Die hessischen Verhältnisse bleiben

Von Claus Leggewie |
Zur Zeit der ersten Großen Koalition spielten CDU und SPD mit der Einführung des Mehrheitswahlrechts zum Deutschen Bundestag. Erstens war die Elefantenehe zwischen den damals gemeinsam noch über 80 Prozent schweren Volksparteien unbeliebt. Und im damaligen Dreiparteiensystem wollte die CDU nicht von der unbotmäßigen FDP als Zünglein an der Waage abhängig sein – die sich dann auch prompt an die Sozialdemokraten hielt, die folgerichtig auf Länder- und Bundesebene sozialliberale Koalitionen bildeten.
Das Mehrheitswahlrecht schafft klare Verhältnisse – the winner takes it all – und erlaubt ein nicht durch Koalitionszwänge verwässertes "Durchregieren" der obsiegenden Partei. In den angelsächsischen Kernländern der Demokratie brachte das meist ein Zwei-Parteien-System mit alternierender Regierungsbildung. Die deutschen Grünen wären unter diesen Bedingungen kaum hochgekommen. Die Debatte über eine Wahlrechtsreform, die hin und wieder aufflammt, ist akademisch. Denn mittlerweile, da die beiden Elefanten zusammen keine zwei Drittel der Wähler mehr auf sich vereinigen, verbieten sich solche Gedankenspiele wegen ihrer Undurchsetzbarkeit.

Gedanken machen über die nachlassende Qualität des Regierens unter Proporz- und Koalitionsbedingungen darf man sich aber trotzdem. Die Große Koalition als Zwangsehe in Berlin und die schwarz-gelbe Liebesehe in Hessen kamen ja nur dadurch zustande, dass sich Konstellationen unter Einschluss der Linken angeblich verboten und sich Partner für ungewöhnliche Koalitionen (also Schwarz-Grün, Jamaika, Schwampel usw.) verweigerten.

Ob die Große Koalition selbst im Augenblick einer schweren Wirtschaftskrise, als Quasi-Notstands-Regime, das Richtige ist, darf man mit Fug und Recht bestreiten; ebenso, ob es einer dreigespaltenen SPD je wieder gelingen wird, eine Koalition "links von der Union" zustande zu bringen. Und selbst wenn, muss man um die Stabilität eines solchen Bündnisses fürchten. Die hessischen Verhältnisse, die manche zur Neuauflage der Wahlrechtsdebatte animierten, sind keineswegs geklärt, politische Instabilität (mit Minderheitsregierungen, mit sich selbst blockierenden Koalitionen, mit raschen Neuwahlen und kurzen Legislaturperioden) wird die einstmals hyperstabile Bundesrepublik weiter begleiten.

Dabei ist die Regierungsbildung in Deutschland durch eine zunehmende Paradoxie gekennzeichnet: 2005, als der neoliberale Zeitgeist auf die staatliche Politik übergegriffen hatte, scheiterte das Tandem Merkel/Westerwelle, das nun, da dieser Geist aus der Flasche ist und übel riecht, an die Macht kommen könnte, um – ja was eigentlich zu tun? Mehr vom selben hektischen Krisenmanagement vermutlich. Und Politiker, die jetzt Klimaschutz und Nachhaltigkeit ins Zentrum rücken, die also inhaltlich alles richtig machen, bleiben in der Minderheit und bekommen keine Chance, derartiges in Koalitionen zu verwirklichen.

An der Weisheit des Verhältniswahlrechts kann man da schon verzweifeln. Und der Zweifel steigert sich, wenn man hinzunimmt, dass dieses angeblich so repräsentationsfreundliche Wahlrecht immer mehr Nicht-Wählerinnen und -Wähler außen vor lässt. 60 Prozent Beteiligung an einer Landtagswahl könnte man für ausreichend und normal halten, gäbe es da nicht eine deutliche Korrelation zwischen Wahlenthaltung und dem Gefühl, sozial abgehängt und politisch nicht repräsentiert zu sein. Das ist auch in den USA und Großbritannien der Fall, so dass eine Wahlrechtsreform kaum ausreicht, Glaubwürdigkeit wiederherzustellen. Gelingen kann dies nur, indem die politisch vordringlichen Aufgaben von Klimaschutz und Nachhaltigkeit auch quer durch die Lager eine Mehrheit bekommen und politische Parteien ihr überholtes Lagerdenken im Blick auf künftige Generationen aufgeben.


Claus Leggewie: geb.1950 in Wanne-Eickel, ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Gießen und Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen. Er studierte Sozialwissenschaften und Geschichte in Köln und Paris und promovierte bei Bassam Tibi über Frankreichs Kolonialpolitik in Algerien.
Nach der Habilitation wurde er 1986 zum Professor an der Universität Göttingen ernannt und wechselte 1989 an die Universität in Gießen. Von 1995 bis 1997 lehrte Leggewie als erster Inhaber des Max-Weber-Chair am Center for European Studies an der New York University. 2000/2001 war er Fellow am Wissenschaftskolleg Berlin, 2006 Körber-Fellow am Institut für die Wissenschaften am Menschen, Wien.
Leggewies Thema ist die "kollektive Identität postmoderner Gesellschaften im Zeitalter der Globalisierung". Seine Bücher handeln unter anderem vom "Islam im Westen" (1993), vom Internet (1999) und von Amerika ("Amerikas Welt: Die USA in unseren Köpfen", 2000). 2005 erschien sein Buch (mit Erik Meyer) "Ein Ort, an den man gerne geht. Das Holocaust-Mahnmal und die deutsche Geschichtspolitik 1989".
Claus Leggewie
Claus Leggewie© Stiftung Mercator, Essen