Die Heimat im Hafen
Die Familien weit weg, die Sehnsucht ist groß, besonders zu Weihnachten. Seeleute aus aller Welt treffen sich jedes Jahr am Heiligen Abend im Seemannsclub „Duckdalben“, mitten im Hamburger Hafen, ein Fußmarsch von den Schiffen entfernt. Diakon Jan Oltmanns öffnet seit 20 Jahren die Türen des Clubs für die Seeleute, hier können sie günstig nach Hause telefonieren, zusammen feiern, essen, trinken und vor allem: Singen gegen das Heimweh.
Ein Tresen am Heiligen Abend, mitten im Hafen. Dicht an den Liegeplätzen der großen Containerschiffe. Am Akkordeon: Comy, Matrose aus Indonesien. Die Finger wandern über die schwarz-weißen Tasten. – Eine schwarze Strähne im Gesicht, sitzt er auf dem Barhocker, Beine übereinander geschlagen. Gegenüber, in der Kiefernholz-Ecke, Diakon Jan Oltmanns. 50 Jahre alt, grauer Vollbart, genauso graue, halblange Haare. Blaues Sweatshirt, vor sich ein Päckchen schwarzer Drehtabak.
Oltmanns: „Na ja, ich denke, Seeleute sind weit weg von zu Hause. Und getrennt von allem, was einem sonst so Halt oder Kraft geben kann. Und der fehlende feste Boden ist schon mehr als eine Metapher. Ich denke, das ist etwas, was wir uns gar nicht so vorstellen können, wenn wir nach acht Stunden Arbeit nach Hause gehen. Die Seeleute wohnen auf ihrem Arbeitsplatz! Und das ist ein großer Unterschied.“
Jan Oltmanns leitet die „Deutsche Seemannsmission Hamburg-Harburg Duckdalben e.V.“. Täglich geöffnet von nachmittags drei bis abends um elf. Der Weg vom Containerhafen über die Elbe, zu den alten Seemannsheimen auf St. Pauli und Altona ist weit. Für viele Matrosen zu weit, die Liegezeiten werden kürzer, Zeit ist Geld für die Reeder. Übernachtet wird auf den Schiffen, Erholung finden die Matrosen im Duckdalben. – Vor 20 Jahren öffnet der Seemannsclub, Jan Oltmanns ist von Anfang an dabei. Ein hagerer Typ, schmales Gesicht, Lachfalten um Mund und Augen. Hinter ihm, an der Wand: der rot-weiße Rettungsring vom Frachter „Sunderström“, ein Miniatur-Steuerrad aus dunklem Teak-Holz. Daneben Wimpel, Postkarten und Fotos von Fracht-Schiffen: die Besatzung aufgereiht an der Gangway. Zum Dank für eine schöne Zeit in den Duckdalben. Oltmanns füllt ein Zigarettenblättchen mit Tabak, routiniert, ein paar Krümel fallen auf die rot-weiß-karierte Tischdecke.
Oltmanns: „Ich denke, wichtig ist, dass man ein offenes Herz hat für die Menschen. Dass man versteht, dass die, die zur See fahren, für uns alle unterwegs sind und einen harten Job auf sich nehmen. Mit langen Trennungszeiten von zuhause. Und wenn man diese Menschen mag – und ich mag diese Menschen sehr – denn, denke ich, kann man ihnen für kurze Zeit ein bisschen Zuhause, weit weg von ihrer eigentlichen Heimat bieten.“
Jan Oltmanns dreht geübt seine Zigarette zu Ende, klopft sie zweimal auf die Tischplatte, steckt sie an und verabschiedet sich ins Büro. Eine Stunde noch bis zur Andacht.
Vor dem Clubraum, die Halle mit sechs Telefonzellen. Jan und Marina stimmen ihre Gitarren, proben für die Predigt, die sie begleiten sollen. Den Liederzettel auf dem Knie, die Fußspitzen wippen im Takt.
Neben ihnen wartet Abdul Shukor, Matrose aus Malaysia. Der junge Mann mit dunklem Schnauzer will zu Hause anrufen. So wie zwei Dutzend anderer Seemänner.
„Ich hab gehört, dass hier etwas veranstaltet wird, eine Weihnachtsfeier im Hafen. Deshalb bin ich hier, mal sehen wie es wird.“
Abdul Shukor ist Moslem, von Geburt an. So will es die malaysische Rechtsordnung. Der Islam ist Staatsreligion. Aber Shukor hat seinen eigenen Glauben.
Shukor: „Meine Religion …? – Hm. Also, eigentlich glaube ich an keinen bestimmten Gott. Ich bin da frei und feiere Weihnachten oder muslimische Feste. Meine Eltern und Großeltern sind Hindus. Nein – ich hab nicht nur eine Religion. Ich feiere alle Feste. Und heut Abend feiere ich Weihnachten.“
Zwei Matrosen sind noch vor ihm dran. Durch runde Bullaugen in den Telefonzellentüren sieht man die Matrosen-Köpfe, schwarze Hörer am Ohr, jeder vertieft, alle weit weg. Im Gespräch mit Familie und Freunden. Die Telefonkarten gibt es am kleinen Duckdalben-Kiosk. Verbilligt, das ganze Jahr über, nicht nur an Weihnachten.
Matrose I: „Wenn ich frage, wie es zuhause geht, höre ich immer: Ja, es ist alles okay. Aber das Leben ist nicht immer okay. Und manchmal erzählt meine Familie auch nicht alles. Ich soll mir keine Sorgen machen – weil ich so weit weg bin. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.“
Fadhil: „Einsam. Einsam fühle ich mich. Ich habe eine Frau. Und drei kleine Kinder. Drei kleine Jungs. – Und das einzige, was gegen die Einsamkeit hilft, ist: anrufen. Zu Hause anrufen. Es ist gut: Man ruft einfach an und es geht einem besser. Heute habe ich gleich vormittags angerufen, zum Mittag, Nachmittag und eben wieder. Vier Mal schon!“
Sharifa Fadhil ist 48, geboren in Jakarta. Der First Engineer auf der „Sunny Blossom“ ist zuständig für den Motor, seit drei Wochen in Hamburg. Das Schiff liegt im Trockendock. Reparaturarbeiten. Jetzt ist der kleine, kräftige Indonesier an der Reihe, die Telefon-Tür geht auf. Die Telefonkarte zwischen den Fingern, verschwindet Sharifa Fadhil in der Kabine. Tür zu. Der Hörer noch warm von seinem Vorgänger.
Matrose II: „Mit meiner Familie hab ich telefoniert. Es ist Weihnachten und ich vermiss sie einfach. Meine Freundin, meine Eltern, die Geschwister. Ich würde gern Weihnachten mit ihnen feiern, diese Tage genießen. Man kann es nicht beschreiben: Ich bin sehr glücklich und traurig zugleich. Ich weiß noch nicht, wann ich alle wieder sehe. Und ich weiß: Nächstes Jahr bin ich wieder unterwegs.“
Der junge Indonesier fährt erst zwei Jahre zur See. Noch verstört vom Telefonieren, den Blick nach unten, verschwindet er in Richtung Tresen. – Zur gleichen Zeit, vor dem Seemannsheim: Heiko Behrens, gerade 19, krause blonde Locken und Turnschuhe, steigt in den schmutzig-weißen Duckdalben-Bulli. Heiko Behrens macht ein Freiwilliges Soziales Jahr im Seemannsheim. Soll Matrosen vom Schiffs-Terminal abholen. Anschnallen, Radio an, die Fahrt geht los.
Behrens: „Ja, die Jungs müssen ja irgendwie in diesem großen Hafen von A nach B kommen bzw. von ihren Schiffen erstmal runterkommen und denn zu uns kommen oder einige wollen auch in die Stadt. Und wir bieten eben an, dass wir einen kostenlosen Shuttle-Bus-Service machen. Und da bin ich einer der Fahrer.“
Der Asphalt trocken. Von hohen Laternen gelb-orange erleuchtet wie im ganzen Hafen. Ein paar kleine, graue Schneeflecken säumen die Straße. Heiko Behrens lenkt mit der Linken, die Rechte liegt auf der ausgeblichenen Jeans, klopft im Takt. Schnelle Fahrt über Brücken, leere Kreuzungen, durch enge Kurven.
Behrens: „Heut haben wir eine sehr schöne Fahrt. Normal ist das hier immer sehr, sehr überfüllt. Der ganze Hafen wimmelt nur von Autos. Aber Weihnachten ist eben ein bisschen ruhiger von der Verkehrslage her.“
Die Straßen fast leer. An Heiligabend steuern nur wenige Schiffe den Hamburger Hafen an. Alle Arbeiten ruhen, kein Container wird entladen, kein Frachter beladen. Kaum ein Reeder will dann die Liegegebühren im Hafen zahlen. Die Schiffe kreuzen auf dem Meer. Die Besatzung der „Kyoto Express“ hat Glück: ihrer Reederei gehört ein Teil des Hafens, das Festmachen für das hellgraue 300-Meter-Schiff ist umsonst.
Behrens: „Ich glaube, auf der Kyoto-Express sind auch hauptsächlich Phillipinos. So wie das auf den meisten Schiffen ist. Insofern gehe ich mal davon aus, dass da gleich viele fröhliche Menschen auf uns zu kommen …“
Die diesig-gelben Terminallichter tauchen auf, das kleine Pförtnerhäuschen am Tor vom „Container-Terminal Altenwerder“. Leergefegt das riesige, dunkelgraue Gelände, nur die Schattenrisse einer kleinen Gruppe in der Kälte, dicht bei einander, Hände in den Anoraktaschen. Atemwölkchen vor den Köpfen.
Behrens: „So! wir fahren jetzt hier zum Gate rein. Wir könnten theoretisch auch rauf fahren, aber die warten hier schon. – Die winken jetzt gerade noch den Gate-Männern – denen winke ich jetzt auch, weil: die müssen ja auch heute arbeiten.“
Phillipino: „Es ist toll! Unser Schiff ist das einzige im ganzen Hafen. Ein neues Schiff! Gerade mal zwei Monate alt, zwei Monate auf See. Und eins der größten Container-Schiffe der Welt! Mit 8700 TEUs, also es passen über 8700 Container drauf! 335 Meter lang und 42 Meter breit! Genauer: 42,7 Meter. Eines der größten!“
16 Philippinos arbeiten auf der „Kyoto Express“, zusammen mit 8 Deutschen. Der Kapitän ist Hamburger, feiert Weihnachten zu Hause. Hinten im Bulli, dicht an dicht, sitzen sieben Matrosen. Mit fröhlichen Gesichtern, in Jeans und Winterjacken, einer mit Pelzmütze.
Sridhar Josyula und seine Kollegen kennen das Seemannsheim Duckdalben. Wissen, was sie erwartet. Zehn Minuten dauert die Fahrt, Ankunft auf dem Parkplatz. Lichterketten schmücken den modernen, zweistöckigen Klinkerbau. Über dem Eingang blinkt rot ein tellergroßes Plastikherz.
Sieben Philippinos verschwinden in den Clubraum, Jan Oltmanns schüttelt jedem die Hand, klopft Schultern. Ein breites, warmes Lächeln für jeden neuen Gast. – Drinnen, in der Halle, unterm Zwei-Meter-Tannenbaum mit Elektrokerzen, sitzt der 78-jährige Hinnerk Bielfeld. Drahtig, groß, mit Kinnbart. Neben ihm: seine Frau Marie, zwei Ehrengäste, jedes Jahr sind sie dabei.
Herr & Frau Bielfeld: „Ich war zwölf Jahre lang Vorsitzender des Vereins. – Und ich bin sein Anhängsel … Aber ich werde immer sehr respektiert und man liebt mich auch. Weil ich diesen Laden so sehr liebe! Ich finde das so großartig, was hier geleistet wird. – Man sagt in Shanghai: ‚Ihr müsst in Hamburg zum Duckdalben gehen. Da habt ihr’s gut!‘ Hier ist es so herzlich! Der Jan ist so … ach: herzlich, wie ein großer Bruder, so nett. – Man gehört einfach dazu. – Man wird von den Leuten, die was zu sagen haben, umarmt und geküsst. Also: ich komme hier so gerne her!“
Marie Bielfeld hält ihrem Mann die faltige Hand. Rotbraune Flecken, goldener Ehering. Neben ihnen, auf dunklen Stühlen: Rowley Handoko und seine Kollegen aus Indonesien. Rowley, dicker roter Woll-Pullover, eine alte Narbe am Kinn, wartet auf die Predigt. Eben hat er telefoniert:
Rowley Handoko: „Ich hab meine Mutter angerufen, meine Frau, und es ist immer etwas schwierig, denn wir haben ja die Zeitverschiebung: sechs Stunden, glaub ich. Und zu Hause ist es schon sehr spät. Das ist schwierig.“
In Hamburg ist es kurz nach sieben, in Indonesien schon zwei Uhr morgens.
Rowley Handoko: „Ich bin einfach sehr traurig. – Gerade an Weihnachten, wo man sich doch gewünscht hat, mit der Familie zu feiern. – Egal. Ich hab telefoniert und erzählt, dass hier eine Menge Seeleute sind und dass wir feiern. Und dass in zehn Minuten die Predigt anfängt. – Meine Verwandten sind jetzt beruhigt: ich bin nicht allein und ich genieße den Abend! Traurig bin ich trotzdem.“
Matrosen und Freunde des Duckdalben-Teams strömen in die Halle. Aus dem großen Billard-Raum, dem Clubraum und von oben, aus dem „Raum der Stille“. Alle nehmen ihre Plätze ein, sechs Stuhlreihen, fünfzig Stühle, nicht jeder bekommt einen. Eine Handvoll Kinder wird leise zur Ordnung gerufen, Jan Oltmanns tritt ans Pult vor die Zuhörer, blickt ruhig in die Runde.
Oltmanns: „Welcome! Welcome all you beautiful people here tonight. From all over the world. From India, from the Phillipines, from Iraque I heard. From China, from Jordan. I think, we are almost complete around here. Welcome fort he Holy Night in Duckdalben! – Let us celebrate the birthday of Jesus Christ together!“
Ohne Talar, immer noch in Jeans und ausgewaschenen Sweatshirt hält Jan Oltmanns seine Predigt. Die Hände rechts und links am Pult.
Oltmanns: „Let us sing together! And we are happy, that we have again Comy, who already played for us and Jan and Marina here to assist us a little bit with the music! So we sind our very first song: Jingle Bells You find on the little paper, lying on your chair.“
Jan Oltmanns tritt einen Schritt zurück, singt mit, auch ohne Liederzettel, wippt im Rhythmus. Der alte Vereinsvorsitzende Hinnerk Bielfeld klappt seine Lesebrille auf, stimmt mit ein, seine Frau wiegt den Oberkörper und die graue Dauerwelle. Diakon Jan Oltmanns greift seinen Predigttext,
kurzer Seitenblick zu den beiden Gitarrenspielern.
Oltmanns: „The God whose love became a Human like us: he wanted to be near to his creation. And he wanted to show another way of living together. A way of living together, a way of loving each other, a way of helping and healing each other. Instead of fighting, destroying and killing!“
Oltmanns Thema ist die Liebe. Liebe zwischen den Menschen und das, was der Liebe im Weg steht. Abstrakt bleibt er nicht, geht auf die Probleme der Matrosen ein. Zu diesen Problemen gehört der so genannte ISPS-Code. Das Gesetz ist eine Idee der Amerikaner, Terrorsanschläge mit Schiffen soll es verhindern: Strenge Personal-Kontrollen, jeder Kapitän und jeder Schiffskoch wird überprüft. Frachter im Hafen darf nur betreten, wer sicherheitsüberprüft ist. Auch Diakone dürfen nicht an Bord, auch nicht an Weihnachten. Jan Oltmanns ärgert sich, holt Luft, den Oberkörper ganz aufrecht:
Oltmanns: „This morning we wanted to visit you on the ships. We wanted to go to bring you some Christmas-cake. But the watchmen said: No! No chance! You are not allowed! There is a guy in Washington and he made ISPS and you are not allowed to see the seafarers even on Christmas.“
Jan Oltmanns Augen lachen nicht mehr, die Stirn in Falten, die rechte Hand geballt. Zornige grau-blaue Augen. Der Diakon schimpft über Herodes als despotischen Herrscher zu Jesus’ Zeiten. Und über Despoten der Gegenwart.
Oltmanns: „This story began with the law of an emperor. And you see: there are still big and powerful! And they have something against to share the love! – But let’s go back to the story: there’s a baby born. And two thousend years later, people all around the world celebrate christmas! ...“
Jan Oltmanns betet im Stehen, schließt die Augen: für die Matrosen und ihre Angehörigen, preist ihren Zusammenhalt, spricht ein englisches Vater-Unser. Das „Our Father in Heaven“. Gelesen wird die Weihnachtsgeschichte, in drei Sprachen:
Marina und Jan begleiten auf der Gitarre: „Go, tell it to the Ocean!“, „Holy Night” und ganz zum Schluss kommt ein Lennon-Song. Jan Oltmanns strahlt wieder:
Oltmanns: „You see!: this idea of love is still alive. People all around the world write each other letters these days and make each other presents these days. And they want to ashure each other: You are loved! – Happy Christmas. From John Lennon!“
Hinter Jan Oltmanns, im hellgelben Türrahmen zum Clubraum: das Küchen-Team steht bereit, wartet auf das Predigt-Ende, rote Papier-Servietten unter dem Arm. – Hinter der Halle, im Billardraum ist schon gedeckt: weiße Tischtücher, kleine Raclette-Öfen auf jedem Tisch, frisches, zurechtgeschnittenes Gemüse: rote, gelbe, grüne Paprika, Sojasprossen, rosa Rind- und Schweine- und Lammfleisch auf großen Tellern. Weingläser, entkorkte weiße und rote Flaschen, kleine, braune Emaille-Schälchen für den Grill. Alles bereit.
Die Servietten werden verteilt, geübte Handgriffe, ganz schnell. Die ersten Gäste nehmen Platz, rücken Stühle an den Tisch, plaudern, stehen zusammen. Maria Bielfeld hakt ihren Mann unter, schaut zu ihm hoch, auf dem Weg zum Essen, begeistert:
Bielfeld: „Also: weswegen ich immer komme ist, damit ich hundert Leuten die Hand drücke und ‚Fröhliche Weihnachten!‘ sage. – Das finde ich so wichtig: Das wir zivilen Leute und auch um die Menschen kümmern. Und deswegen – wenn ich das auch nicht versteh, was die anderen vorlesen – aber ich finde das so großartig! Ich bin so begeistert vom Duckdalben!“
Die Bielfelds steuern auf ihren Tisch zu, Jan Oltmanns begrüßt die beiden, setzt sich dazu, neigt den Kopf im Gespräch. Nebenan: ein indischer Tisch. Vier junge Männer, zwei junge Frauen. Vor ihnen dampfen Reis und Kartoffeln aus großen weißen Porzellan-Schüsseln.
Jasenthil Kumar: „Mein Name ist Jasenthil Kumar. Ich bin first Engineer. Kümmere mich um die Maschine, dass sie läuft. Um die Wartung des Motors und um alles, was dazu gehört!“
Jasenthil Kumar ist 28, stammt aus Süd-Indien. Schmale Schultern, die dunkelbraunen, fast schwarzen Haare zum Scheitel gekämmt, hellgrünes Hemd und Jeans, eine schmale Zahnlücke.
Jasenthil Kumar: „Nein. Schön ist der Job nicht. – Das kann man nicht sagen … Interessant ist er, aber manchmal eben auch sehr einsam. Wir arbeiten auf hoher See, weit weg von unseren Familien, weit weg von unseren Freunden. Dafür gibt es keinen Ersatz an Bord, kein soziales Netz. Und wenn ich meinen Job im Maschinenraum mache, dann hab ich höchstens mit vier Kollegen zu tun.“
Aber Jasenthil Kumar hat Glück: neben ihm sitzt seine Frau. Nidhva Kumar. Glatte, glänzende Haare, zum Zopf gebunden, ein Ellenbogen aufs Tischtuch gestützt, nach vorn gebeugt. Wache, dunkle Augen.
Nidhva Kumar: „Ich vermisse ihn einfach viel zu sehr, wenn er nicht da ist. Also bin mitgefahren, habe Zeit für ihn. Ich will bei meinem Mann sein, am liebsten immer, ich will ihn begleiten und darum fahre ich mit. Ich liebe ihn. Ich liebe ihn sehr!“
Breites Lächeln zu ihrem Mann. Der lächelt schüchtern zurück, schiebt verlegen sein Besteck zurecht. Nidhva Kumar begleitet ihren Mann zwei Monate lang. Bezahlt die Kabine, fürs Essen. Eine Freundin fährt mit, begleitet ihren Matrosen. Lesen, Plaudern, das Meer beobachten. Sechs Wochen liegen noch vor ihnen. Sechs Wochen auf dem Containerschiff.
Nidhva Kumar: „Ich bin das erste Mal auf See und ich genieße die Reise. Ich mag das Meer und das Schiff und ich mag die Menschen an Bord. Angst vor dem Meer hab ich nicht und seekrank werd ich auch nicht. – Es ist einfach eine tolle Chance, viele Menschen kennen zu lernen, alle verschieden und alle aus anderen Ländern.“
Jasenthil Kumar: „Aber man muss auch diplomatisch sein. Und man muss sich auf andere einstellen. Da ist es egal, ob man die Kollegen nun mag oder nicht: wenn man zusammen arbeitet, muss man zusammen klar kommen.“
Und auch, wenn seine Frau ihn begleitet: seine Heimat ist weit weg. Jasenthil Kumar hat Sehnsucht nach Zuhause, freut sich auf die Rückfahrt im Februar:
Jasenthil Kumar: „Natürlich vermiss ich mein Land! Mein Indien! Ich liebe dieses Land und ich vermisse jeden Stein, jeden Baum. Und immer, wenn ich zurückkomme, leg ich mich nieder, auf indischen Boden und bin entspannt. Richtig glücklich. Ich finde, dieses Gefühl für die Heimat, das sollten die Menschen haben …“
Seit acht Jahren fährt Jasenthil Kumar zur See, zwei Jahre will er noch. Wenn das Geld dann reicht, will er Labor-Bedarf verkaufen, klein anfangen und Geld an Land verdienen. Matrose auf Zeit, Geldverdienen für einen besseren Job. Knapp 3000 Dollar pro Monat, die reichen müssen. Auch in den rund vier Monaten an Land. – Auf den Tischen brutzeln die Elektro-Öfen, alle Gäste: in Gespräche vertieft.
Jan Oltmanns und Thorsten Behrens gehen von Tisch zu Tisch, plaudern, wünschen „Frohe Weihnachten“, beide bepackt mit braunen Papiertüten. Geschenke für die Matrosen: Nüsse, ein Notizbuch, dazu noch Stifte. Ein Päckchen Zigaretten, eine Apfelsine, Schokoladen-Weihnachtsmänner.
Zwei Stunden später, halb zwölf. Die ersten Shuttle-Busse sind unterwegs. Zurück zu den Schiffen oder ins Seemannsheim in der City. Im Clubraum wird weiter gefeiert, Jan Oltmanns steht am Tresen. Den Ellenbogen aufgestützt, vor sich ein Flaschenbier, neben ihm zwei Matrosen von der „Kyoto Express“.
Matrose III: „Es ist schon komisch: wie wohl ich mich hier fühle …? Wir können telefonieren, wir erleben diese Gastfreundschaft. Und jedes Mal, wenn sie uns abholen oder zum Schiff zurückbringen, dann sag ich den Leuten vom Seemanns-Club: – Dankeschön!“
Oltmanns: „Für mich ist das ein Traumjob! Ich kann meinen christlichen Glauben leben. Kann ihn teilen mit anderen Menschen und – kriege das auch noch gut bezahlt. Also: bin zufrieden. Sehr zufrieden.“
Jan Oltmanns nimmt einen Schluck aus der halbvollen Flasche, klopft die nächste Zigarette auf den Tresen. Zurück im Gespräch mit den Matrosen, den Kopf leicht geneigt, ein offenes Ohr für seine Gäste.
Oltmanns: „Na ja, ich denke, Seeleute sind weit weg von zu Hause. Und getrennt von allem, was einem sonst so Halt oder Kraft geben kann. Und der fehlende feste Boden ist schon mehr als eine Metapher. Ich denke, das ist etwas, was wir uns gar nicht so vorstellen können, wenn wir nach acht Stunden Arbeit nach Hause gehen. Die Seeleute wohnen auf ihrem Arbeitsplatz! Und das ist ein großer Unterschied.“
Jan Oltmanns leitet die „Deutsche Seemannsmission Hamburg-Harburg Duckdalben e.V.“. Täglich geöffnet von nachmittags drei bis abends um elf. Der Weg vom Containerhafen über die Elbe, zu den alten Seemannsheimen auf St. Pauli und Altona ist weit. Für viele Matrosen zu weit, die Liegezeiten werden kürzer, Zeit ist Geld für die Reeder. Übernachtet wird auf den Schiffen, Erholung finden die Matrosen im Duckdalben. – Vor 20 Jahren öffnet der Seemannsclub, Jan Oltmanns ist von Anfang an dabei. Ein hagerer Typ, schmales Gesicht, Lachfalten um Mund und Augen. Hinter ihm, an der Wand: der rot-weiße Rettungsring vom Frachter „Sunderström“, ein Miniatur-Steuerrad aus dunklem Teak-Holz. Daneben Wimpel, Postkarten und Fotos von Fracht-Schiffen: die Besatzung aufgereiht an der Gangway. Zum Dank für eine schöne Zeit in den Duckdalben. Oltmanns füllt ein Zigarettenblättchen mit Tabak, routiniert, ein paar Krümel fallen auf die rot-weiß-karierte Tischdecke.
Oltmanns: „Ich denke, wichtig ist, dass man ein offenes Herz hat für die Menschen. Dass man versteht, dass die, die zur See fahren, für uns alle unterwegs sind und einen harten Job auf sich nehmen. Mit langen Trennungszeiten von zuhause. Und wenn man diese Menschen mag – und ich mag diese Menschen sehr – denn, denke ich, kann man ihnen für kurze Zeit ein bisschen Zuhause, weit weg von ihrer eigentlichen Heimat bieten.“
Jan Oltmanns dreht geübt seine Zigarette zu Ende, klopft sie zweimal auf die Tischplatte, steckt sie an und verabschiedet sich ins Büro. Eine Stunde noch bis zur Andacht.
Vor dem Clubraum, die Halle mit sechs Telefonzellen. Jan und Marina stimmen ihre Gitarren, proben für die Predigt, die sie begleiten sollen. Den Liederzettel auf dem Knie, die Fußspitzen wippen im Takt.
Neben ihnen wartet Abdul Shukor, Matrose aus Malaysia. Der junge Mann mit dunklem Schnauzer will zu Hause anrufen. So wie zwei Dutzend anderer Seemänner.
„Ich hab gehört, dass hier etwas veranstaltet wird, eine Weihnachtsfeier im Hafen. Deshalb bin ich hier, mal sehen wie es wird.“
Abdul Shukor ist Moslem, von Geburt an. So will es die malaysische Rechtsordnung. Der Islam ist Staatsreligion. Aber Shukor hat seinen eigenen Glauben.
Shukor: „Meine Religion …? – Hm. Also, eigentlich glaube ich an keinen bestimmten Gott. Ich bin da frei und feiere Weihnachten oder muslimische Feste. Meine Eltern und Großeltern sind Hindus. Nein – ich hab nicht nur eine Religion. Ich feiere alle Feste. Und heut Abend feiere ich Weihnachten.“
Zwei Matrosen sind noch vor ihm dran. Durch runde Bullaugen in den Telefonzellentüren sieht man die Matrosen-Köpfe, schwarze Hörer am Ohr, jeder vertieft, alle weit weg. Im Gespräch mit Familie und Freunden. Die Telefonkarten gibt es am kleinen Duckdalben-Kiosk. Verbilligt, das ganze Jahr über, nicht nur an Weihnachten.
Matrose I: „Wenn ich frage, wie es zuhause geht, höre ich immer: Ja, es ist alles okay. Aber das Leben ist nicht immer okay. Und manchmal erzählt meine Familie auch nicht alles. Ich soll mir keine Sorgen machen – weil ich so weit weg bin. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.“
Fadhil: „Einsam. Einsam fühle ich mich. Ich habe eine Frau. Und drei kleine Kinder. Drei kleine Jungs. – Und das einzige, was gegen die Einsamkeit hilft, ist: anrufen. Zu Hause anrufen. Es ist gut: Man ruft einfach an und es geht einem besser. Heute habe ich gleich vormittags angerufen, zum Mittag, Nachmittag und eben wieder. Vier Mal schon!“
Sharifa Fadhil ist 48, geboren in Jakarta. Der First Engineer auf der „Sunny Blossom“ ist zuständig für den Motor, seit drei Wochen in Hamburg. Das Schiff liegt im Trockendock. Reparaturarbeiten. Jetzt ist der kleine, kräftige Indonesier an der Reihe, die Telefon-Tür geht auf. Die Telefonkarte zwischen den Fingern, verschwindet Sharifa Fadhil in der Kabine. Tür zu. Der Hörer noch warm von seinem Vorgänger.
Matrose II: „Mit meiner Familie hab ich telefoniert. Es ist Weihnachten und ich vermiss sie einfach. Meine Freundin, meine Eltern, die Geschwister. Ich würde gern Weihnachten mit ihnen feiern, diese Tage genießen. Man kann es nicht beschreiben: Ich bin sehr glücklich und traurig zugleich. Ich weiß noch nicht, wann ich alle wieder sehe. Und ich weiß: Nächstes Jahr bin ich wieder unterwegs.“
Der junge Indonesier fährt erst zwei Jahre zur See. Noch verstört vom Telefonieren, den Blick nach unten, verschwindet er in Richtung Tresen. – Zur gleichen Zeit, vor dem Seemannsheim: Heiko Behrens, gerade 19, krause blonde Locken und Turnschuhe, steigt in den schmutzig-weißen Duckdalben-Bulli. Heiko Behrens macht ein Freiwilliges Soziales Jahr im Seemannsheim. Soll Matrosen vom Schiffs-Terminal abholen. Anschnallen, Radio an, die Fahrt geht los.
Behrens: „Ja, die Jungs müssen ja irgendwie in diesem großen Hafen von A nach B kommen bzw. von ihren Schiffen erstmal runterkommen und denn zu uns kommen oder einige wollen auch in die Stadt. Und wir bieten eben an, dass wir einen kostenlosen Shuttle-Bus-Service machen. Und da bin ich einer der Fahrer.“
Der Asphalt trocken. Von hohen Laternen gelb-orange erleuchtet wie im ganzen Hafen. Ein paar kleine, graue Schneeflecken säumen die Straße. Heiko Behrens lenkt mit der Linken, die Rechte liegt auf der ausgeblichenen Jeans, klopft im Takt. Schnelle Fahrt über Brücken, leere Kreuzungen, durch enge Kurven.
Behrens: „Heut haben wir eine sehr schöne Fahrt. Normal ist das hier immer sehr, sehr überfüllt. Der ganze Hafen wimmelt nur von Autos. Aber Weihnachten ist eben ein bisschen ruhiger von der Verkehrslage her.“
Die Straßen fast leer. An Heiligabend steuern nur wenige Schiffe den Hamburger Hafen an. Alle Arbeiten ruhen, kein Container wird entladen, kein Frachter beladen. Kaum ein Reeder will dann die Liegegebühren im Hafen zahlen. Die Schiffe kreuzen auf dem Meer. Die Besatzung der „Kyoto Express“ hat Glück: ihrer Reederei gehört ein Teil des Hafens, das Festmachen für das hellgraue 300-Meter-Schiff ist umsonst.
Behrens: „Ich glaube, auf der Kyoto-Express sind auch hauptsächlich Phillipinos. So wie das auf den meisten Schiffen ist. Insofern gehe ich mal davon aus, dass da gleich viele fröhliche Menschen auf uns zu kommen …“
Die diesig-gelben Terminallichter tauchen auf, das kleine Pförtnerhäuschen am Tor vom „Container-Terminal Altenwerder“. Leergefegt das riesige, dunkelgraue Gelände, nur die Schattenrisse einer kleinen Gruppe in der Kälte, dicht bei einander, Hände in den Anoraktaschen. Atemwölkchen vor den Köpfen.
Behrens: „So! wir fahren jetzt hier zum Gate rein. Wir könnten theoretisch auch rauf fahren, aber die warten hier schon. – Die winken jetzt gerade noch den Gate-Männern – denen winke ich jetzt auch, weil: die müssen ja auch heute arbeiten.“
Phillipino: „Es ist toll! Unser Schiff ist das einzige im ganzen Hafen. Ein neues Schiff! Gerade mal zwei Monate alt, zwei Monate auf See. Und eins der größten Container-Schiffe der Welt! Mit 8700 TEUs, also es passen über 8700 Container drauf! 335 Meter lang und 42 Meter breit! Genauer: 42,7 Meter. Eines der größten!“
16 Philippinos arbeiten auf der „Kyoto Express“, zusammen mit 8 Deutschen. Der Kapitän ist Hamburger, feiert Weihnachten zu Hause. Hinten im Bulli, dicht an dicht, sitzen sieben Matrosen. Mit fröhlichen Gesichtern, in Jeans und Winterjacken, einer mit Pelzmütze.
Sridhar Josyula und seine Kollegen kennen das Seemannsheim Duckdalben. Wissen, was sie erwartet. Zehn Minuten dauert die Fahrt, Ankunft auf dem Parkplatz. Lichterketten schmücken den modernen, zweistöckigen Klinkerbau. Über dem Eingang blinkt rot ein tellergroßes Plastikherz.
Sieben Philippinos verschwinden in den Clubraum, Jan Oltmanns schüttelt jedem die Hand, klopft Schultern. Ein breites, warmes Lächeln für jeden neuen Gast. – Drinnen, in der Halle, unterm Zwei-Meter-Tannenbaum mit Elektrokerzen, sitzt der 78-jährige Hinnerk Bielfeld. Drahtig, groß, mit Kinnbart. Neben ihm: seine Frau Marie, zwei Ehrengäste, jedes Jahr sind sie dabei.
Herr & Frau Bielfeld: „Ich war zwölf Jahre lang Vorsitzender des Vereins. – Und ich bin sein Anhängsel … Aber ich werde immer sehr respektiert und man liebt mich auch. Weil ich diesen Laden so sehr liebe! Ich finde das so großartig, was hier geleistet wird. – Man sagt in Shanghai: ‚Ihr müsst in Hamburg zum Duckdalben gehen. Da habt ihr’s gut!‘ Hier ist es so herzlich! Der Jan ist so … ach: herzlich, wie ein großer Bruder, so nett. – Man gehört einfach dazu. – Man wird von den Leuten, die was zu sagen haben, umarmt und geküsst. Also: ich komme hier so gerne her!“
Marie Bielfeld hält ihrem Mann die faltige Hand. Rotbraune Flecken, goldener Ehering. Neben ihnen, auf dunklen Stühlen: Rowley Handoko und seine Kollegen aus Indonesien. Rowley, dicker roter Woll-Pullover, eine alte Narbe am Kinn, wartet auf die Predigt. Eben hat er telefoniert:
Rowley Handoko: „Ich hab meine Mutter angerufen, meine Frau, und es ist immer etwas schwierig, denn wir haben ja die Zeitverschiebung: sechs Stunden, glaub ich. Und zu Hause ist es schon sehr spät. Das ist schwierig.“
In Hamburg ist es kurz nach sieben, in Indonesien schon zwei Uhr morgens.
Rowley Handoko: „Ich bin einfach sehr traurig. – Gerade an Weihnachten, wo man sich doch gewünscht hat, mit der Familie zu feiern. – Egal. Ich hab telefoniert und erzählt, dass hier eine Menge Seeleute sind und dass wir feiern. Und dass in zehn Minuten die Predigt anfängt. – Meine Verwandten sind jetzt beruhigt: ich bin nicht allein und ich genieße den Abend! Traurig bin ich trotzdem.“
Matrosen und Freunde des Duckdalben-Teams strömen in die Halle. Aus dem großen Billard-Raum, dem Clubraum und von oben, aus dem „Raum der Stille“. Alle nehmen ihre Plätze ein, sechs Stuhlreihen, fünfzig Stühle, nicht jeder bekommt einen. Eine Handvoll Kinder wird leise zur Ordnung gerufen, Jan Oltmanns tritt ans Pult vor die Zuhörer, blickt ruhig in die Runde.
Oltmanns: „Welcome! Welcome all you beautiful people here tonight. From all over the world. From India, from the Phillipines, from Iraque I heard. From China, from Jordan. I think, we are almost complete around here. Welcome fort he Holy Night in Duckdalben! – Let us celebrate the birthday of Jesus Christ together!“
Ohne Talar, immer noch in Jeans und ausgewaschenen Sweatshirt hält Jan Oltmanns seine Predigt. Die Hände rechts und links am Pult.
Oltmanns: „Let us sing together! And we are happy, that we have again Comy, who already played for us and Jan and Marina here to assist us a little bit with the music! So we sind our very first song: Jingle Bells You find on the little paper, lying on your chair.“
Jan Oltmanns tritt einen Schritt zurück, singt mit, auch ohne Liederzettel, wippt im Rhythmus. Der alte Vereinsvorsitzende Hinnerk Bielfeld klappt seine Lesebrille auf, stimmt mit ein, seine Frau wiegt den Oberkörper und die graue Dauerwelle. Diakon Jan Oltmanns greift seinen Predigttext,
kurzer Seitenblick zu den beiden Gitarrenspielern.
Oltmanns: „The God whose love became a Human like us: he wanted to be near to his creation. And he wanted to show another way of living together. A way of living together, a way of loving each other, a way of helping and healing each other. Instead of fighting, destroying and killing!“
Oltmanns Thema ist die Liebe. Liebe zwischen den Menschen und das, was der Liebe im Weg steht. Abstrakt bleibt er nicht, geht auf die Probleme der Matrosen ein. Zu diesen Problemen gehört der so genannte ISPS-Code. Das Gesetz ist eine Idee der Amerikaner, Terrorsanschläge mit Schiffen soll es verhindern: Strenge Personal-Kontrollen, jeder Kapitän und jeder Schiffskoch wird überprüft. Frachter im Hafen darf nur betreten, wer sicherheitsüberprüft ist. Auch Diakone dürfen nicht an Bord, auch nicht an Weihnachten. Jan Oltmanns ärgert sich, holt Luft, den Oberkörper ganz aufrecht:
Oltmanns: „This morning we wanted to visit you on the ships. We wanted to go to bring you some Christmas-cake. But the watchmen said: No! No chance! You are not allowed! There is a guy in Washington and he made ISPS and you are not allowed to see the seafarers even on Christmas.“
Jan Oltmanns Augen lachen nicht mehr, die Stirn in Falten, die rechte Hand geballt. Zornige grau-blaue Augen. Der Diakon schimpft über Herodes als despotischen Herrscher zu Jesus’ Zeiten. Und über Despoten der Gegenwart.
Oltmanns: „This story began with the law of an emperor. And you see: there are still big and powerful! And they have something against to share the love! – But let’s go back to the story: there’s a baby born. And two thousend years later, people all around the world celebrate christmas! ...“
Jan Oltmanns betet im Stehen, schließt die Augen: für die Matrosen und ihre Angehörigen, preist ihren Zusammenhalt, spricht ein englisches Vater-Unser. Das „Our Father in Heaven“. Gelesen wird die Weihnachtsgeschichte, in drei Sprachen:
Marina und Jan begleiten auf der Gitarre: „Go, tell it to the Ocean!“, „Holy Night” und ganz zum Schluss kommt ein Lennon-Song. Jan Oltmanns strahlt wieder:
Oltmanns: „You see!: this idea of love is still alive. People all around the world write each other letters these days and make each other presents these days. And they want to ashure each other: You are loved! – Happy Christmas. From John Lennon!“
Hinter Jan Oltmanns, im hellgelben Türrahmen zum Clubraum: das Küchen-Team steht bereit, wartet auf das Predigt-Ende, rote Papier-Servietten unter dem Arm. – Hinter der Halle, im Billardraum ist schon gedeckt: weiße Tischtücher, kleine Raclette-Öfen auf jedem Tisch, frisches, zurechtgeschnittenes Gemüse: rote, gelbe, grüne Paprika, Sojasprossen, rosa Rind- und Schweine- und Lammfleisch auf großen Tellern. Weingläser, entkorkte weiße und rote Flaschen, kleine, braune Emaille-Schälchen für den Grill. Alles bereit.
Die Servietten werden verteilt, geübte Handgriffe, ganz schnell. Die ersten Gäste nehmen Platz, rücken Stühle an den Tisch, plaudern, stehen zusammen. Maria Bielfeld hakt ihren Mann unter, schaut zu ihm hoch, auf dem Weg zum Essen, begeistert:
Bielfeld: „Also: weswegen ich immer komme ist, damit ich hundert Leuten die Hand drücke und ‚Fröhliche Weihnachten!‘ sage. – Das finde ich so wichtig: Das wir zivilen Leute und auch um die Menschen kümmern. Und deswegen – wenn ich das auch nicht versteh, was die anderen vorlesen – aber ich finde das so großartig! Ich bin so begeistert vom Duckdalben!“
Die Bielfelds steuern auf ihren Tisch zu, Jan Oltmanns begrüßt die beiden, setzt sich dazu, neigt den Kopf im Gespräch. Nebenan: ein indischer Tisch. Vier junge Männer, zwei junge Frauen. Vor ihnen dampfen Reis und Kartoffeln aus großen weißen Porzellan-Schüsseln.
Jasenthil Kumar: „Mein Name ist Jasenthil Kumar. Ich bin first Engineer. Kümmere mich um die Maschine, dass sie läuft. Um die Wartung des Motors und um alles, was dazu gehört!“
Jasenthil Kumar ist 28, stammt aus Süd-Indien. Schmale Schultern, die dunkelbraunen, fast schwarzen Haare zum Scheitel gekämmt, hellgrünes Hemd und Jeans, eine schmale Zahnlücke.
Jasenthil Kumar: „Nein. Schön ist der Job nicht. – Das kann man nicht sagen … Interessant ist er, aber manchmal eben auch sehr einsam. Wir arbeiten auf hoher See, weit weg von unseren Familien, weit weg von unseren Freunden. Dafür gibt es keinen Ersatz an Bord, kein soziales Netz. Und wenn ich meinen Job im Maschinenraum mache, dann hab ich höchstens mit vier Kollegen zu tun.“
Aber Jasenthil Kumar hat Glück: neben ihm sitzt seine Frau. Nidhva Kumar. Glatte, glänzende Haare, zum Zopf gebunden, ein Ellenbogen aufs Tischtuch gestützt, nach vorn gebeugt. Wache, dunkle Augen.
Nidhva Kumar: „Ich vermisse ihn einfach viel zu sehr, wenn er nicht da ist. Also bin mitgefahren, habe Zeit für ihn. Ich will bei meinem Mann sein, am liebsten immer, ich will ihn begleiten und darum fahre ich mit. Ich liebe ihn. Ich liebe ihn sehr!“
Breites Lächeln zu ihrem Mann. Der lächelt schüchtern zurück, schiebt verlegen sein Besteck zurecht. Nidhva Kumar begleitet ihren Mann zwei Monate lang. Bezahlt die Kabine, fürs Essen. Eine Freundin fährt mit, begleitet ihren Matrosen. Lesen, Plaudern, das Meer beobachten. Sechs Wochen liegen noch vor ihnen. Sechs Wochen auf dem Containerschiff.
Nidhva Kumar: „Ich bin das erste Mal auf See und ich genieße die Reise. Ich mag das Meer und das Schiff und ich mag die Menschen an Bord. Angst vor dem Meer hab ich nicht und seekrank werd ich auch nicht. – Es ist einfach eine tolle Chance, viele Menschen kennen zu lernen, alle verschieden und alle aus anderen Ländern.“
Jasenthil Kumar: „Aber man muss auch diplomatisch sein. Und man muss sich auf andere einstellen. Da ist es egal, ob man die Kollegen nun mag oder nicht: wenn man zusammen arbeitet, muss man zusammen klar kommen.“
Und auch, wenn seine Frau ihn begleitet: seine Heimat ist weit weg. Jasenthil Kumar hat Sehnsucht nach Zuhause, freut sich auf die Rückfahrt im Februar:
Jasenthil Kumar: „Natürlich vermiss ich mein Land! Mein Indien! Ich liebe dieses Land und ich vermisse jeden Stein, jeden Baum. Und immer, wenn ich zurückkomme, leg ich mich nieder, auf indischen Boden und bin entspannt. Richtig glücklich. Ich finde, dieses Gefühl für die Heimat, das sollten die Menschen haben …“
Seit acht Jahren fährt Jasenthil Kumar zur See, zwei Jahre will er noch. Wenn das Geld dann reicht, will er Labor-Bedarf verkaufen, klein anfangen und Geld an Land verdienen. Matrose auf Zeit, Geldverdienen für einen besseren Job. Knapp 3000 Dollar pro Monat, die reichen müssen. Auch in den rund vier Monaten an Land. – Auf den Tischen brutzeln die Elektro-Öfen, alle Gäste: in Gespräche vertieft.
Jan Oltmanns und Thorsten Behrens gehen von Tisch zu Tisch, plaudern, wünschen „Frohe Weihnachten“, beide bepackt mit braunen Papiertüten. Geschenke für die Matrosen: Nüsse, ein Notizbuch, dazu noch Stifte. Ein Päckchen Zigaretten, eine Apfelsine, Schokoladen-Weihnachtsmänner.
Zwei Stunden später, halb zwölf. Die ersten Shuttle-Busse sind unterwegs. Zurück zu den Schiffen oder ins Seemannsheim in der City. Im Clubraum wird weiter gefeiert, Jan Oltmanns steht am Tresen. Den Ellenbogen aufgestützt, vor sich ein Flaschenbier, neben ihm zwei Matrosen von der „Kyoto Express“.
Matrose III: „Es ist schon komisch: wie wohl ich mich hier fühle …? Wir können telefonieren, wir erleben diese Gastfreundschaft. Und jedes Mal, wenn sie uns abholen oder zum Schiff zurückbringen, dann sag ich den Leuten vom Seemanns-Club: – Dankeschön!“
Oltmanns: „Für mich ist das ein Traumjob! Ich kann meinen christlichen Glauben leben. Kann ihn teilen mit anderen Menschen und – kriege das auch noch gut bezahlt. Also: bin zufrieden. Sehr zufrieden.“
Jan Oltmanns nimmt einen Schluck aus der halbvollen Flasche, klopft die nächste Zigarette auf den Tresen. Zurück im Gespräch mit den Matrosen, den Kopf leicht geneigt, ein offenes Ohr für seine Gäste.