Die Illusion von der rauchfreien Kneipe
Es ist vorbei. Die lauschigen Biergärten und Gartenlokale haben endgültig dicht gemacht in diesen nasskalten Novembertagen, und auch die innerstädtischen Bars, Cafés und Restaurants, die im Sommer noch den letzten Zipfel Bürgersteig mit Tisch und Stuhl belegen, ziehen sich ins Innere zurück, in den höhlenartigen Wesenskern der deutschen Gastronomie – in die deutsche Kneipe.
Das wichtigste Merkmal der deutschen Kneipe aber ist der beißende Qualm, die unverwechselbare Mischung aus Küchendämpfen, Trinkerschweiß, Bierdunst und Zigarettenrauch.
Es ist die souveräne Verachtung sämtlicher Gesundheitstipps von Professor Hademar Bankhofer und Doktor Dietrich Grönemeyer, die die deutsche Kneipe als Zufluchtsstätte einer autonomen Lebenswelt charakterisiert.
Richtig gemütlich wird es in der Kneipe erst, wenn die Luft zum Schneiden ist und die durchschnittliche Sichtweite unterhalb der Entfernung zweier Bierkrüge liegt. So viel steht fest: Wer am nächsten Tag nicht sämtliche Klamotten in die Wäsche geben muss und keinen steinschweren Brummschädel hat, war am Abend zuvor in keiner richtigen deutschen Kneipe gewesen.
Denn eine richtige deutsche Kneipe hat auch keine richtige Abluftanlage. Jedenfalls keine, die funktioniert.
Die wird auch gar nicht gebraucht.
Dicke Kneipenluft, so will es die deutsche Tradition, ist Teil einer Ökologie des Gemüts, Natur pur, ein Dampfbad des praktischen Humanismus, das wahre Leben, wo es zischt und beißt und raucht. Wenn ein schwindsüchtig hustendes Nichtraucher-Weichei im dichten Kneipensmog mal ein Fenster aufmachen will, ruft der versammelte Roth-Händle-Chor synchron:
"Eh Mann, Fenster zu, es zieht!"
Den echten Kneipenfans kann selbst dickste Luft überhaupt nichts anhaben, denn sie spülen jede Sorte Feinstaub, frei flottierendes, mehrfach gesättigtes Küchenfett sowie ungebundene Nikotin- und Teerpartikel routiniert mit Weißbier herunter. Das bisschen Kohlendioxid und Kohlenmonoxid, Schwefeldioxid und Formaldehyd, Stickoxid und Nikotin, die paar Schwermetalle und radioaktive Isotopen samt der anderen, rund 4000 Inhaltsstoffe, von ihnen mehr als 50 definitiv krebserregend, können doch einen echten Tresenhocker nicht vom Stuhl hauen.
Sein Stoizismus kennt keinen Hustenreiz und keinen Lungenschmerz. Leben heißt für ihn von Anfang an, sterben zu lernen. Im Zweifel eben zehn Jahre früher als die anderen. Hauptsache, man hat vorher für tüchtig Feuer und Rauch in der Bude gesorgt.
Wer erwachsen genug ist, die siebziger Jahre schon im bewussten Stuyvesant-Alter miterlebt zu haben, wird sich an eine wichtige Unterabteilung der bundesdeutschen Kneipe erinnern – an die "linke Kneipe", die politische Alternative zum schwäbischen Provinzgasthaus "Goldener Hirsch".
In der linken Kneipe hing nicht nur Ché Guevara an der Wand, mit und ohne Zigarre, es rauchten auch praktisch alle, so dass die gemeingefährliche Zusammensetzung der Atemluft niemanden störte. Im Gegenteil, sie bildete erst das diffuse Ambiente der typischen Kneipen-Intimität. Schlimmstenfalls wurde das hochgiftige Partikelgemisch einfach weggepafft und weggehustet, während man über den US-Imperialismus und die schwierige Beziehung zu Geli diskutierte.
Die immerwährende Rauchwolke unter der geschwärzten Kneipendecke, euphemistisch: der "blaue Dunst", war das Medium, das im Schein der herunterbrennenden Kerzen das Morgenrot einer anderen Welt schon ahnen ließ.
Besonders auffällig waren damals die revolutionären Selbstdreher, die an einem Abend schon mal eine Packung "Schwarzer Krauser" zu krummen, notdürftig zusammen geleckten, selbstverständlich filterlosen Glimmstengeln verarbeiten konnten.
Inzwischen aber ist ein neues Stadium der Menschheitsgeschichte erreicht worden. Die technisch-wissenschaftliche Moderne mit ihren immer neuen Erkenntnissen klopft auch an die Höhle der deutschen Tresenkultur. Neueste Studien belegen, dass nicht nur das Rauchen, sondern auch das unfreiwillige Mitrauchen akut gesundheitsgefährdend ist.
Deshalb ist es auch kein Wunder, dass in Amerika wie in Europa, ja, selbst in Deutschland, eine Debatte über ein generelles Rauchverbot entbrannt ist. Doch während sich die anderen EU-Länder längst an entsprechende Gesetze gewöhnt haben, etwa Italien oder demnächst Frankreich, wird in Deutschland, dem Land der hunderttausend Paragrafen, noch darüber diskutiert, ob ein Rauchverbot nicht in Wahrheit der Vorbote eines neuen Gesundheitsfaschismus sei.
Ein bisschen Werbeverbot für Zigaretten – außer auf Plakaten und in den Kinos –, das war’s bis jetzt.
Die deutsche Kneipe ist das revolutionäre Widerstandsnest gegen alle Bestrebungen, den hochtoxischen Qualm zu lichten, der Leben und Tod auf so fabel- wie parabelhafte Weise verbindet.
Trotz aller Anfechtungen von Wissenschaft, Vernunft und Aufklärung: Hier hinein dringt keine Risikostudie der AOK Rheinland, kein alarmierender Bericht der Weltgesundheitsorganisation, kein aufrüttelnder Report einer parlamentarischen Enquetekommission zu so genannten Alltagsdrogen und anderen Ingredienzien einer ausschweifenden Lebensführung.
Die Nichtraucher und andere Hypochonder können sich ja irgendwo draußen hinsetzen und dem Klimawandel zuschauen, während sie ihre Apfelschorle aus der Thermoskanne trinken.
Eher fällt die Welt zu Asche, als dass die deutsche Kneipe zur rauchfreien Zone wird.
Das wäre ja noch schöner.
Reinhard Mohr, geboren 1955, schreibt für Spiegel Online. Zuvor war Mohr langjähriger Kulturredakteur des "SPIEGEL". Weiter journalistische Stationen waren der "Stern", "Pflasterstrand", die "tageszeitung" und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Letzte Buchveröffentlichungen: "Das Deutschlandgefühl" und "Generation Z". Mohr lebt in Berlin-Mitte.
Es ist die souveräne Verachtung sämtlicher Gesundheitstipps von Professor Hademar Bankhofer und Doktor Dietrich Grönemeyer, die die deutsche Kneipe als Zufluchtsstätte einer autonomen Lebenswelt charakterisiert.
Richtig gemütlich wird es in der Kneipe erst, wenn die Luft zum Schneiden ist und die durchschnittliche Sichtweite unterhalb der Entfernung zweier Bierkrüge liegt. So viel steht fest: Wer am nächsten Tag nicht sämtliche Klamotten in die Wäsche geben muss und keinen steinschweren Brummschädel hat, war am Abend zuvor in keiner richtigen deutschen Kneipe gewesen.
Denn eine richtige deutsche Kneipe hat auch keine richtige Abluftanlage. Jedenfalls keine, die funktioniert.
Die wird auch gar nicht gebraucht.
Dicke Kneipenluft, so will es die deutsche Tradition, ist Teil einer Ökologie des Gemüts, Natur pur, ein Dampfbad des praktischen Humanismus, das wahre Leben, wo es zischt und beißt und raucht. Wenn ein schwindsüchtig hustendes Nichtraucher-Weichei im dichten Kneipensmog mal ein Fenster aufmachen will, ruft der versammelte Roth-Händle-Chor synchron:
"Eh Mann, Fenster zu, es zieht!"
Den echten Kneipenfans kann selbst dickste Luft überhaupt nichts anhaben, denn sie spülen jede Sorte Feinstaub, frei flottierendes, mehrfach gesättigtes Küchenfett sowie ungebundene Nikotin- und Teerpartikel routiniert mit Weißbier herunter. Das bisschen Kohlendioxid und Kohlenmonoxid, Schwefeldioxid und Formaldehyd, Stickoxid und Nikotin, die paar Schwermetalle und radioaktive Isotopen samt der anderen, rund 4000 Inhaltsstoffe, von ihnen mehr als 50 definitiv krebserregend, können doch einen echten Tresenhocker nicht vom Stuhl hauen.
Sein Stoizismus kennt keinen Hustenreiz und keinen Lungenschmerz. Leben heißt für ihn von Anfang an, sterben zu lernen. Im Zweifel eben zehn Jahre früher als die anderen. Hauptsache, man hat vorher für tüchtig Feuer und Rauch in der Bude gesorgt.
Wer erwachsen genug ist, die siebziger Jahre schon im bewussten Stuyvesant-Alter miterlebt zu haben, wird sich an eine wichtige Unterabteilung der bundesdeutschen Kneipe erinnern – an die "linke Kneipe", die politische Alternative zum schwäbischen Provinzgasthaus "Goldener Hirsch".
In der linken Kneipe hing nicht nur Ché Guevara an der Wand, mit und ohne Zigarre, es rauchten auch praktisch alle, so dass die gemeingefährliche Zusammensetzung der Atemluft niemanden störte. Im Gegenteil, sie bildete erst das diffuse Ambiente der typischen Kneipen-Intimität. Schlimmstenfalls wurde das hochgiftige Partikelgemisch einfach weggepafft und weggehustet, während man über den US-Imperialismus und die schwierige Beziehung zu Geli diskutierte.
Die immerwährende Rauchwolke unter der geschwärzten Kneipendecke, euphemistisch: der "blaue Dunst", war das Medium, das im Schein der herunterbrennenden Kerzen das Morgenrot einer anderen Welt schon ahnen ließ.
Besonders auffällig waren damals die revolutionären Selbstdreher, die an einem Abend schon mal eine Packung "Schwarzer Krauser" zu krummen, notdürftig zusammen geleckten, selbstverständlich filterlosen Glimmstengeln verarbeiten konnten.
Inzwischen aber ist ein neues Stadium der Menschheitsgeschichte erreicht worden. Die technisch-wissenschaftliche Moderne mit ihren immer neuen Erkenntnissen klopft auch an die Höhle der deutschen Tresenkultur. Neueste Studien belegen, dass nicht nur das Rauchen, sondern auch das unfreiwillige Mitrauchen akut gesundheitsgefährdend ist.
Deshalb ist es auch kein Wunder, dass in Amerika wie in Europa, ja, selbst in Deutschland, eine Debatte über ein generelles Rauchverbot entbrannt ist. Doch während sich die anderen EU-Länder längst an entsprechende Gesetze gewöhnt haben, etwa Italien oder demnächst Frankreich, wird in Deutschland, dem Land der hunderttausend Paragrafen, noch darüber diskutiert, ob ein Rauchverbot nicht in Wahrheit der Vorbote eines neuen Gesundheitsfaschismus sei.
Ein bisschen Werbeverbot für Zigaretten – außer auf Plakaten und in den Kinos –, das war’s bis jetzt.
Die deutsche Kneipe ist das revolutionäre Widerstandsnest gegen alle Bestrebungen, den hochtoxischen Qualm zu lichten, der Leben und Tod auf so fabel- wie parabelhafte Weise verbindet.
Trotz aller Anfechtungen von Wissenschaft, Vernunft und Aufklärung: Hier hinein dringt keine Risikostudie der AOK Rheinland, kein alarmierender Bericht der Weltgesundheitsorganisation, kein aufrüttelnder Report einer parlamentarischen Enquetekommission zu so genannten Alltagsdrogen und anderen Ingredienzien einer ausschweifenden Lebensführung.
Die Nichtraucher und andere Hypochonder können sich ja irgendwo draußen hinsetzen und dem Klimawandel zuschauen, während sie ihre Apfelschorle aus der Thermoskanne trinken.
Eher fällt die Welt zu Asche, als dass die deutsche Kneipe zur rauchfreien Zone wird.
Das wäre ja noch schöner.
Reinhard Mohr, geboren 1955, schreibt für Spiegel Online. Zuvor war Mohr langjähriger Kulturredakteur des "SPIEGEL". Weiter journalistische Stationen waren der "Stern", "Pflasterstrand", die "tageszeitung" und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Letzte Buchveröffentlichungen: "Das Deutschlandgefühl" und "Generation Z". Mohr lebt in Berlin-Mitte.