Die Identitätslücke

Von Petr Robejsek · 17.11.2009
Es ist sicher keine Diffamierung, sondern eine bekannte und belegbare Tatsache, dass viele Migranten ihr kulturelles Zuhause zum Dauerparken auf den "Campingplatz" Deutschland mitgenommen haben. Neu ist allerdings, dass die deutsche Gesellschaft mit diesen Zuständen offenbar langsam die Geduld verliert. Und dass über diese Problematik geredet wird.
Deutschland, so viel ist klar, wollte lange Zeit gar kein Einwanderungsland sein. Die Ankömmlinge wurden in das soziale Sicherungssystem eingegliedert und sich selbst überlassen.

Doch dies reicht als Erklärung für die mangelnde Integration bestimmter Migrantengruppen nicht aus. Ein anderer Grund, über den ungern und daher wenig gesprochen wird, ist die Frage, wie viele Deutsche sich als wirklich integriert fühlen. Ich lebe hier seit über 30 Jahren und wundere mich immer wieder darüber, welche Sprachlosigkeit in Deutschland bei den Themen Nation und Patriotismus herrscht.

Deutschland steht für Europa, Menschenrechte, Frieden, Klimaschutz und für die Dritte Welt ein – nur für und zu sich selbst nicht. Man abstrahiert lieber, man arbeitet sich am großen Ganzen ab, und man leistet erhebliche Finanzhilfen. Jahrzehntelang haben so die Deutschen versucht, eine europäische Ersatzidentität anzunehmen, und nirgendwo wollte man den Nationalstaat ehrlicher zu Grabe tragen als hier. Die historischen Gründe liegen auf der Hand, aber dennoch sei die Frage erlaubt, welches europäische Land dem deutschen Beispiel gefolgt ist. Wohl keines.

Ein europäischer Patriotismus existiert nicht. Und dort, wo die übrigen EU-Mitglieder im Zweifelsfall auf die vertraute nationale Identität zurückgreifen können, klafft in Deutschland eine Lücke. Wie aber kann man von Migranten Integration oder gar Identifikation erwarten, wenn man sie ihnen nicht vorlebt? Womit sollen sie sich identifizieren, wenn viele Deutsche die eigene Gesellschaft lediglich als ein abstraktes Institutionsgefüge, als ein technokratisches Verfahren wahrnehmen, ja, wenn es noch nicht einmal zum sogenannten Verfassungspatriotismus reicht?

Nach Jahrzehnten der Selbstverleugnung ist es für die Deutschen in der Tat nicht einfach, eine ausgewogene Einstellung zu sich selbst und ihrem Land zu finden. Es gibt zwar Anzeichen einer Normalisierung, aber das Bild ist widersprüchlich. Bei der Fußball-WM ließ man das Zusammengehörigkeitsgefühl im Stadion zurück. Die Werbe-Kampagne "Du bist Deutschland" zielte in die richtige Richtung, wagte es aber nicht, "Wir" zu sagen, um ja nicht verdächtig zu wirken. Eher unproduktiv ist bisher der Beitrag der deutschen Einheit zur Wiederbelebung einer unverkrampften Einstellung zur eigenen Identität.

Vielleicht wird es jemandem mit Migrationshintergrund eher nachgesehen, wenn er den Deutschen zurufen möchte: Es ist an der Zeit, zu einer sich selbst bewussten europäischen Nation zu werden. Die Impulse dafür müssen von der Politik und insbesondere von der veröffentlichten Meinung ausgehen. Sie sollten den Menschen weniger ideologisch begegnen und ihnen vorleben, dass sie sich unpathetisch, aber auch unmissverständlich mit ihrem Land identifizieren dürfen.


Dr. habil. Petr Robejsek, Strategieberater und Dozent, geboren 1948, studierte in Prag und Hamburg Soziologie und Volkswirtschaft. Er beschäftigt sich mit fächerübergreifenden Analysen und Prognosen wirtschaftlicher sowie politischer Entwicklungen. Bücher: "Abschied von der Utopie" 1989, "Plädoyer für eine 'sanfte' NATO-Osterweiterung" 1999. Zahlreiche Zeitungs- und Zeitschriftenveröffentlichungen zu wirtschaftlichen, politischen und sicherheitspolitischen Fragen.