Die italienische Revolution der 90er Jahre

Vorgestellt von Felix Florian Weyh |
Rechtzeitig zu den anstehenden italienischen Parlamentswahlen im April wirft Journalist Alexander Stille in seinem neuen Buch "Citizen Berlusconi" einen kritischen Blick auf mittlerweile zwölf Jahre italienischer Politik unter Berlusconi. Zur einen Hälfte liest sich das wie ein Krimi, zur anderen freilich wie eine akribische und detailversessene Anklageschrift.
Der Einzug Berlusconis in die politische Arena war ein Vorgang ohne Beispiel in der italienischen Politik. Am Anfang stand passenderweise eine Videokassette, die am späten Nachmittag des 26. Januar 1994 an alle italienischen Fernsehsender ausgeliefert wurde – gerade noch rechtzeitig für eine Ausstrahlung im Abendprogramm, aber zu spät für eine gründliche journalistische Begleitung des Ereignisses.

Als erster Sender strahlte Emilio Fedes Rete 4 die Videoaufzeichnung um 17.30 Uhr aus. Sie zeigte Berlusconi am Schreibtisch des Arbeitszimmers in seiner Villa sitzend, mit Fotografien seiner Angehörigen im Hintergrund; der Bildeindruck erinnerte deutlich an Ansprachen amerikanischer Präsidenten aus dem Oval Office.

So begann sie, die italienische Revolution der 90er Jahre: perfekt getimt und bestens inszeniert. Da gerierte sich einer als Staatsmann, bevor die Wahl überhaupt stattgefunden hatte, und signalisierte mit seinem puren Antreten, dass man sich weitere Auseinandersetzungen sparen könne, da er, der Retter in Not, vor der Tür stehe. Denn die gesamte politische Klasse Italiens befand sich in einer existenziellen Krise.

Keine Partei, gegen deren Repräsentanten nicht staatsanwaltliche Ermittlungen wegen Begünstigung, Bestechlichkeit, Rechtsbeugung oder dem Verdacht auf Mafiakontakte liefen. Außer bei ihm, dem Erfinder des europäischen Privatfernsehens, dem guten Menschen von Milano. So sah er sich und sieht sich vermutlich immer noch selbst. Andere sind wie der Journalist Alexander Stille da gegenteiliger Meinung. Sie bemerken vor allem seine …

"…extreme Skrupellosigkeit, die Bereitschaft, Rechtsvorschriften zu ignorieren, zu umgehen oder gegen sie zu verstoßen sowie alle Register zu ziehen, wenn es darum ging, sich politische Protektion von höchster Stelle zu holen."

Wer ist dieser Silvio Berlusconi, amtierender italienischer Ministerpräsident, Gründer des Wahlvereins Forza Italia, Besitzer des größten Firmenimperiums seines Landes (und des Fußballvereins AC Milan), der geläufige Begriffe aus dem Wörterbuch des politischen Anstands – wie "Interessenkonflikt" – gar nicht verwerfen muss, weil er sie überhaupt nicht kennt. So berichtet ein Ex-Manager von ihm:

"Als ich einmal erwähnte, dass Harold MacMillan, als er zum Premierminister von Großbritannien gewählt wurde, seine Anteile an seinem Verlagsunternehmen verkaufte, war Berlusconis einzige Reaktion: "Warum?""

Für Berlusconi ist Politik nichts weiter als die Fortsetzung des Mediengeschäfts. Für Alexander Stille steht fest, dass Silvio Berlusconi 1994 nur deswegen politisch aktiv wurde, weil andernfalls seine Fininvest in den Sog der Korruptionsskandale geraten und darin untergegangen wäre. Ohne Protektion des Sozialistenführers und zweimaligen Regierungschefs Bettino Craxi wäre er nie so weit gekommen – ohne Gelder aus ominösen Quellen auch nicht. Der Verdacht, dass die Mafia seinen Weg von Anbeginn wohlwollend begleitete, lässt sich wohl nie schlüssig belegen, doch ebenso wenig von der Hand weisen. Selbst engste Vertraute geben zu, ihr langjähriger Freund sei


"… ein aufgeklärter Despot ... ein guter Ceausescu, aber als demokratischer Politiker eine ausgesprochene Fehlbesetzung."

Die Formel lässt aufhorchen, weil sie etwas von der mentalen Verfassung der Italiener verrät, die Berlusconi 2001 zum zweiten Mal wählten, nachdem sie unter Romano Prodi und Massimo D'Alema mehrere Jahre lang ein Interregnum der praktischen Vernunft erleben durften. Gute Gewaltherrscher sind zwar schlicht undenkbar, aber wünschen kann man sie sich ja trotzdem – als merkwürdige Melange aus römischem Kaiser und nicht allzu schrecklichem Alleinherrscher einer Bananenrepublik, in der Gesetze eigentlich nur erlassen werden, um dem Potentaten zu dienen:

"In einem anderen Gesetzeswerk versteckte die Regierung Berlusconi eine kaum beachtete Bestimmung, mit der ein altes, noch aus napoleonischen Zeiten stammendes Gesetz außer Kraft gesetzt wurde, das die Bestattung von Menschen außerhalb von Friedhöfen verboten hatte. Dank der gesetzlichen Neuerung würde Berlusconi jetzt in der Lage sein, sich einen weiteren lang gehegten Traum zu verwirklichen, nämlich sich selbst, seine Angehörigen und seine Freunde in dem großen Mausoleum bei Arcore bestatten zu lassen, das er nach dem Kauf der Villa dort hatte errichten lassen."

Das verlockt eher zum Schmunzeln, und Episoden wie diese zeichnen dafür verantwortlich, dass Berlusconi in Europa nie als gefährlicher Antidemokrat wahrgenommen wurde, sondern höchstens als Mischung aus Maulheld und Schlitzohr.

"Berlusconi steht in der Politikgeschichte der Neuzeit vielleicht einzig da als einer, der sich seine Wähler bis zu einem gewissen Grad selbst herangezogen hat."

Nicht nur Wähler brachte er seit 1994 mit, auch die Abgeordneten von Forza Italia gingen aus einem TV-Casting hervor, statt aus einem demokratischen Ausleseprozess:

"Die Personalabteilung der für TV-Werbung zuständigen Berlusconi-Firma wählte über 100 ihrer besten Verkaufsrepräsentanten aus, die dazu bestimmt waren, bei der Parlamentswahl als Abgeordnete zu kandidieren. Die Aspiranten absolvierten Probeaufnahmen in konzerneigenen TV-Studios, erhielten Crashkurse in Politik und wurden ins Kreuzverhör genommen, damit sie lernten, in der Hitze des Wahlkampfgefechts ihren Mann zu stehen."

Alexander Stille, als Sohn eines ehemaligen Chefredakteurs des Corriere della Sera einerseits, New-York-Times-Journalist andererseits, ist mit den Verhältnissen vertraut, hat Zugang zu mannigfaltigen Quellen und bemüht sich, in seinem Buch möglichst viele Fakten zu liefern und wenig zu spekulieren. Zur einen Hälfte liest sich das wie ein Krimi, zur anderen freilich wie eine akribische und detailversessene Anklageschrift.

Der große interpretatorische Wurf bleibt damit aus: Ist das System Berlusconi ein Vorzeichen des herannahenden Demokratie-Schiffbruchs in Zeiten "integrierter Medienkonzerne" (wobei man den Begriff zynisch lesen kann als Medienkonzerne, die die Politik in ihr Programmangebot integrieren). Oder handelt es sich doch nur um ein spezifisch italienisches Phänomen?

Nur selten kommen die tektonischen Verschiebungen im Machtgefüge des Staates zum Vorschein, etwa beim exemplarischen Scheitern des Volksbegehrens zur Auflösung des Berlusconi-TV-Imperiums, das mit Aplomb scheitern musste, weil eben jene Medien, die zur Debatte standen, die größte und selbstredend für sich positive Meinungsmacht in die Waagschale werfen konnten. Gerade direkte Demokratie verträgt sich überhaupt nicht mit Medienmonopolen.

In diesem Sinne ist "Citizen Berlusconi" Pflichtlektüre für jedermann, dem seine Stimme an der Wahlurne doch etwas mehr wert ist als ein buntes, lustiges Privatfernsehprogramm.

Alexander Stille: Citizen Berlusconi
Aus dem Englischen von Karl Heinz Siber
Verlag C.H. Beck, München