Die Imprägnierten und die Toten

Der französische Nachwuchsautor Olivier Pauvert erzählt in seinem Debütroman „Noir“ von einem Schaudern erregenden Frankreich der Zukunft. Das gleichgeschaltete Land wird regiert von einer Clique, die mit allen Mitteln ihre absolute Macht verteidigt.
Auch Klassiker haben ihre Konjunktur: Konnte man sich jahrzehntelang innerhalb der westlichen Kultur eine Schreckenszukunft lediglich á la Aldous Huxley vorstellen und gruselte sich behaglich in Erwartung einer konsumistischen „Schönen Neuen Welt“ (beziehungsweise bei der Lektüre von Neil Postmans „Wir amüsieren uns zu Tode"), gab es irgendwann doch noch einen Realitätsschock – und die längst überfällige Wiederentdeckung von George Orwells „1984“.

Auch in Olivier Pauverts Debütroman „Noir“, vor zwei Jahren unter den Lobeshymnen der Kritiker in Frankreich erschienen und soeben auf deutsch übersetzt, gibt es einen „Big Brother“. Genau genommen, existiert davon eine ganze Bruderschaft, die – doch das entdeckt der fassungslose Protagonist der Geschichte erst viel zu spät – die rechtsradikale „Nationale Partei“ (eine Anspielung auf Jean-Marie Le Pens „Front National") lediglich als Staffage benutzt, als ihrerseits gesteuerten Mechanismus zur Verteidigung der absoluten Macht.

Diese nämlich muss, ebenfalls analog zu Orwell, im wahrsten Sinne des Wortes total, ja totalitär sein und kann sich nicht in einigen autoritär-blutigen Spielchen erschöpfen. Erst am Ende wird der Held dies erkennen, lange nachdem er seinen ganz privaten Feldzug gegen jenes gleichgeschaltete Frankreich gestartet hatte, um sich für den Verlust von Frau und Tochter zu rächen. Wo aber bleibt das Prinzip individueller Schuld, wenn der Gegenüber ein imprägniertes Wesen ist, unfähig zu Empathie und jeglicher individueller Regung?

Obwohl dieses besonders grauenvolle, jeder Hoffnung bare Ende nicht wirklich überraschend kommt, ist die Lektüre von „Noir“ ein Gewinn: Ob in Nizza, Grenoble oder Paris – Städtelandschaften und Alltagsdetails werden hier mit jener zärtlichen Genauigkeit beschrieben, die sich immer dann einstellt, wenn man den nahenden Verlust von etwas Liebgewonnenem spürt. Noch existieren Peugot, Bastille und Centre Pompidou, aber der Virus der unsichtbaren Repression hat sich bereits überall eingefressen – Passagen, die durchaus an Orwells Schilderungen des vermeintlich noch nicht überwachten englischen Landlebens erinnern.

Dennoch hinterlässt Olivier Pauverts Roman insgesamt ein etwas zwiespältiges Gefühl. Was nämlich wäre, wenn dieses Buch keineswegs so radikal und explosiv ist, wie es sich gibt, sondern eher Ausdruck eines erwartbaren Mainstream-Seufzens angesichts der Existenz einer kruden, unappetitlichen Rechten? Was überdies wäre, wenn der Staat der Zukunft nicht als der wieder und wieder beschriebene Leviathan und das übermächtige Kontrollmonster agieren würde, sondern im Gegenteil eher als paralysiertes Gebilde vorstellbar ist, das von innen heraus, etwa durch einen netzwerkartig agierenden Terrorismus, zerstört wird? Was zum Beispiel ist mit den Zukunftsplänen jener unzähligen gewaltbereiten jungen Fanatiker in den Internet-Cafés dieser Welt, die von der Wiedererrichtung eines repressiven Kalifats träumen und – inzwischen mitten unter uns – ganz offen das Ende der Demokratie prophezeien? Hätte sich Olivier Pauvert wirklich etwas getraut, wäre „Noir“ nicht nur ein guter, sondern ein tatsächlich verstörender Roman geworden – auch um den Preis, dass das Presselob in diesem Fall dann in vorauseilender Kleinmütigkeit wohl eher still ausgefallen wäre.

Rezensiert von Marko Martin

Olivier Pauvert: Noir
Roman
Aus dem Französischen von Oliver Ilan Schulz
Heyne Verlag, München 2007
303 Seiten, 8,95 Euro