Die historische Dimension der Ungleichheit

Hans-Ulrich Wehler im Gespräch mit Katrin Heise |
Rund 3000 Historiker beschäftigen sich derzeit beim 47. Historikertag in Dresden mit der Entstehung von gesellschaftlichen Ungleichheiten. Der Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler erhofft sich davon einen "Werbeeffekt" für die konkreten Themen der Sozialgeschichte. Die Spannungen des Turbo-Kapitalismus seien schon seit den 80er-Jahren klar zu erkennen gewesen, sagte Wehler.
Katrin Heise: Der deutsche Historikertag gilt als der größte geistesgeschichtliche Fachkongress Europas. Alle zwei Jahre findet er statt. Man beschäftigte sich zum Beispiel mit Traditionen, Visionen oder dem Thema Kommunikation und Raum. Dieses Jahr könnte man aktueller nicht sein, Ungleichheiten ist der Schwerpunkt des Kongresses. Über Ungleichheiten in geschichtlicher Betrachtung möchte ich mich mit Hans-Ulrich Wehler unterhalten. Es ist kaum ein Monat her, da erschien der fünfte Band seines monumentalen Werkes der "Deutschen Gesellschaftsgeschichte". Herr Wehler, ich grüße Sie recht herzlich!

Hans-Ulrich Wehler: Ja, ich grüße Sie auch!

Heise: Der Historikertag beginnt, während die Presse voll ist von Nachrichten über Bankenkrise, Rettungsaktionen und die Angst vor noch viel größeren Abstürzen. Was geht Ihnen da durch den Kopf?

Wehler: Es geht mir durch den Kopf, dass ich in gewisser Hinsicht die Vorgeschichte der gegenwärtigen Probleme in diesem fünften Band der "Gesellschaftsgeschichte" geschrieben habe. Denn diese Spannungen des internationalen Turbokapitalismus und die Disparitäten, die er in den betroffenen Gesellschaften erzeugt, die sind seit den 80er-Jahren klar zu erkennen und spitzen sich im Augenblick nur dramatisch zu.

Heise: Das heißt, hätte man wieder mal früher auf Historiker geachtet, die eben solche Dinge über lange Zeit beobachten, hätte man irgendetwas tun können?

Wehler: Ja, das ist aber müßig. Ich selber habe das wiederholt gesagt, dass es seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert dem Sozialstaat in Europa, später auch in Amerika, gelungen ist, sozusagen den naturwüchsigen Wildwuchs des Privatkapitalismus zu zähmen, indem man das Regelwerk des Sozialstaates, der Tarifpolitik usw. entwickelt hat, und dass ein solches Regelwerk unbedingt geschaffen werden muss, um den internationalen Kapitalismus im Zeitalter der vollen Globalisierung ebenfalls zu hegen und zu zähmen. Jetzt läuft man damit offene Türen ein.

Heise: Der Historikertag hat das Thema Ungleichheiten in den Vordergrund gerückt. In der politischen Landschaft hat die Linke momentan Konjunktur und ihre Themen gesellschaftliche Ungleichheit und Ungerechtigkeit spielen in der gesellschaftlichen Debatte eine große, große Rolle, noch dazu natürlich aktuell verstärkt jetzt durch das Gefühl, die kleinen Leute zahlen wieder mal die Zeche für die großen Zocker in den Banken. Erleben wir denn ein Wiederaufleben einer sozialistischen Bewegung, die den Kapitalismus überwinden will?

Wehler: Das glaube ich noch nicht. Es ist eine, die Linkspartei, eine eigentümliche Fusion aus einer ostdeutschen Regionalpartei, der versprengten SED-Kader und all derjenigen, die den Sprung ins eiskalte Wasser nach der Wende von 1990 nicht so willkommen geheißen haben. Das war eine sehr verständliche Reaktion in gewisser Hinsicht. Denn so einschneidende Transformationsprozesse, die dauern gewöhnlich eine Generation lang, etwa 30 Jahre. Und dann hat man hier im Westen eine wachsende Gruppe von Unzufriedenen, ob alten IG-Metallern oder DKP-Kadern und allen möglichen Splittergruppen, die sich zusammenschließen. Und das Ganze wird dramatisiert durch den Rachefeldzug von Oskar Lafontaine. Aber die sachliche Grundlage ist, dass die großen Volksparteien, die sehr klagen über den Rückgang ihrer Mitgliederschaft, es nicht fertig bringen, in eine offene und zugleich leidenschaftliche Diskussion darüber einzutreten, wie unter den Bedingungen der modernen Weltwirtschaft und eines ja weiter anhaltenden Wachstums, immerhin bleibt die Bundesrepublik eines der drei reichsten Länder der Erde, wie man da mit wachsenden Spannungen und sozialen Disparitäten zwischen den verschiedenen sozialen Klassen umgehen soll. Ich nenne mal nur ein Beispiel, weil das ein Riesenthema ist. In Amerika beträgt die Erbschaftssteuer etwa 50 Prozent. Bei uns streitet man sich, ob acht Prozent nicht ein gewaltiger Einschnitt sind. Es ist überhaupt nicht einzusehen, dass die Parteien nicht eine offenherzige Debatte führen und in ihrer Sprachlosigkeit überlassen sie dann einem populistischen Demagogen wie Lafontaine das Feld.

Heise: Dass die Historiker jetzt mit dem Thema Ungleichheiten aufwarten, ist das eine Reaktion auf gesellschaftliche Debatten?

Wehler: Man soll die Reaktionsfähigkeit der Historiker nicht überschätzen, aber ich glaube, dass diejenigen, die sich für diese Thematik entschieden haben, soweit ich sie kenne, jedenfalls der Meinung waren, dass da sich ein Konfliktherd und ein Unruhepotenzial zeige und dass die Historiker, die im deutschen Historikerverband zusammengeschlossen sind, gut beraten wären, sich auf die historische Dimension dieser gegenwärtigen Ungleichheit einzulassen. Und zum Zweiten war es auch eine gezielte Reaktion auf das mehrjährige Übergewicht vager kulturalistischer Themen. Und jetzt gibt es gewissermaßen eine Rückkehr zu eher konkreten Themen der Sozialgeschichte.

Heise: Ungleichheiten, das Thema des derzeitigen Historikertages und Thema bei uns im "Radiofeuilleton". Sie hören den Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler. Herr Wehler, der Kieler Historiker Christoph Cornelißen sprach gestern im "Berliner Tagesspiegel" von einer Rückkehr der Sozialgeschichte. Würden Sie das bestätigen?

Wehler: Ich würde das aufgrund meiner Erfahrungen mit den letzten Studentengenerationen nicht bestätigen. Da gibt es für unsereins merkwürdige Abwesenheit von Interesse an der Sozial-, vor allem aber auch an der Wirtschaftsgeschichte. Das ist umso frappierender, weil wir in einem Zeitalter leben, in dem, ich glaube, der Spruch stammt nicht von Napoleon, sondern von Rathenau, nicht die Politik, sondern die Wirtschaft unser Schicksal ist. Das kann man kaum bestreiten, wenn man diese gewaltige Schubkraft der Globalisierung sich vor Augen führt. Aber eine ganze Generation von Studenten hat sich zurückgezogen auf relativ vage und amorphe Themen der Kultur und muss jetzt eigentlich wieder lernen, sich den konkreten Problemen zu stellen. Insofern spricht Cornelißen zwar einen Wunsch von mir aus, aber ich glaube, es ist noch keine Beschreibung der Realität.

Heise: Sie haben ja auch kürzlich in Ihrem Band der "Gesellschaftsgeschichte" gerade diese Kulturgeschichte sehr kritisch beleuchtet. Was war denn eigentlich schlecht oder was ist denn schlecht an Kulturgeschichte?

Wehler: Es ist in gewisser Hinsicht eine Reaktion auf die Schwachpunkte, die wir bei unserer Verfechtung der Sozialgeschichte enthüllt haben, die Vernachlässigung von Religion, Ritualen, Symbolen, Weltbildern. Und da hat die internationale Kulturgeschichte völlig zu Recht ihre Speerspitze entwickelt und sich auf diese Probleme konzentriert. Was aber fehlt, ist zum Beispiel die Fähigkeit, über interessante Einzelheiten und Phänomene die Mikrogeschichte eines Dorfes oder einer Arbeiterzeile im Ruhrgebiet hinauszugehen und eine Synthese zu riskieren. Und so zersplittern diese Interessen und man kann auch gar nicht sehen, wie will denn mal endlich jemand eine Kulturgeschichte der Weimarer Republik oder des Dritten Reiches oder gar des vergangenen 20. Jahrhunderts schreiben.

Heise: Sie sagen, Sie haben eigentlich noch nicht die Hoffnung, dass Sozialgeschichte wieder im Kommen ist. Wenn sich jetzt aber so ein Historikertag mit 3000 Historikern da auseinandersetzt, warum dann nicht die Hoffnung, dass da tatsächlich doch auch schon etwas ist, wo man wieder erkannt hat, man muss die politischen Gegebenheiten auch wieder mehr in den Blick nehmen und dann in die Vergangenheit hineinbeleuchten und Vergleiche ziehen?

Wehler: Ich habe das noch nicht quantifiziert, aber wenn man sich all die Arbeitsgruppen und Sektionen usw. vor Augen führt, dann ist, glaube ich, die Mehrzahl nicht interessiert an Sozialgeschichte, sondern an eingeschliffenen Unterschieden der Mentalität, an Ritualen, die praktiziert werden und Ungleichheiten enthüllen. Ich wäre da außerordentlich vorsichtig, ob dieses Thema, was ich ja sehr begrüßenswert finde, weil ich die soziale Ungleichheit in Gesellschaften immer und erst recht in modernen Gesellschaften für einen Gefahrenherd für die Legitimation demokratischer Gemeinwesen halte. Da kann ich es nur begrüßen, dass man sich dieser Thematik zuwendet und dass dann vielleicht von dem Historikertag doch auch ein stärkerer Werbeeffekt ausgeht, sich diesem Thema wieder zu widmen.

Heise: Gesellschaftsgeschichte oder eben Sozialgeschichte war in den 60er- und 70er-Jahren ja getragen von der Hoffnung, dass man eben gesellschaftliche Veränderungen auch mitbewirken kann, Ungleichheiten abbauen kann. Jetzt ist man eigentlich in einer Zeit, die eher geprägt ist durch Verzagtheit und enttäuschte Hoffnung. Schlägt sich das eventuell auch nieder?

Wehler: Ja, das glaube ich, ist eine gute Diagnose. Als wir in den späten 60er-, frühen 70er-Jahren antraten und sagten, diese Politikgeschichte ist doch nun mal reichlich konventionell, und wir wollen nicht immer wieder hören, warum sich die Weimarer Republik aufgelöst hat, sondern wir wollen diese Gesellschaft kennenlernen, die da zerbröselt und einen Mann wie Hitler nach oben trägt und zwölf Jahre lang unterstützt. Man hatte das Gefühl, dass im Zeichen der sozialliberalen Koalition der 70er-Jahre man einen gewissen Rückenwind hatte, was Reformen der Gesellschaft anging. Das war ja auch, wie sich im Rückblick herausstellt, unberechtigt. Nun ist im Augenblick aber die Situation eigentlich so spannend, dass, wenn ich Doktorand wäre mit Mitte 20, ich würde mich ganz bewusst auf diese brennenden Probleme konzentrieren, denn dann hätte ich das Gefühl, ich befinde mich in einer inneren Übereinstimmung mit Problemen meiner Gegenwart. Und wenn einem die Arbeit zum Beispiel in einer Doktorarbeit zu mühselig wird, dann ist dieser belebende Impuls, dass man an ein akutes Problem der Gegenwartsgesellschaft angeschlossen ist, der ist außerordentlich belebend.

Heise: Ja, und nicht nur für den Historiker, sondern auch für die Gesellschaft. Ich meine, Historiker kommen dann einfach aus einem eventuell vorhandenen Elfenbeinturm raus.

Wehler: Ja, das ist völlig richtig. Es gibt zum Beispiel, das ist absolut verblüffend, in der Bundesrepublik kaum Wirtschaftshistoriker, die sich mit der Globalisierung beschäftigen. Die können Sie an einer Hand abzählen. Die arbeiten lieber über Handwerksbräuche im Mittelalter oder über Merkantilismus. In der internationalen Wirtschaftsgeschichte und Wirtschaftswissenschaft läuft eine leidenschaftliche Debatte auf einem hohen Reflexionsniveau und man kann sich nur wünschen, dass junge deutsche Historikerinnen und Historiker sich da einklinken, weil sie da schon einen Fundus von Begriffen und Ergebnissen vorfinden, und dann können sie das ja mal im Hinblick auf die deutsche Entwicklung prüfen.

Heise: Der Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler setzt seine Hoffnung in den Historikertag in Dresden mit dem Thema Ungleichheiten, dass vielleicht auch die Sozialgeschichte wieder interessanter wird für Historiker. Hans-Ulrich Wehler, ich danke Ihnen recht herzlich für dieses Gespräch!

Wehler: Danke Ihnen auch!