"Die israelische Gesellschaft bleibt gespalten"

Ayala Goldmann im Gespräch mit Mirjam Reusch-Helfrich · 25.01.2013
Zwar sei der Stimmanteil der ultraorthodoxen Parteien stabil geblieben, resümiert die Journalistin Ayala Goldmann die Wahl vom vergangenen Dienstag. Doch zugleich wachse unter den strenggläubigen Juden die Zahl derjenigen, die ihre Privilegien - wie die Befreiung vom Wehrdienst - ablehnen.
Mirjam Reusch-Helfrich: Sie sind seit Jahren das Zünglein an der Waage, wenn es in Israel um die Regierungsbildung geht: die ultraorthodoxen Parteien. Vor allem die Schas-Partei, die die Strenggläubigen orientalischer Herkunft vertritt, ist seit Jahren der Königsmacher in Israels Regierungskoalition. Doch auch das Thora-Judentum, die Partei der europäischen Ultraorthodoxen, war in der bisherigen Regierung Netanjahus vertreten. Säkulare Israelis hingegen ärgern sich über den Einfluss der Haredim, der Strenggläubigen, weil die in erster Linie für ihr eigenes Klientel sorgen. Wenngleich die Haredim von ihren Stammwählern auch diesmal nicht im Stich gelassen wurden – zum Zünglein an der Waage könnte jetzt aber ein ganz anderer werden: die Partei des säkularen Fernsehmoderators Yair Lapid. Sie erhielt immerhin 19 Mandate.

Was bedeutet dieser Wahlausgang nun für die Rolle der ultraorthodoxen Parteien? Vor der Sendung sprach ich am Telefon darüber mit Ayala Goldmann, die für uns die Wahl in Tel Aviv beobachtete. Frau Goldmann, haben die israelischen Wähler genug vom Einfluss der ultraorthodoxen Parteien? Ist das der Grund, warum Yair Lapid so viele Stimmen erhielt?

Ayala Goldmann: Ja, ich würde sagen, das ist schon einer der Gründe, weil Yair Lapid die Privilegien der Ultraorthodoxen im Wahlkampf deutlich kritisiert hat, zum Beispiel, dass viele von ihnen nicht zur Armee gehen, ihr Leben lang die Thora studieren und dafür vom Staat finanziell unterstützt werden – und darüber sind viele Israelis seit Langem frustriert, und auch über den Einfluss der religiösen Parteien auf die Politik überhaupt.

Und dieses Problem ist ja nicht neu, das gibt es seit Gründung des Staates Israel 1948. Israel hat ja keine Verfassung, es gibt keine Trennung zwischen Staat und Religion, und das Oberrabbinat spielt eine große Rolle in Israel, die sogar im Gesetz festgeschrieben ist, es gibt keine Zivilehe, es gibt keine zivile Scheidung. Das hat viele Wähler nicht erst seit dieser Wahl gestört.

Aber ich würde sagen, das Wahlergebnis vom Dienstag zeigt auch, dass der Stimmanteil der orthodoxen Parteien stabil ist. Die israelische Gesellschaft bleibt in diesem Punkt also gespalten wie eh und je. Was man aber auch sehen muss, ist, dass es auch innerhalb der Ultraorthodoxie interessante Entwicklungen gibt, zum Beispiel, dass immer mehr fromme Männer und Frauen einen Job aufnehmen oder sich freiwillig zum Militär melden. Und davor haben die etablierten ultraorthodoxen Parteien Angst, weil sie ihre Macht schwächen.

Reusch-Helfrich: Nun gibt es ja noch eine andere religiöse Partei, die aber eine völlig andere Richtung als die ultraorthodoxen Parteien vertritt, nämlich HaBayit HaYehudi, das Jüdische Haus von Naftali Bennet. Vor der Wahl gab es große Angst, vor allem bei der Schas-Partei, dass die ultraorthodoxen Stammwähler diesmal zu Bennet abwandern könnten. War diese Angst berechtigt?

Goldmann: Also ich konnte diese Sorge schon sehr gut verstehen, denn das Jüdische Haus HaBayit HaYehudi ist vor der Wahl hier in den israelischen Medien, übrigens auch im Ausland, sehr gehypt worden, wobei dieses sogenannte Jüdische Haus eigentlich eine Fortsetzung der alten Mafdal-Partei ist. Das ist die nationalreligiöse Partei in Israel, die gibt es schon sehr lange, sie hat sich immer für diejenigen Religiösen eingesetzt, die sich aktiv für den Staat Israel engagieren, die Wehrdienst leisten. Und nach '67 ist sie aber auch eine, sagen wir mal, politische Vertretung der jüdischen Siedler im Westjordanland und im Gazastreifen geworden. Und bei dieser Wahl wollte sich das rechte religiöse Lager als neu präsentieren, als jung und frisch, sie hatten auch diesen Wahlslogan von Naftali Bennet, etwas Neues fängt an, obwohl er auf seiner Liste auch sehr viele altbekannte Vertreter der Siedlerbewegung hatte.

Ich habe den Wahlausgang im Kongresszentrum Kfar Maccabiah bei Tel Aviv in der Zentrale des Jüdischen Hauses beobachtet, die waren da an diesem Abend, und ich habe sehr viele junge Männer getroffen, alles religiöse junge Männer, die die Kippa tragen, Wahlhelfer oder Sympathisanten, die mit dem ultraorthodoxen Establishment in Israel sehr unzufrieden sind. Sie haben gesagt: Wir wollen die Lasten gerecht verteilen, der Mittelstand soll weniger Steuern zahlen, und die ultraorthodoxen Israelis, die sollen ihren Bürgerpflichten nachkommen wie jeder andere auch.

Nun ist es aber einfach so, dass viele Ultraorthodoxe nach wie vor auf staatliche Zuwendung angewiesen sind. Ihre Schulen sind teuer, ihre Talmud- und Thora-Einrichtungen kosten viel Geld, und ich glaube, dass sie am Ende lieber die eigenen Leute gewählt haben, die ihnen, wenn man so will, ihre Pfründe sichern. Naftali Bennet hat zwar zwölf Mandate geholt, das sind zehn Prozent der Stimmen, aber das sind längst nicht so viele, wie ihm manche Umfragen prophezeit haben.

Reusch-Helfrich: Welche Rolle werden die ultraorthodoxen in der nächsten Regierung in Israel spielen, und welche Rolle wird das Jüdische Haus spielen?

Goldmann: Das kann man jetzt im Moment natürlich noch nicht sagen, weil die Koalitionsverhandlungen gerade erst begonnen haben. Yair Lapid hat ja eindeutig gesagt, er ist bereit, zusammen mit Netanjahu zu regieren. Momentan sehen es die meisten Beobachter so, dass es wahrscheinlich auf eine Koalition zwischen Netanjahu, Yair Lapid und Naftali Bennet hinausläuft, wahrscheinlich noch mit zusätzlichen Partnern, aber das weiß man natürlich noch nicht.

Wer schon etwas frustriert zu sein scheint, ist die Schas-Partei. Die stellen bisher vier Minister in der jetzigen Regierung mit Netanjahu, sie haben das Innenministerium, sie haben das Religionsministerium, sie haben also viel Einfluss, und auf keinen Fall will die Schas-Partei in die Opposition, das ist ganz interessant. Wichtige Führer haben schon durchblicken lassen, auch schon vor der Wahl, dass sie zu gewissen Zugeständnissen bereit sind, vor allem, wenn es um die Frage geht, ob ultraorthodoxe Juden Militärdienst leisten müssen. Und das ist schon sehr interessant, finde ich.

Reusch-Helfrich: Die Wahlen zur Knesset sind jetzt abgeschlossen, doch in diesem Jahr steht in Israel noch eine andere wichtige Wahl an: Die beiden Oberrabbiner des Landes, ein sephardischer und ein askenasischer Vertreter, werden alle zehn Jahre neu gewählt, und in diesem Juni ist es wieder so weit. Die Amtsinhaber sind beide ultraorthodox. Wie sehen die religiösen Parteien die Zukunft des Oberrabbinats in Israel?

Goldmann: Das ist eine interessante Frage. Auch hier gibt es natürlich Machtkämpfe. Gleich am Tag nach der Wahl und am nächsten Tag sind in der Tageszeitung "Haaretz" riesige Anzeigen auf der Seite eins erschienen, und im Bild war Rabbiner David Stav von der Bewegung Zohar. Das sind Leute, die könnte man als zionistische Orthodoxe bezeichnen. Und dieser David Stav hat seine Kandidatur als Oberrabbiner schon angemeldet. Es sieht also so aus, als ob die Nationalreligiösen die Ultraorthodoxen aus diesem Amt verdrängen wollen. Sie wollen, dass das Oberrabbinat populärer wird, dass die Israelis es nicht als extremistischen Fremdkörper wahrnehmen, sondern als Einrichtung, die ihnen Dienste leistet.

Wie gesagt, das Oberrabbinat hat in Israel einen riesigen Einfluss. Es ist zuständig für Hochzeiten unter Juden, für Beerdigungen, für Koscher-Zertifikate, und viele Rabbiner leben von diesen Einkünften. Aber andererseits heiraten viele junge Israelis inzwischen im Ausland, erstens, weil es in Israel keine Zivilehe gibt, und zweitens, weil das Oberrabbinat unter der Führung der Ultraorthodoxie die Heiratsvorbereitungen sehr bürokratisiert hat.

Also zum Beispiel Neueinwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion oder aus anderen Ländern, die müssen endlose Beweise beibringen, dass sie wirklich jüdisch sind, und eine Ehe zwischen einem Juden und einem Nicht-Juden kann sowieso nicht in Israel geschlossen werden.

Zurück zum Oberrabbinat: Falls Benjamin Netanjahu jetzt wirklich eine Regierung ohne ultraorthodoxe Parteien bildet, dann könnte es sein, dass ein Kandidat wie David Stav reale Chancen hat bei der Wahl der neuen Oberrabbiner. Die werden im Juni von einer Versammlung gewählt, die besteht aus 150 Menschen, zur Hälfte Rabbiner, zur Hälfte Politiker. Aber eins möchte ich zum Schluss noch betonen: Man sollte die Erwartung auch nicht allzu hoch hängen, denn auch ein nationalreligiöser Rabbiner wird sich in Israel wohl kaum für die Zivilehe einsetzen.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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