur die Zügel eines Pferdewagens in der Hand. Inszenierungen, die sie heute bereut. "In manchen Momenten", schreibt ein Spiegel-Journalist noch im Februar 2009, "wirkt Schwan als bewerbe sie sich nicht für Schloss Bellevue, sondern für den Friedrichstadtpalast!.
Einmal beim Thema - fällt ihr plötzlich wieder das Interview mit der Frau im Spiegel ein.

"Hast du den Peter Ziegler erreicht? Ich hab´ ihn nicht erreicht, hab´ aber mit Phillip gesprochen, der kümmert sich jetzt um alles. Ich finde auch die Perspektive Frau im Spiegel ist nicht die Perspektive die ich jetzt brauche …"

Schwan klappt jetzt ihre Handys auf. Tippt langsam den ersten Code ein, den ihres Diensthandys.

"Acht unterdrückte Anrufe. Code. Hallo Thymian, du hast bei mir angerufen. Ja also wir haben gerade gesagt, wir brauchen schon noch zehn Minuten. Sind jetzt gleich am großen Stern in einer Minute."

… dann will sie wissen, wer sie privat angerufen hat.

"Neue Nachrichten – dann muss ich das abfragen, das ist mein Privates."

Ein Termin, der fällt ihr doch noch ein. Ihre Rede in Aachen in fünf Tagen, zum Thema Europa - auch eines ihrer Lieblingsthemen. Das Skript hat sie gestern, im Zug, geschrieben. Jetzt sitzt gerade einer ihrer Mitarbeiter dran. Er soll noch Schlagwörter einarbeiten. Die Chancen erhöhen, um damit in die Nachrichtenagenturen zu kommen. "Das hat man als Wissenschaftlerin nicht so auf der Pfanne", sagt sie, lacht.

"So, das war es, ich wünsche ihnen noch einen schönen Tag. Tatjana, kannst du das machen? Guten Tag …"

Fünf Tage später. Im mit Fresken bestückten Krönungssaal des Rathauses in Aachen. Wieder gespanntes Warten. Wieder rund 400 bis 500 Zuhörer. Diesmal ist das Publikum deutlich älter, gesetzter. Dunkelblau dominiert bei der Kleidung, silber-grau bei der Haarfarbe. Wieder kommt die Rednerin ein paar Minuten zu spät. Und sie wird auch hier mit einem sehr herzlichen Applaus begrüßt.

Eingeladen hat die Friedrich Ebert Stiftung, die Begrüßungsworte spricht der Oberbürgermeister der Stadt. Die ersten zwei Sitzreihen für Vertreter der Presse sind nicht gut besetzt. Der Bonus der Quereinssteigerin von 2004 er ist offenbar verflogen. Die Mehrheitsverhältnisse in der Bundesversammlung scheinen klar, vor allem nach der Hessen-Wahl. Auf den für Journalisten reservierten Plätzen in Reihe eins und zwei sitzt neben Schwan und einem Vertreter der Friedrich Ebert Stiftung lediglich Schwans Assistentin Tatjana.

Der Oberbürgermeister kommt sehr schnell zum eigentlichen Thema, die zunehmende Europamüdigkeit. Wendet sich dann direkt an Gesine Schwan. Seine Erwartungshaltung an ihre Rede: groß.

"… eine Antwort, eine Möglichkeit anbieten für die Diskussion die derzeit im Gange ist und die hoffentlich zu einem Ergebnis führt, das dann zu mehr europäischer Euphorie unter den Menschen auch führt. In diesem Sinne Ihnen, uns allen viel Erfolg, denn letztlich ist es unser Europa um das es geht!"

Die Kandidatin für das Bundespräsidintenamt tippelt auf hohem Schuhwerk an das erhöhte Rednerpult aus Plexiglas. Diesmal leuchtet nicht nur ihr Haarschopf, sondern vor allem ihr schreiend pinker Blazer. Der beißt sich farblich mit dem roten Blumengesteck vor dem Rednerpult.

"Sehr geehrter lieber Herr Bürgermeister, meine Damen und Herren. Aachen, der Krönungssaal und das deutsch-polnische war gar nicht mein erstes sondern das deutsch-französische, ich bin ja zur Schule gegangen in einem französischen Gymnasium …"

Wieder gibt Gesine Schwan ihre Schulgeschichte zum Besten, die Sozialisation mit dem Nachbarn Frankreich. Dann guckt sie kurz auf ihr Skript, die eigentliche Rede beginnt.

"In Krisen brechen Probleme auf, die schon lange bestanden …"

Wie so oft in den vergangenen Wochen spricht Schwan von der Finanzkrise, nötigen Richtungsentscheidungen. Sie stellt dabei eine zentrale Frage in den Mittelpunkt. Wollen wir Europäer Freiheit oder Unterwerfung? Unsere Welt nachhaltig selbst gestalten oder gesteuert werden von einem anonymen Markt.

"Wir stehen am Scheideweg: Entweder wir schaffen das soziale Europa oder das Europa des gemeinsamen Marktes verliert seinen Zusammenhalt ..."

Schwan versteht die Krise auch als Chance, genau wie ihr Konkurrent, Horst Köhler. Sie glaubt jedoch, dass Nichtregierungsorganisationen besser geeignet wären, neue Marktregeln zu kontrollieren als eine Mammutorganisation wie der Internationale Währungsfonds.
In Aachen kritisiert sie vor allem die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes. Dessen Richter hätten zuletzt die wirtschaftliche Freiheit über soziale Errungenschaften gestellt. Und das habe in Europa zu einem Gefühl sozialer Kälte geführt. Schwan plädiert für einen Aufbruch, eine neue Debatte – und das möglichst schnell.
Ihre Rede dauert fast eine Stunde, an einigen Stellen ist sie ein wenig abstrakt, analytisch in der Sprache. Das Publikum wirkt konzentriert, aber nicht mitgerissen. Eine Mitvierzigerin in der fünften Reihe hält über weite Strecken der Rede ihre Augen geschlossen.

"Deshalb brauchen wir das ganze, brauchen wir das soziale Europa. Darüber müssen wir öffentlich debattieren und dies schon vor der Europawahl. Ich danke ihnen für ihre Aufmerksamkeit. Langer Applaus."

Gemessen am Applaus ist Schwans Rede ein Erfolg. Unten, im Foyer des Rathauses, sind die Reaktionen gemischt.

"Gut, bin nicht so ganz unvorbehaltlich gekommen, aber als Rednerin hat sie mir gut gefallen. Sehr gute Rednerin und sie hat das, was man im Prinzip alles weiß, doch so umformuliert, dass man ihre Logik sehr gut verstanden hat, eine empfehlenswerte Rede, die man verbreiten sollte. Ich bin eigentlich glühende Europäerin und sie hat drei oder vier Viertel ihrer ganzen Ansprache darüber geredet, warum die Leute nicht Europäer sind, sie hat mich gar nicht begeistert jetzt zur Wahl zu gehen und für Europa zu kämpfen, das hat sie mir nicht vermitteln können."

In einer Ecke des Weißen Saals, wo jetzt Blätterteig-Canapés, Saft, Wasser und Weißwein gereicht werden, steht ein großer, schlanker Mann im Trenchcoat. Manfred Fester. Der Mitfünfziger nippt an einem Apfelsaft, unter seinem rechten Arm klemmt ein brauner Umschlag.
Fester ist ehemaliger Betriebsratsvorsitzender einer Glasfabrik in Aachen, die Insolvenz anmelden musste. Er hat alles versucht, sagt er, die Arbeitsplätze in seinem ehemaligen Betrieb zu retten – umsonst. Weil er sich von der Politik im Stich gelassen fühlt, ist er heute hier. Genau das will er Gesine Schwan sagen.

"…, dass der Gedanke des sozialen Europas sicherlich richtig ist, aber wir mit dem sozialen Deutschland vorangehen müssen, um dann Forderungen für Europa zu stellen gerade was die hohe Zahl der Insolvenzen angeht, denn das werden immer mehr - und hier muss der Staat einspringen."

Fester hofft, dass Schwan mit ihren Kontakten vielleicht irgendwie noch helfen kann. Deshalb auch der Umschlag, darin hat er ihr die wichtigsten Unterlagen kopiert.

"Ich hab auch entsprechend etwas vorbereitet, ich hab sie noch nicht gesehen …"

Gesine Schwan steht um die Ecke, im großen Foyer des Rathauses. Sie lässt sich gerade mit einer Berufsschulklasse fotografieren. Nimmt hier ein paar junge Männer in den Arm, klopft Schultern. Schwatzt und strahlt, alles sehr natürlich, kein bisschen aufgesetzt. Plötzlich steht eine ältere Dame vor ihr, will noch etwas aus ihrer Rede klären. Schwan ist sofort zur Stelle.

"Freiheit oder Unterwerfung – das stört mich irgendwie diese Unterwerfung. Genau, mich auch, deshalb habe ich es so formuliert. Ich wollte sie bitten, das noch mehr herauszunehmen, ich versuche das. Tschüß. Danke. Danke schön!"

Jetzt wittert Manfred Fester seine Chance, tritt sehr nah an Schwan heran.

"… ich bin ehemaliger Betriebsratsvorsitzender der Glasfabrik …"

… wird seine Kritik los, geht dabei sehr ins Detail. Schwan hört zu, schnappt sich zwischendurch mal ein Blätterteigteilchen, schiebt Fester dabei ein Stück weit von sich weg.

"Ich bin nun mal für Inklusion, ich höre zu …"

Auf Veranstaltungen wie diesen, so scheint es, mag sie Menschentrauben lieber als Vier-Augen-Gespräche. Sie nimmt den Umschlag entgegen, reicht ihn ihrer Assistentin und signalisiert Fester höflich aber bestimmt, dass sie sich jetzt noch anderen Fragen stellen will. Der Mann im Trenchcoat gibt, wenn auch widerwillig, nach.

Mit dem Echo heute, sagt Gesine Schwan später, ist sie zufrieden.

"Jedenfalls habe ich den Eindruck, das Nachdenken ausgelöst worden ist und das ist genau das, was ich möchte. Ich möchte die Probleme klar umreißen, ich möchte auch Widerspruch auslösen, denn sonst findet keine Debatte statt und ich hätte Freude wenn das für die Menschen sowohl intellektuell interessant ist aber auch politisch praktisch."

Den Vorwurf, dass ihre Sprache oft zu analytisch, ihre Reden oft gespickt mit Zitaten von Kant und Aristoteles sind - den will sie so nicht stehen lassen.

"Es geht nicht darum, mit Namen zu punkten, Und ich hab gerade von Menschen, die nicht hoch gebildet sind, ne positive Reaktion drauf gehört, während Hochgebildete immer denken, ich rede zu abgehoben."

Ihre Rede schafft es an diesem Sonntag in exakt eine Agenturmeldung. In fast allen Zeitungen am nächsten Tag steht dagegen die Meldung, dass die bayerischen Freien Wähler – das Zünglein an der Waage bei der Wahl am 23. Mai – ihre Stimmen mehrheitlich Horst Köhler geben wollen. Schwan winkt ab. Für sie noch lange kein Grund aufzugeben. Auch ich habe eine Einladung von den Freien Wählern, sagt sie nur und will in den nächsten Wochen gezielt auch FDP- und CDU-Delegierte umwerben. Für sie jedenfalls ist das Rennen noch lange nicht gelaufen.

"Es ist ja auffällig dass die, die meine Kandidatur ablehnen, zugleich betonen, das Spiel sei gelaufen, sie würden sich nicht so scharf gegen mich äußern, wenn das Spiel gelaufen wäre. Ich glaube, dass die Chancen 50 Prozent für jeden sind und freue mich wenn ich gewinne."

Und was, wenn am 23. Mai Horst Köhler wieder gewählt wird?

"Dann hat ein demokratischer Wahlakt stattgefunden."

… sagt die Kandidatin kühl und schnappt sich eine weitere Blätterteigpastete.