"Die Jugend hat kein historisches Gedächtnis"

Pinchas Goldschmidt im Gespräch mit Matthias Hanselmann · 12.11.2013
Europa geht durch eine angespannte Zeit, sagt der orthodoxe Rabbiner Pinchas Goldschmidt: "Es gibt die Begegnung der Zivilisationen und auch den Kampf, und wir - die jüdische Minderheit - sind gerade in der Mitte."
Matthias Hanselmann: Fast jeder vierte in Europa lebende Jude scheut sich, seine religiöse Identität öffentlich zu erkennen zu geben und zum Beispiel im öffentlichen Raum eine Kippa zu tragen. Das Gefühl der Bedrohung unter den europäischen Juden wächst. Besonders ausgeprägt ist es in Frankreich und Ungarn, aber auch in Deutschland geben 32 Prozent der etwa 120.000 hier lebenden Juden an, antisemitische Ressentiments hätten in den vergangenen fünf Jahren deutlich zugenommen. Diese Daten sind Ergebnis einer neuen Studie der Europäischen Agentur für Grundrechte. Und sie sind Thema bei der Konferenz Europäischer Rabbiner, die bis heute in Berlin tagt.

Der orthodoxe Rabbiner Pinchas Goldschmidt ist Präsident dieser Konferenz, ich habe vor der Sendung mit ihm gesprochen und meine erste Frage war: Der Antisemitismus in Europa wächst also wieder, auch in Deutschland. Wie erklärten Sie sich das?

Pinchas Goldschmidt: Man vergisst die Vergangenheit, man möchte nicht sich mit der Vergangenheit befassen und bewältigen. Und die Jugend hat keine Memoiren, die Jugend hat kein historisches Gedächtnis. Und deshalb ist es der Auftrag der verschiedenen Regierungen in Europa, speziell in Österreich wie auch in Deutschland, alles dafür zu tun, damit die Jugend die große Gefahr von Antisemitismus, von Rassismus, von der Intoleranz einsieht.

Hanselmann: Sie haben den Antisemitismus einmal als Virus bezeichnet, das sich ändert und wechselt. Wie kommt es, dass sich dieses Virus gerade jetzt in Europa wieder neu ausbreitet, welche konkreten Gründe sehen Sie dafür?

Goldschmidt: Europa geht durch, ich würde nicht sagen, schlechte Zeiten, aber durch angespannte Zeiten. Wir hatten vor ein paar Jahren eine Finanzkrise und jetzt gibt es noch die Identitätskrise Europas mit der großen Immigration aus Nordafrika und dem Nahen Osten. Es gibt die Begegnung der Zivilisationen und auch den Kampf, und wir - die jüdische Minderheit - sind gerade in der Mitte.

Hanselmann: Sie haben auch einen militanten Säkularismus als eine der Ursachen genannt. Was genauer meinen Sie mit militantem Säkularismus, ist die Religionsfreiheit in den säkularen Gesellschaften Europas grundsätzlich bedroht, sehen Sie das so?

Goldschmidt: Ja. Wir sahen das auch mit der Beschneidungsdebatte in Deutschland, bis Kanzlerin Merkel sich mit dem Problem befasste. Wir sehen das jetzt auch mit dem Beschluss in Straßburg, und auch die verschiedenen europäischen Länder, die das Schächtverbot über koscheres Fleisch jetzt wieder eingeführt haben.

Hanselmann: Herr Goldschmidt, Sie sind nicht nur Präsident der Konferenz Europäischer Rabbiner, sondern auch Oberrabbiner in Moskau. Fühlen sich die russischen Juden im öffentlichen Raum frei, sich mit jüdischen Symbolen wie zum Beispiel einer Kippa zu erkennen zu geben?

Goldschmidt: Ich würde sagen, dass in den Großstädten, speziell in Moskau, das viel leichter ist als in Kleinstädten, wo vielleicht noch der alte bekannte Antisemitismus herrscht oder Menschen noch viel mehr Angst haben. Aber ich glaube, dass im Großen und Ganzen das öffentliche jüdische Leben sehr ausgeprägt ist und sehr wahrgenommen wird in der Öffentlichkeit.

Hanselmann: Wie ist die Stimmung in Russland den Juden gegenüber seitens der Regierung Putin?

Goldschmidt: Was Religionsfreiheit betrifft, da ist der Präsident Russlands, Herr Putin, ausgezeichnet. Er hat sich immer wieder gegen den Antisemitismus gestellt, er hat immer wieder die religiösen Freiheiten unterstützt, auch speziell die religiösen Freiheiten der jüdischen Gemeinde.

"Die großen Aktivisten sind alle weg"
Hanselmann: Herr Goldschmidt, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind rund eine Million Juden nach Israel ausgewandert. Wie hat sich die jüdische Gemeinde in Moskau seit der großen Auswanderungswelle nach Israel entwickelt?

Goldschmidt: Die Auswanderung hat wirklich viele Probleme für die Gemeinde gemacht, weil all die großen Aktivisten und Leaders, die die "Refuseniks" waren in den 80er-Jahren, die sind alle weg. Und es blieben mehr oder weniger nur die weniger aktiven und die assimilierten Juden. Und dann kam eine große Welle von ausländischen Rabbinern. Ich war auch einer, ich kam 89, ich selber bin Schweizer, war in Israel in Nazareth als Rabbiner tätig. Und die Gemeinde hat sich wieder organisiert und seitdem ist die Gemeinde aufgeblüht. Und wir haben heute mehr als 50 Synagogen, die neu aufgebaut wurden, jüdische Museen und auch ein rabbinisches Seminar.

Hanselmann: In der Sowjetunion galt nicht nur die matrilineare jüdische Identität, also die Zugehörigkeit zum Judentum, die sich über die Abstammung von einer jüdischen Mutter ableitet, sondern auch die Herleitung der jüdischen Identität über den Vater. Diese wird inzwischen vor allem in liberalen Gemeinden in den USA übernommen, sogenannte Vaterjuden werden auch in die Gemeinden aufgenommen. Wird diese Frage in Ihrer Moskauer Gemeinde diskutiert?

Goldschmidt: Ja, das war ein großes Diskussionsthema vor ungefähr zehn Jahren. Ich muss sagen, dass in Russland, auch weil Russland sehr mit Israel verbunden ist und, wie Sie wissen, israelisches Einwanderungsgesetz nicht nur väterlicherseits anerkennt, sogar ein Großvater oder eine Großmutter ist genug, um die israelische Staatsbürgerschaft zu erhalten.

Und das israelische Einwanderungs- oder Staatsbürgergesetz ist das Gegenbild der Nürnberger Gesetze. Wer nach dem Nürnberger Gesetz Jude war, kann auch nach Israel einwandern. Jetzt, in Russland heute wie auch in allen exsowjetischen Staaten haben wir den Fakt, dass viele, die nur väterlicherseits jüdisch sind, sich als Juden anerkennen und akzeptieren. Und was sehr interessant ist, dass viele von ihnen durch den Prozess eines Gijurs gehen, das ist ein offizielles Übertreten ins Judentum. Und auf der anderen Seite, was sehr interessant ist, dass das Reform- oder liberale Judentum überhaupt kein Volk in den exsowjetischen Staaten hat. Sehr klein und sehr unorganisiert.

Hanselmann: Können Sie sich als oberster Vertreter des orthodoxen Judentums in Europa vorstellen, dass sich auch das orthodoxe Judentum eines Tages für die Vaterjuden öffnen könnte?

Goldschmidt: Die einzige Möglichkeit wäre, einen Sanhedrin einzuberufen. Das ist die oberste Instanz des jüdischen religiösen Gerichts. Das letzte Mal, dass ein Sanhedrin zusammen war, war in der Zeit des zweiten Tempels, also mehr als 2000 Jahre zurück. Also, falls das geschieht, kann auch vieles andere geschehen.

Hanselmann: Die Konferenz Europäischer Rabbiner hat sich zum ersten Mal in Berlin getroffen, getagt haben Sie am Rande der Stadt, aber am 9. November haben Sie in der Brunnenstraße in Berlin-Mitte der Novemberpogrome vor 75 Jahren gedacht. Wie haben Sie persönlich sich in Berlin gefühlt?

Goldschmidt: Ich habe etwas Wunderbares von einer israelischer großer halachischer Kapazität gehört, als er gesagt hat: Als John F. Kennedy nach Berlin kam, sagte er, ich bin ein Berliner. Und er sagte, ich bin ein Berliner Jude.

Hanselmann: Und das würden Sie von sich aus auch so sagen?

Goldschmidt: Ja.

"Viele Themen aus der Kristallnacht"
Hanselmann: Wie würden Sie die Atmosphäre beschreiben, die Atmosphäre Ihrer Tagung, der Konferenz Europäischer Rabbiner?

Goldschmidt: Die Tagung war äußerst interessant, brisant. Wir hatten viele Themen aus der Kristallnacht und gestern gingen wir in einer Prozession mit Kerzen vom Brandenburger Tor bis zum Holocaust Memorial nebenan. Und mit Gesang des Psalmes "De profundis". Und früher hatten wir einen Galaabend mit dem Generalsekretär des Europarates, Herrn Jagland, der gekommen ist und zu uns gesprochen hat über die Beschneidungsresolution des Europarates. Wir hatten die Möglichkeit, miteinander zu reden über interne Probleme wie auch über die Vergangenheit und die Zukunft, miteinander zu reden.

Hanselmann: Was sind – und das wäre meine letzte Frage – was sind die strittigen Themen auf der Konferenz? Sind sich die europäischen Rabbiner in bestimmten Punkten uneinig?

Goldschmidt: Hören Sie zu, wir sind alle Studenten des Talmuds. Der Talmud fängt an mit einer Diskussion, mit einer Meinungsverschiedenheit. Das ist ganz natürlich. Und falls wir alle einig wären, würde es uninteressant sein. Also, wir diskutieren viel, wir hatten hier auch die zwei Oberrabbiner Israels, die mit uns waren, wir hatten auch hier den Generaldirektor des amerikanischen Rabbiner Councils, der mehr als 1000 Rabbiner zusammenbringt. Und wir sind mit Meinungsverschiedenheit, wir haben streng Orthodoxe, wir haben religiöse Zionisten, wir haben moderne Orthodoxe, die alle unter dem gleichen Dach sind.

Hanselmann: Was würden Sie denn als das kontroverseste Thema dieser Tagung bezeichnen?

Goldschmidt: Wir sprachen viel über die Familie, über die Position der Frau in der Halacha und in der Orthodoxie, das ist ein sehr bekanntes Thema, sehr interessantes Thema. Aber ich glaube, es ist ein sehr nützliches. Und ich glaube, dass unsere Konferenz sehr nützlich war.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.