"Die Kampfreserve der Partei"

Lutz Hachmeister im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 28.07.2009
In einer Montage aus Archivbildern und Interviews mit prominenten Zeitzeugen erzählt der ARD-Dokumentarfilm "Freundschaft! Die Freie Deutsche Jugend" die Geschichte der Jugendorganisation der DDR. Er habe vergeblich versucht, Egon Krenz zu gewinnen, so Lutz Hachmeister, einer der beiden Filmemacher, im Gespräch.
Stephan Karkowsky: Ein Westdeutscher dreht einen Dokumentarfilm über die Freie Deutsche Jugend, die staatliche Jugendorganisation der DDR. "Freundschaft! Die Freie Deutsche Jugend" läuft heute Abend im Ersten. Ob es Vorteile hat, dass der Dokumentarfilmer Lutz Hachmeister nie selbst im Blauhemd steckte, das fragen wir ihn selbst. Morgen, Herr Hachmeister!

Lutz Hachmeister: Morgen!

Karkowsky: Sie sind gebürtiger Ostwestfale, was gab es denn in Ihrer Jugend so Schönes? Pfadfinder St. Georg? Weil für die West-FDJ sind Sie ja zu spät geboren.

Hachmeister: Überhaupt nichts. Ich komme aus einer liberalen, sozialdemokratischen Familie und da war die Gymnasialerziehung genug. Ich war zu Studentenzeiten kurz davor, in die Jusos einzutreten, habe das dann, aus welchen Gründen auch immer, sein gelassen, aber das war mein einziger Kontakt mit einer Jugendorganisation, politischen Organisation. Das war mir immer sehr fremd diese Welt.

Karkowsky: Wir übernehmen das in Ihren Wikipedia-Eintrag, "wäre fast mal Juso geworden". Dass es auch im Westen eine FDJ gab, das dürften viele nicht mehr wissen. Warum ist die damals verboten worden 1951?

Hachmeister: Ja, sie ist ja interessanterweise viel früher verboten worden als die KPD, und das zeigt schon, dass die Adenauer-Regierung diese Organisation als außerordentlich gefährlich angesehen hat, ideologisch. Also, die DDR hat, die damals entstehende DDR hat versucht, auch für die westdeutschen Jugendlichen diese Angebote von Freizeitgestaltung, Spaß, Sport zu machen, mit einer milden ideologischen Indoktrination, und das war offensichtlich durchaus attraktiv für die westdeutschen Jugendlichen. Das hat die Adenauer-Regierung erkannt und ist dann, wie unser Film auch zeigt, sehr rigide gegen diese Organisation vorgegangen, also deren Führer, die natürlich im Osten geschult waren, sind ja zum Teil zu mehrjährigen, harten Zuchthausstrafen verurteilt worden, die sie auch ganz absitzen mussten. Das ist schon ein sehr unbekanntes Kapitel der frühen Bundesrepublik.

Karkowsky: Darüber lernen wir was in Ihrem Film, aber der Hauptteil geht natürlich über die Ost-FDJ. Sie haben das gemacht mit einer Montage aus Archivbildern und neuen Interviews mit prominenten Zeitzeugen. Was für eine Perspektive haben Sie gewählt, um sich diesem Thema FDJ zu nähern?

Hachmeister: Der erste Angang zu dem Thema war, ob wir nicht die Mädchen wiederfinden, die im Sommer 1989 noch einmal schwungvolle Reden – ich glaube, es war das Pfingsttreffen der FPJ – an Erich Honecker halten und er mit so einer Art fast schon versteinerten Miene sich das anhört. Er kann sich gar nicht mehr richtig freuen, man sieht das diesen Bildern an, weil er andere Sorgen hat inzwischen. Das hat sich dann als schwierig erwiesen. Wir haben uns dann dafür entschieden, eine Gesamtgeschichte der FDJ wirklich zu erzählen und die Auswahl der Zeitzeugen bemaß sich auch danach. Wir wollten Zeitzeugen haben, die schon in den 1950er-Jahren in der FDJ waren oder sogar noch früher wie Klaus Bölling, der dann später Regierungssprecher unter Helmut Schmidt wurde. Und wir wollten auch Zeitzeugen haben, die diese Epoche des Zusammenfallens, des Implodierens der DDR genau nachvollziehen konnten wie Christian "Flake" Lorenz, der Keyboarder von "Rammstein", der nie so richtig in der FDJ war und eher sich wirklich im Untergrund als Dropout bewegt hat.

Karkowsky: Zu sehen sind im Film auch Politiker natürlich wie Lothar Bisky, wie Hans Modrow, eine, wie ich fand, erstaunlich kritische Petra Pau, die sich auch mit der Vergangenheit auseinandersetzt. Warum haben Sie zum Beispiel Ex-FDJ-Chef Egon Krenz nicht befragt?

Hachmeister: Wir haben das versucht, natürlich, das wäre ja sträflich für jeden halbwegs aufgeweckten Dokumentarfilmer, wenn er das nicht versucht hätte. Aber er hat nach mehreren brieflichen Kontakten, Mailkontakten, dann abgelehnt, weil er – aus seiner Sicht glaube ich zu Recht – gesagt hat: Ich habe so schlechte Erfahrungen mit den Westmedien, wie er immer noch sagt, gemacht, dass ich dabei nur schlecht aussehen kann. Und ich glaube, er hatte Recht, was in diesem Fall nicht an uns, also den Westmedien, liegt, also an meinem Kollegen Mathias von der Heide und mir, sondern dass seine Rolle in der FDJ einfach nicht zu beschönigen ist. Er war wirklich der Berufsjugendliche, er war ja schon Ende 40, als er mit seinem Job bei der FDJ aufhörte. Und bei allen Interviewpartnern klang auch durch, dass er in dieser Rolle zunehmend weniger ernstgenommen wurde und auch natürlich mit zur Versteinerung der FDJ nach einer gewissen Tauwetterphase in den 1970er-Jahren beigetragen hat, und da hätte er sich kaum herausreden können. Ich habe also da ein subjektives Verständnis dafür, dass er sich dem Film verweigert hat.

Karkowsky: Was haben Sie denn bei Ihren Recherchen nun gelernt über die FDJ? Welche Funktion hatte sie für den Staat, für die Eltern und natürlich vor allem für die Jugend?

Hachmeister: Eine wichtigere Funktion, als man eigentlich denkt. Man muss sich vorstellen, die FDJ hatte die auflagenstärkste Tageszeitung der DDR mit der "Jungen Welt" vor dem "Neuen Deutschland", sie hatte wirklich ein publizistisches Imperium, sie hatte ihren eigenen Hörfunksender mit DT64. Das konnte nicht mehr eins zu eins durchgestellt worden an die Jugendlichen, also, die Widerstandsmomente waren sehr stark, Indoktrination wurde auch als solche begriffen, aber so eine leise Ummantelung des DDR-Alltages mit dieser FDJ-Symbolik, mit den Fahnenappellen, mit dem Blauhemd, mit den auch attraktiven Angeboten wie Urlaubsreisen ins östliche Ausland, mit den Ferienlagern, auch durchaus mit diesen Freundschaftsbrigaden in Afrika – das war schon ein Angebot, das auf eine leise Art und Weise die Jugendlichen über eine lange Zeit an diesen Staat gebunden hat. Und das klingt so ein bisschen in den Interviews auch immer noch durch.

Karkowsky: Wir sprechen im Deutschlandradio Kultur mit dem Dokumentarfilmer Lutz Hachmeister über "Freundschaft", seinen Film über die FDJ, der heute Abend im Ersten läuft. Herr Hachmeister, die FDJ wird von den ganz scharfen Kritikern ja gern auch als Ost-Hitlerjugend bezeichnet. Können Sie das nach Ihren Recherchen noch immer nachvollziehen?

Hachmeister: Nur zum gewissen Teil. Die Hitler-Jugend war ja sehr stark, vom Namen her schon, auf einen personifizierten Führer fixiert. Die FDJ hieß ja nicht Honecker-Jugend oder Ulbricht-Jugend und schon gar nicht Krenz-Jugend, das hätte gar nicht funktioniert. Zum anderen: Paradoxerweise war die FDJ eben viel mächtiger als die Hitlerjugend, weil sie über den viel größeren Apparat verfügte. Baldur von Schirach war eben nicht der präsentive Nachfolger des Führers, während Honecker und Krenz aus der FDJ ganz nach oben an die Spitze des DDR-Staates gekommen sind und diese Idee, die FDJ ist wirklich die Kaderschmiede der SED oder die Kampfreserve der Partei, wie es ja so schön hieß, die ist wirklich umgesetzt worden. Das ist in der Hitlerjugend in der Form nicht passiert. Ein großer Unterschied zwischen der Hitlerjugend und der FDJ ist, dass die FDJ die gesamte studentische Erziehung und Betreuung an die Hand bekam. Im NS-Staat war die Hitlerjugend nur für die Jüngeren zuständig, und da gab es den NS-Studentenbund und es gab viele Schwierigkeiten mit der Studentenpolitik im NS-Staat. Und daraus hat die DDR sehr gelernt und gesagt: Wir müssen die FDJ als eine Institution betrachten, die die Jugendlichen im Grunde bis zum Alter von 27 Jahren, 28 Jahren umfasst, und das sieht man ja am Beispiel von Angela Merkel, sie hat genau diese langjährige Karriere als mittlerer Kader in der FDJ gemacht, und das merkt man ihrem Regierungsstil übrigens auch noch an, diese Schule.

Karkowsky: Sie sagt ja auch, in einem frühen Interview wird sie zitiert, sie sei gern in der FDJ gewesen. Das sagen ja viele. Anna Rosenbaum von "Rosenstolz" hat in einem Interview gesagt, sie fand die FDJ gut, die habe die Kinder von der Straße geholt. Sind solche vereinfachenden Aussagen hier an dieser Stelle ungefährlich?

Hachmeister: Das ist wirklich eine starke Verklärung. Ich glaube, dass es viele Jugendliche gegeben hat, die sich subjektiv in der FDJ wohlgefühlt haben, aber der Mehrzahl ging diese Art beiläufiger oder mehr oder weniger sichtbarer Indoktrination doch sehr auf die Nerven, das merkt man auch in den Interviews, diese "Abzeichen für gutes Wissen" und das FDJ-Studienjahr. Man hat diese Zwangsmechanismen auch in der paramilitärischen Vorbildung, muss man ja auch sagen, die FDJ hatte starke Verbindungen auch zur Stasi und zur NVA, sie war daran beteiligt, bestimmte westliche Rockkonzerte auf der anderen Seite der Mauer zu stören, also diese berühmten Mithörer im Osten wurden dann doch auseinandergejagt – ganz so harmlos, wie es mit den blauen Hemden und der schmissigen Musik erscheint, war diese Organisation denn doch nicht.

Karkowsky: Aber man hört in Ihrem Film wenig Interviewpartner, die wirklich Hass oder ganz tiefen Groll noch hegen gegen die FDJ. Wie erklären Sie sich das?

Hachmeister: Ja, weil die FDJ dann doch nur wenige, die sich einmal für sie entschieden hatten, wirklich belangt hat. Man ist da so mitgeschwommen, aber es gab keine wirkliche FDJ-Gerichtsbarkeit oder ähnliches, also, diejenigen, die nicht in die FDJ wollten, wurden schon vorher drangsaliert. Und insofern gab es wenig unangenehme, persönliche Erlebnisse in der FDJ, sondern eher so diese zunehmende Langeweile über den Realitätsverlust dieser Organisation, die ja exakt dann den Realitätsverlust der DDR-Führung spiegelt. Jan Carpentier, der ehemalige Moderator dieser legendären Sendung "Elf 99" ist einer der wenigen in dem Film, die wirklich deutliche Worte über das Groteske und das Bizarre und auch die zunehmende Schrulligkeit dieser älteren FDJ-Chargen finden. Aber er ist da schon durchaus in der Minderheit.

Karkowsky: Zwischendurch hatte ich immer wieder das Gefühl, jetzt erzählen Sie auch streckenweise mal lieber die Geschichte von DDR-Undergroundmusik, oder Sie halten sich relativ lange mit dem Untergang der DDR auf, also, so ein richtig scharfes Schwert ist das nicht, mit dem Sie die FDJ dort sehen?

Hachmeister: Wenn wir 90 Minuten nur die FDJ-Bürokratie abgebildet hätten, dann wäre der Film sehr langweilig geworden.

Karkowsky: Ich kann es bestätigen, er ist sehr kurzweilig geworden.

Hachmeister: Ja, und ein bisschen Popkultur war da zur Auffrischung durchaus geboten. Auf der anderen Seite gab es Themen, die man noch in einem eigenen Film hätte recherchieren können: der Untergang der FDJ, was ist wirklich mit dem FDJ-Vermögen passiert, was ist aus den wirklich … Die FDJ hatte Zehntausende hauptamtliche Angestellte, was ist aus denen geworden? Das ist aber wirklich ein eigener Film, der auch noch mal eine andere, intensive Recherche erfordert. Die FDJ ist mit diesem Film beileibe nicht abgehandelt.

Karkowsky: Lutz Hachmeister, Ihnen vielen Dank, sein Dokumentarfilm über die FDJ heißt "Freundschaft! Die Freie Deutsche Jugend" und läuft heute Abend nach den Tagesthemen, 22.45 Uhr im Ersten.