Die Hoffnung ist doch geblieben
Die Musik ist für viele eine Religion - nicht nur ein Religionsersatz, sondern ein vollwertiges und ganz umfassendes System der Sinndeutung. Dies beobachtet der evangelische Theologe Herbert Gornik. Das überragende Beispiel "synästhetischer" Kirchenmusik sind für ihn die Kompositionen von Johann Sebastian Bach.
Ralf Bei der Kellen: In seinem jüngsten Buch "Religion in der Verantwortung" bekennt Altbundeskanzler Helmut Schmidt folgendes: "Meine Religiosität war nie sehr ausgeprägt – für meine Frau Loki und für mich war die Kirchenmusik immer wichtiger als die Kirche." Herr Gornik, geht es vielen Menschen heute so? Hat in ihrem Bewusstsein die Musik die Religion in Theologie und Kirche ersetzt? Also, zugespitzt formuliert: KirchenMUSIK: ja, aber KIRCHENmusik: nein?
Herbert A. Gornik:Ich glaube, Herr Bei der Kellen, das ist die Empfindung vieler Zeitgenossen. Und die Musik ist für viele eine Religion und nicht nur ein Religionsersatz, sondern ganz vollwertig! Sie ist ein umfassendes System der Sinndeutung. Übrigens war sie das für Johann Sebastian Bach auch schon, der empfand seine Musik selbst auch als Religion. Und nehmen wir mal ein ganz prominentes Beispiel: Maarten t'Hart, einer der beliebtesten Autoren der Niederlande, der schreibt: "Ich kann nur über diesen einen Komponisten schreiben, den ich über alles liebe mit ganzem Herzen, ganzer Seele, ganzem Verstande und all meiner Kraft." Dieses Glaubensbekenntnis, das ist wie das erste der Zehn Gebote formuliert: Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben, mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinem Verstand. Maarten t'Haarts Gott aber ist Johann Sebastian Bach. Für ihn ist die Musik Bachs das rettende Ufer auf seiner Flucht aus einer zwanghaften religiösen Erziehung. Die Musik ersetzt die Religion, das sagt dieser calvinistisch überfütterte Musikliebhaber. Man kann also von Bachs fromm gemeinter Musik ergriffen sein, ohne sie für fromm zu halten, und man muss auch nicht selbst fromm sein. Bach klingt auch in atheistischen Ohren himmlisch.
Bei der Kellen: Wenn jetzt alle Bach-Liebhaber auch sonntäglich in der Kirche säßen, wären die Kirchen voller, um nicht zu sagen: sie wären randvoll. Warum ist es nicht so?
Herbert Gornik: Darauf, glaube ich, gibt es eine klare Antwort: Weil Bach lieben und zur Kirche gehen nicht das gleiche ist. Nicht mal Bach lieben ist gleich religiös sein würden manche akzeptieren. Musik ist Religion ja, weil sie die tiefsten Gefühle anspricht. Nicht jedes kleine Musical tut das, aber jede Bachkantate – auch wenn die Worte vielen fremd scheinen. Aber den wahren Liebhaber stört das ja nicht; wer wirklich liebt, wer Schmetterlinge im Bauch hat, interessiert sich nicht, ob der Mensch vor ihm die Krawatte korrekt gebunden hat oder ob er einen altmodischen Pullover oder einen komischen Dialekt spricht. Die Musik bildet nicht nur die Sprache ab. Die Musik geht über die Sprache weit hinaus. Sie ist eine universale Sprache, und jetzt kommt es: Sie ist eigentlich durch und durch selbst synästhetisch, das heißt: Sie trifft nicht nur das Ohr, weil sie eben nicht nur Geräusch ist. Synästhetisch, das heißt ja, Sinnerfahrungen werden kombiniert erlebt, einer trinkt Wein zum Beispiel und sieht die Farbe grün, einer schmeckt etwas Saures und hört einen schönen Ton.
Musik erzeugt eine Farbe im Auge, einen Geschmack auf der Zunge, sie berührt uns buchstäblich, als fasse uns da etwas an, sie erzeugt einen Duft. Synästhetisch heißt: Da hören wir etwas und sehen ein Himmelblau, da geht eine Musik ins Ohr und wir riechen das Herbstlaub, wir schmecken es, da raschelt etwas unter den Klängen der Oboen und Fagotte, wir spüren, an einer Hand durch dem Herbstwald zu gehen, wir hören Musik und uns wird warm oder wir erleben Kühlung. Bachs Musik ist synästhetische Musik durch und durch. Und das, glaube ich, kann man am Beispiel der AIR aus der 3. Suite für Orchester, D-Dur, schön heraushören. Das ist ein instrumentales Stück, diese Air, ein liedähnlicher Klang. Air ist gleichbedeutend mit Aria und kommt aus dem Französischen und heißt "Melodie" oder "Lied". Diese Air spiegelt die melancholische Grundstimmung der Barockzeit und trifft damit auf einen heutigen Ton – das Paradies ist verloren, aber die Hoffnung doch geblieben. Wer sinnliche Musik erleben will und die Attraktivität einer ekstatischen Religion nicht mehr kennt, der kommt hier in dieser Musik auf seine Kosten. Hören wir kurz mal rein.
Bei der Kellen: Wir hörten einen Auszug aus der Air von Johann Sebastian Bach, gespielt von Daniel Hope von der CD "A baroque Journey". Herr Gornik, Bach geriet ja nach seinem Tod ziemlich schnell in Vergessenheit außerhalb der Kirchenmusik und der kirchlichen Praxis. Wie wurde er denn wieder entdeckt?
Gornik: Also, Bach war zunächst mal für viele viel zu kompliziert geworden. Felix Mendelsohn-Bartholdy hat Bach wiederentdeckt und popularisiert. Spektakulärer Höhepunkt übrigens war die Wiederaufführung der Matthäus-Passion 1829 in Berlin. Wenn man das ideengeschichtlich ausdrückt, kann man sagen: Die deutsche Romantik – und das ist ja sozusagen unser heutiger Seelenboden – die deutsche Romantik hat den Altvater zum Seelenfreund erhoben. Inhaltlich ausgedrückt bedeutet das: Die Entdeckung der Individualität, der eigenen Seelentiefe und der Persönlichkeit, die hat die Bach-Renaissance beflügelt. Die Kompliziertheit der musikalischen Formen ist jetzt zum Beispiel ein Beweis tiefster Differenzierungsfähigkeit. Was heißt das konkret? Wer "Ich" sagen wollte, wer "Meine Seele" sagte und wer das Gefühl gleichberechtigt neben die Ratio stellt, wer die Empfindung so hoch ansiedelte wie das begriffliche Denken, der fand und findet in der Bach’schen Musik seinen Ton. Das ist mein Ton, würde man heute vielleicht sagen.
Bachs Kantaten drücken zunächst die Seelenlage nach dem 30-jährigen Krieg aus. Das barocke Lebensgefühl ist: Mitten wir im Leben sind, vom Tod umfangen. Das ist heute so die Seelenlage der Älteren ab 60 vielleicht. Aber die Musik spricht auch die Jüngeren an - ab 40 und die Jüngsten bis 40, weil sie das Ich in den Vordergrund hievt, wie es zum Beispiel die Psalmen seit jeher tun. Das ist ja gerade das Psalmen-Prinzip: Angst und Not und Verzweiflung aussprechen und damit ein wenig wegwerfen und auf Erhörung, Heilung, Heil und Befreiung hoffen – und auch darauf, dass es einen Gegenüber, einen Gott, einen Therapeut oder einen Freund, dass dieses Gegenüber meine ausgesprochenen Ängste und damit versuchsweise die weggeworfenen Ängste auffängt. Wir hören gleich einen Text’: "Ich hatte viel Bekümmernis in meinem Herzen / aber Deine Tröstungen erquicken meine Seele." Das singt der Chor. Wie ein Mantra. Ständig wiederholend, rufend, antwortend, aufsteigende Töne, absteigende Töne, immer der gleiche Text, mal dunkel gestimmt, mal hoffnungsvoll, heller getönt: "Ich hatte viel Bekümmernis in meinem Herzen / aber Deine Tröstungen erquicken meine Seele." Das sind ständige Wiederholungen, konzentrische Kreise, eine Art musikalische Selbstanalyse 250 Jahre vor Freud, das macht Bach so zeitlos.
Bei der Kellen: Sie hören einen Ausschnitt aus dem Eingangschor der Kantate "Ich hatte viel Bekümmernis", gespielt vom Bach-Ensemble Stuttgart unter der Leitung von Helmut Rilling. Herr Gornik, wenn Musik, so wie Sie es ja eben gesagt haben, Selbstanalyse ist – kann sie dann eigentlich auch eine Art Selbst-Therapie sein?
Gornik: Ja, das glaube ich. Musik ist eine Art Selbsttherapie. Es gibt, grob gesagt, drei Wege, große Musik zur Selbsttherapie zu hören. Erster Weg: Wer Angst hat, hört in die musikalischen Schreckenswelten und indem er sich einhört, findet er die Angst gespiegelt und geteilt; wiedergefundene Angst ist halbe Angst. Etwa in der Musik Beethovens. Dann – zweiter Weg – greifen wir zum gegenteiligen Gefühlsleben , wir hören die Freude, die Leichtigkeit. Etwa in der Musik Schuberts. Enge und Weite, Furcht und Freude, Schwermut und Leichtigkeit müssen dann ausbalanciert und in ein stabiles Gleichgewicht gebracht werden, damit wir uns selber sicher und werden und dynamisch vorwärtsgehen, mit Mut zur Tat schreiten. Das geht drittens mit einer Musik, die nichts zu tun hat mit den Nöten oder Höhenflügen des Komponisten, die kein Programm ist, nur reine Musik, reine Phantasie, etwa die weltliche Musik Mozarts.
Diese drei Grundprinzipien der Musikpsychologie, die vereint Johann Sebastian Bach: Zerrissenheit und Scheitern wahrnehmen und ihnen standhalten, dann den Gegenentwurf hoffnungsvoll zur Kenntnis nehmen und aufnehmen und drittens einen Ton für sich finden, der mich und uns in der Balance hält und trägt. Bach, glaube ich, liefert immer dies alles in seiner Musik: Programm und Absichtslosigkeit, und dann Herausforderung und Zweckfreiheit. Und dazu kommt, Herr Bei der Kellen, zum Thema Musik als Selbstanalyse und Selbsttherapie noch ein Prinzip, was, glaube ich, bei Bach ganz wichtig ist: Chaos und Ordnung! Das Prinzip heißt: Du musst Dein Leben nicht nur ändern, Du musst es vor allen Dingen ordnen. Am Beispiel von Toccata und Fuge d-moll ist das schön zu hören. Die Toccata, die kommt ja gewaltig daher, ausladend, verwirrend, bizarr, wild, riesiges Durcheinander, das kann einen schon um den Verstand bringen! Hören wir mal rein.
Das war ein kleiner Einblick in die Toccata, und dann kommt gleich danach die Fuge d-moll, Chaos und Ordnung? Die Fuge ordnet und strukturiert mit einem Rhythmus, bei dem man sozusagen mit muss. Noch einmal: Hier ist Bach, in den Toccaten und in den Fugen, der Vorläufer des Rap und des Techno, das sind Herzrhythmus-Töne. Und das ist vielleicht auch ein Grund, warum auch religiös-unmusikalische Menschen Bach lieben. Der ist unser aller Herzen so nah. Auf dem Bachfest alle Jahre wieder, auch in Leipzig.
Herbert A. Gornik:Ich glaube, Herr Bei der Kellen, das ist die Empfindung vieler Zeitgenossen. Und die Musik ist für viele eine Religion und nicht nur ein Religionsersatz, sondern ganz vollwertig! Sie ist ein umfassendes System der Sinndeutung. Übrigens war sie das für Johann Sebastian Bach auch schon, der empfand seine Musik selbst auch als Religion. Und nehmen wir mal ein ganz prominentes Beispiel: Maarten t'Hart, einer der beliebtesten Autoren der Niederlande, der schreibt: "Ich kann nur über diesen einen Komponisten schreiben, den ich über alles liebe mit ganzem Herzen, ganzer Seele, ganzem Verstande und all meiner Kraft." Dieses Glaubensbekenntnis, das ist wie das erste der Zehn Gebote formuliert: Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben, mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinem Verstand. Maarten t'Haarts Gott aber ist Johann Sebastian Bach. Für ihn ist die Musik Bachs das rettende Ufer auf seiner Flucht aus einer zwanghaften religiösen Erziehung. Die Musik ersetzt die Religion, das sagt dieser calvinistisch überfütterte Musikliebhaber. Man kann also von Bachs fromm gemeinter Musik ergriffen sein, ohne sie für fromm zu halten, und man muss auch nicht selbst fromm sein. Bach klingt auch in atheistischen Ohren himmlisch.
Bei der Kellen: Wenn jetzt alle Bach-Liebhaber auch sonntäglich in der Kirche säßen, wären die Kirchen voller, um nicht zu sagen: sie wären randvoll. Warum ist es nicht so?
Herbert Gornik: Darauf, glaube ich, gibt es eine klare Antwort: Weil Bach lieben und zur Kirche gehen nicht das gleiche ist. Nicht mal Bach lieben ist gleich religiös sein würden manche akzeptieren. Musik ist Religion ja, weil sie die tiefsten Gefühle anspricht. Nicht jedes kleine Musical tut das, aber jede Bachkantate – auch wenn die Worte vielen fremd scheinen. Aber den wahren Liebhaber stört das ja nicht; wer wirklich liebt, wer Schmetterlinge im Bauch hat, interessiert sich nicht, ob der Mensch vor ihm die Krawatte korrekt gebunden hat oder ob er einen altmodischen Pullover oder einen komischen Dialekt spricht. Die Musik bildet nicht nur die Sprache ab. Die Musik geht über die Sprache weit hinaus. Sie ist eine universale Sprache, und jetzt kommt es: Sie ist eigentlich durch und durch selbst synästhetisch, das heißt: Sie trifft nicht nur das Ohr, weil sie eben nicht nur Geräusch ist. Synästhetisch, das heißt ja, Sinnerfahrungen werden kombiniert erlebt, einer trinkt Wein zum Beispiel und sieht die Farbe grün, einer schmeckt etwas Saures und hört einen schönen Ton.
Musik erzeugt eine Farbe im Auge, einen Geschmack auf der Zunge, sie berührt uns buchstäblich, als fasse uns da etwas an, sie erzeugt einen Duft. Synästhetisch heißt: Da hören wir etwas und sehen ein Himmelblau, da geht eine Musik ins Ohr und wir riechen das Herbstlaub, wir schmecken es, da raschelt etwas unter den Klängen der Oboen und Fagotte, wir spüren, an einer Hand durch dem Herbstwald zu gehen, wir hören Musik und uns wird warm oder wir erleben Kühlung. Bachs Musik ist synästhetische Musik durch und durch. Und das, glaube ich, kann man am Beispiel der AIR aus der 3. Suite für Orchester, D-Dur, schön heraushören. Das ist ein instrumentales Stück, diese Air, ein liedähnlicher Klang. Air ist gleichbedeutend mit Aria und kommt aus dem Französischen und heißt "Melodie" oder "Lied". Diese Air spiegelt die melancholische Grundstimmung der Barockzeit und trifft damit auf einen heutigen Ton – das Paradies ist verloren, aber die Hoffnung doch geblieben. Wer sinnliche Musik erleben will und die Attraktivität einer ekstatischen Religion nicht mehr kennt, der kommt hier in dieser Musik auf seine Kosten. Hören wir kurz mal rein.
Bei der Kellen: Wir hörten einen Auszug aus der Air von Johann Sebastian Bach, gespielt von Daniel Hope von der CD "A baroque Journey". Herr Gornik, Bach geriet ja nach seinem Tod ziemlich schnell in Vergessenheit außerhalb der Kirchenmusik und der kirchlichen Praxis. Wie wurde er denn wieder entdeckt?
Gornik: Also, Bach war zunächst mal für viele viel zu kompliziert geworden. Felix Mendelsohn-Bartholdy hat Bach wiederentdeckt und popularisiert. Spektakulärer Höhepunkt übrigens war die Wiederaufführung der Matthäus-Passion 1829 in Berlin. Wenn man das ideengeschichtlich ausdrückt, kann man sagen: Die deutsche Romantik – und das ist ja sozusagen unser heutiger Seelenboden – die deutsche Romantik hat den Altvater zum Seelenfreund erhoben. Inhaltlich ausgedrückt bedeutet das: Die Entdeckung der Individualität, der eigenen Seelentiefe und der Persönlichkeit, die hat die Bach-Renaissance beflügelt. Die Kompliziertheit der musikalischen Formen ist jetzt zum Beispiel ein Beweis tiefster Differenzierungsfähigkeit. Was heißt das konkret? Wer "Ich" sagen wollte, wer "Meine Seele" sagte und wer das Gefühl gleichberechtigt neben die Ratio stellt, wer die Empfindung so hoch ansiedelte wie das begriffliche Denken, der fand und findet in der Bach’schen Musik seinen Ton. Das ist mein Ton, würde man heute vielleicht sagen.
Bachs Kantaten drücken zunächst die Seelenlage nach dem 30-jährigen Krieg aus. Das barocke Lebensgefühl ist: Mitten wir im Leben sind, vom Tod umfangen. Das ist heute so die Seelenlage der Älteren ab 60 vielleicht. Aber die Musik spricht auch die Jüngeren an - ab 40 und die Jüngsten bis 40, weil sie das Ich in den Vordergrund hievt, wie es zum Beispiel die Psalmen seit jeher tun. Das ist ja gerade das Psalmen-Prinzip: Angst und Not und Verzweiflung aussprechen und damit ein wenig wegwerfen und auf Erhörung, Heilung, Heil und Befreiung hoffen – und auch darauf, dass es einen Gegenüber, einen Gott, einen Therapeut oder einen Freund, dass dieses Gegenüber meine ausgesprochenen Ängste und damit versuchsweise die weggeworfenen Ängste auffängt. Wir hören gleich einen Text’: "Ich hatte viel Bekümmernis in meinem Herzen / aber Deine Tröstungen erquicken meine Seele." Das singt der Chor. Wie ein Mantra. Ständig wiederholend, rufend, antwortend, aufsteigende Töne, absteigende Töne, immer der gleiche Text, mal dunkel gestimmt, mal hoffnungsvoll, heller getönt: "Ich hatte viel Bekümmernis in meinem Herzen / aber Deine Tröstungen erquicken meine Seele." Das sind ständige Wiederholungen, konzentrische Kreise, eine Art musikalische Selbstanalyse 250 Jahre vor Freud, das macht Bach so zeitlos.
Bei der Kellen: Sie hören einen Ausschnitt aus dem Eingangschor der Kantate "Ich hatte viel Bekümmernis", gespielt vom Bach-Ensemble Stuttgart unter der Leitung von Helmut Rilling. Herr Gornik, wenn Musik, so wie Sie es ja eben gesagt haben, Selbstanalyse ist – kann sie dann eigentlich auch eine Art Selbst-Therapie sein?
Gornik: Ja, das glaube ich. Musik ist eine Art Selbsttherapie. Es gibt, grob gesagt, drei Wege, große Musik zur Selbsttherapie zu hören. Erster Weg: Wer Angst hat, hört in die musikalischen Schreckenswelten und indem er sich einhört, findet er die Angst gespiegelt und geteilt; wiedergefundene Angst ist halbe Angst. Etwa in der Musik Beethovens. Dann – zweiter Weg – greifen wir zum gegenteiligen Gefühlsleben , wir hören die Freude, die Leichtigkeit. Etwa in der Musik Schuberts. Enge und Weite, Furcht und Freude, Schwermut und Leichtigkeit müssen dann ausbalanciert und in ein stabiles Gleichgewicht gebracht werden, damit wir uns selber sicher und werden und dynamisch vorwärtsgehen, mit Mut zur Tat schreiten. Das geht drittens mit einer Musik, die nichts zu tun hat mit den Nöten oder Höhenflügen des Komponisten, die kein Programm ist, nur reine Musik, reine Phantasie, etwa die weltliche Musik Mozarts.
Diese drei Grundprinzipien der Musikpsychologie, die vereint Johann Sebastian Bach: Zerrissenheit und Scheitern wahrnehmen und ihnen standhalten, dann den Gegenentwurf hoffnungsvoll zur Kenntnis nehmen und aufnehmen und drittens einen Ton für sich finden, der mich und uns in der Balance hält und trägt. Bach, glaube ich, liefert immer dies alles in seiner Musik: Programm und Absichtslosigkeit, und dann Herausforderung und Zweckfreiheit. Und dazu kommt, Herr Bei der Kellen, zum Thema Musik als Selbstanalyse und Selbsttherapie noch ein Prinzip, was, glaube ich, bei Bach ganz wichtig ist: Chaos und Ordnung! Das Prinzip heißt: Du musst Dein Leben nicht nur ändern, Du musst es vor allen Dingen ordnen. Am Beispiel von Toccata und Fuge d-moll ist das schön zu hören. Die Toccata, die kommt ja gewaltig daher, ausladend, verwirrend, bizarr, wild, riesiges Durcheinander, das kann einen schon um den Verstand bringen! Hören wir mal rein.
Das war ein kleiner Einblick in die Toccata, und dann kommt gleich danach die Fuge d-moll, Chaos und Ordnung? Die Fuge ordnet und strukturiert mit einem Rhythmus, bei dem man sozusagen mit muss. Noch einmal: Hier ist Bach, in den Toccaten und in den Fugen, der Vorläufer des Rap und des Techno, das sind Herzrhythmus-Töne. Und das ist vielleicht auch ein Grund, warum auch religiös-unmusikalische Menschen Bach lieben. Der ist unser aller Herzen so nah. Auf dem Bachfest alle Jahre wieder, auch in Leipzig.