Die jungen Alten kommen

Von Michael Hollenbach · 30.10.2010
Die jungen Alten, die 60- bis 80-Jährigen, sind heute so fit und gesund wie noch nie in der Geschichte der Menschheit. Gleichzeitig wachsen die Ansprüche an die ältere Generation. Das stellt auch die Kirchen vor neue Herausforderungen.
Wann ist ein Mensch eigentlich "alt"? Auch für Ursula Staudinger, Psychologin und eine der weltweit renommiertesten Alternsforscherinnen, gibt es darauf keine einfache Antwort. Die Bremer Professorin plädiert für einen differenzierten Blick auf das Alter:

"Die Rede von den sogenannten jungen Alten hat ihren guten Grund.
Denn man muss sich vorstellen, dass wir, wenn wir mal 60 geworden sind, noch im Durchschnitt eine Lebenserwartung von mindestens 25 Jahren haben und jetzt zu sagen, für diese 25 Jahre bezeichne ich mich als alt und das ist es und das ist ein Auslaufen: Muss man sich schon die Frage stellen, sind 25 Jahre nicht ein bisschen lang zum Auslaufen?"

Das sieht auch Gerhard Wegner so. Er ist Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD, der Evangelischen Kirche in Deutschland. Die Kirchen - die katholische wie die evangelische – tun sich noch schwer damit, auch die jungen Alten in den Blick zu nehmen – und dass, obwohl die Kirchen in dem Ruf stehen, Organisationen vor allem für die Älteren zu sein:

"Ich habe jetzt viele Vorträge gehalten im kirchlichen Bereich, und wenn Sie da über die Chancen des Alters sprechen, dann dauert es nach jedem Vortrag fünf Minuten und Sie sind beim Pflegethema, das ist so die kirchliche Situation. Wir haben in der Kirche eine Tradition, dass wir auf das Alter blicken als eine Zeit, wo die Menschen auf das Ende zugehen, auf den Tod zugehen. Es gibt auch viele theologische Konzepte, die das Alter von daher bestimmen, also wenn du alt bist, bist du näher am Tode und deswegen bist du stärker an religiösen Fragen interessiert. Das ist ja auch ganz wichtig, dass man das diskutiert - aber diese Sichtweise führt zu einem defizitären Blick auf das Alter."

Zumal sich die Religiosität der alten Menschen verändert hat und wohl weiter verändern wird. Früher galt der Spruch: Im Alter kommt der Psalter. Je älter man wird, desto frommer wird man. Das gilt nur noch bedingt, sagt die Soziologin Petra Angela Ahrens, die eine breit angelegte Befragung älterer Menschen durchgeführt hat:

"Was wir in der Tat mit unserer Untersuchung bei der Generation 60 plus feststellen können, ist, dass die Kirchenbindung noch leicht ansteigt, bis hin zu den 80-Jährigen. Wir stellen aber gleichzeitig fest, dass die Kirchenbindung insgesamt geringer ausfällt als in den früheren Untersuchungen. Es scheint so zu sein, dass sie insgesamt auch etwas rückläufig ist."

Und das Gottesbild ist ein anderes geworden. Wurde früher gerade in der älteren Generation das "Vater unser, der du bist im Himmel" oft sehr wörtlich genommen, hat sich das Bild eines personalen Gottes verschoben:

"Da zeigt unsere Erfahrung doch, dass man das differenzieren muss. Also wir haben verschiedene Gottesbilder nachgefragt und an erster Stelle steht die Aussage: Gott ist in den Herzen der Menschen, und unterschiedliche Gottesbilder finden wir auch in allen Altersgruppen dieser Generation 60 plus."
Doch die meisten Kirchengemeinden hätten diese Veränderungen noch nicht wahrgenommen, sagt Gerhard Wegner. Die Kirche würde oft nur durch eine diakonische Brille auf die Alten blicken. Ein 65-Jähriger ist aber in der Regel vom Tod so weit entfernt wie eine junge Mutter von der eigenen Geburt. Und dennoch würden die Theologen den letzten Lebensabschnitt häufig vom Tod und vom Sterben aus betrachten.

"Es muss vor allem darum gehen, die klassischen Formen von Altenarbeit mit Altenkreisen in der Gemeinde, Kaffee trinken, Dias gucken, Lieder singen - das kann nur ein kleines Segment in der Altenarbeit in der Zukunft sein. Was wir brauchen in diesen Bereich, ist ein gezielteres Zugehen auf diese älteren Menschen."

Eine neue Theologie des Alters versucht die letzte Lebensspanne, die sich ja nach der Pensionierung durchaus über 30 Jahre und mehr erstrecken kann, zu differenzieren. Das Credo lautet: Das Alter pluralisiert sich und wird ungleicher. Dem haben Kirche und Theologie Rechnung zu tragen. Zum Beispiel mit einem Blickwechsel: Weg von der Orientierung auf den Tod, hin zu einer Orientierung an der Geburt. Das Altersbild der Theologen dürfe nicht länger von einem "Hinfließen zum Tode" bestimmt werden, sondern von dem Beschreiten eines neuen dritten und vierten Lebensabschnitts.

Gerhard Wegner, selbst Theologe, gehört zu den Autoren des 6. Altenberichts der Bundesregierung, der im kommenden Monat veröffentlicht werden soll. In dem Bericht geht es um das Thema Altersbilder, um die Stärken und Potenziale des Alters. Vielleicht aus der Furcht heraus, in den Ruf eines Altenvereins zu geraten, grenze die Kirche ältere Menschen aus, vermutet Wegner. Zum Beispiel gibt es die Regel, dass im Kirchenvorstand oder in Aufsichtsräten der Diakonie mit 65 Schluss sei.

"Das diskriminiert diese Älteren. Wer heute 65 ist, das ist individuell sehr unterschiedlich, ob jemand noch in einem Aufsichtsrat oder einen Kirchenvorstand gut mitmachen kann, aber viele können dann sehr wohl noch ne ganze Zeit lang mitmachen, weil sie genau so fit sind wie manche jüngere und deswegen müssen die Altersgrenzen erheblich flexibilisiert werden."

"Ich fühle mich in einer wunderbaren Zeit. Ich habe manchmal das Gefühl, ich habe die beste Zeit meines Lebens","

sagt Henning Scherf, Alt-Bürgermeister von Bremen. Der 71-Jährige ist ein bekennender "junger Alter", der mit seinem Buch "Grau ist bunt" von den vielfältigen Möglichkeiten des Alters schwärmt:

"" Ich spüre, dass das Älterwerden normal geworden ist, dass sich fast alle beginnen, damit einzurichten und wir schrittweise lernen, mit einer solchen demografisch veränderten Gesellschaft umzugehen und den Alltag zu gestalten."

Der bekennende Protestant Henning Scherf ist so etwas wie der Sprecher der rüstigen Rentner, der auf die historische Einmaligkeit der heutigen Alten hinweist: Nie zuvor in der Geschichte waren die Alten noch so jung, so fit, so agil. Die meisten haben fast ein Drittel ihres Lebens vor sich, wenn sie in den Ruhestand gehen, und viele wollen etwas damit anfangen.

"In den Stadtgemeinden und in den Kirchengemeinden und überall, wo Menschen aufeinander angewiesen sind und hoffen, dass sie nicht allein bleiben - da sind alle die, die jetzt immer mehr werden, die richtigen Ansprechpartner. Sie sind so etwas wie der Boden der Zivilgesellschaft."

Auf diesem "Boden der Zivilgesellschaft" steht auch das reiche Angebot der Bremer St. Stephani-Kirche. Vor drei Jahren wurde St. Stephani, die Gemeinde von Henning Scherf, in eine Kulturkirche umgewandelt.

"Wir haben über 100 Ehrenamtliche, die dafür sorgen, dass diese Kirche jeden Tag von morgens bis abends offen ist. Das kann niemand bezahlen, und die sorgen dafür, dass da jeden Tag Leute etwas vorfinden: Da sind Ausstellungen, Veranstaltungen durch die Bank, das ist von eins auf 100 gegangen. Das, was diese Innenstadtkirche anbietet, ist unglaublich und die Träger sind just die, von denen wir reden."

Henning Scherf und die Arbeit der ehrenamtlichen Senioren in der Bremer Kulturkirche machen deutlich, wie wertvoll die aktiven Alten für die Kirchengemeinden sein können.
Noch stellen sich die Kirchen erst langsam auf die Bedürfnisse und Interessen der jungen Alten ein. Allerdings: Allen gesellschaftlichen Trends sollten sie dabei nicht folgen, meint die Leipziger Theologin Gunda Schneider-Flume. Sie kritisiert den Jugendwahn, der auf die Alten übertragen werde. Nicht jeder ältere Mensch müsse fit, produktiv und kreativ sein:

"Fragwürdig wird die ganze Rede von der Produktivität, wenn Personen nach dieser Produktivität beurteilt und bewertet werden. Die christliche Tradition kennt die Trennung von Person und Werk bzw. von Person und Produktivität. Die Person hat Anerkennung unabhängig von Produktivität und Leistung. Das muss allerdings auch gegen die Leistungsgesellschaft durchgehalten werden und immer stark betont werden."

Und jetzt auch bei alten Menschen.