Die heilende Kraft von Mutter Erde

Von Udo Pollmer |
Ein altes, ungewöhnliches Nahrungsmittel hat sich als Wunderwaffe gegen allerlei resistente Keime erwiesen, nicht nur gegen Salmonellen oder EHEC, sondern auch gegen die gefürchteten Hospitalismuskeime. Es handelt sich um Heilerde. Oder besser gesagt, um unbekannte Bestandteile von Heilerden. Trotz intensiver Forschung weiß bis heute niemand, warum sie wirkt.
Heilerde schmiert man sich auf die Haut. Seit wann wird so was gegessen? Richtig, mit Heilerde werden seit Generationen Hautkrankheiten wie das Buruli-Geschwür behandelt, eine Erkrankung ähnlich der Lepra, die vor allem in den Tropen verbreitet ist. Der Erreger ist gegen die meisten modernen Antibiotika resistent. Aber Heilerde wird nicht nur äußerlich angewandt, sondern traditionell vor allem gegessen. Ihr Verzehr war und ist teilweise noch so weit verbreitet, dass einem der Begriff Grundnahrungsmittel in den Sinn kommt. Denn Heilerde wurde nicht nur von der Mehrzahl menschlicher Gesellschaften konsumiert, sondern auch von vielen Tierarten, insbesondere von Pflanzenfressern.

Ja gut, aber Tiere fressen nun mal alles Mögliche. Der springende Punkt ist, dass auch Tiere ganz gezielt bestimmte Erden suchen. Und es sind rund um den Globus überwiegend die gleichen Typen an Erde, die gewählt werden: vorzugsweise kaolinhaltige Mineralien. Die werden von Mensch wie Tier beispielsweise zur Behandlung von Darminfekten konsumiert. Tonerde bindet bakterielle Gifte ähnlich effektiv wie medizinische Kohle.

Die meisten würden hier zuerst an Mineralstoffmangel denken? Da und dort scheint das auch eine Rolle zu spielen. Beispielsweise bei Fledermäusen, die sich ausschließlich von Früchten nähren und damit beim Calcium grenzwertig versorgt sind. Vor allem während der Trächtigkeit und der Säugeperiode suchen die Tiere gezielt calciumhaltige Erden. Beim Menschen ist diese Praxis vor allem bei Völkern verbreitet, die sich überwiegend pflanzlich ernähren. Pflanzen enthalten zwar Calcium, aber zugleich auch eine Reihe von Stoffen, die die Calciumversorgung beeinträchtigen wie Phytin oder Oxalate. Bei einer solchen Ernährung kann es für eine Schwangere schon knapp werden. In der Tat sind es vor allem Schwangere, die zu speziellen Tonerden greifen. Was heute noch in Afrika aber auch in Teilen Amerikas verbreitet ist, war auch im mittelalterlichen Europa nichts Ungewöhnliches. Vor allem im zweiten Drittel der Schwangerschaft ist dies ein deutlicher Hinweis auf Calciumbedarf. Denn dann wird das Skelett des Kindes angelegt und entsprechend steigt der Bedarf. In Afrika wird vor allem Erdmaterial von Termitenhügeln geschätzt, weil sie sehr calciumreich sind. Diese Erdbrocken werden dort gehandelt wie andernorts Salz.

Welche Mineralien spielen hier noch eine Rolle? Bisher verlief die Suche nicht sehr erfolgreich. Die meisten Beobachtungen deuten in eine völlig andere Richtung. Denn der Verzehr von Erde findet noch häufiger im ersten Drittel der Schwangerschaft statt. Und zwar als Mittel gegen das Schwangerschaftserbrechen. Die fraglichen Erden binden vor allem pflanzliche Abwehrstoffe, die dem Fötus gefährlich werden könnten. Das Erbrechen dient dazu, riskante Stoffe rechtzeitig zu entfernen. Nach dem Ende des ersten Drittels der Schwangerschaft ist die Gefahr durch Pflanzenstoffe für den Fötus vorbei und der Appetit stellt sich wieder ein. Diese Abwehrstoffe sind auch der Grund, warum früher Eicheln oder Wildkartoffeln stets mit diesen Erden zubereitet wurden. Damit konnten Polyphenole und Alkaloide gebunden werden. Sie wurden nach dem Verzehr mit der Erde wieder ausgeschieden. In der Lebensmittelindustrie werden diese Erden ja bis heute als Filtermaterial verwendet, um beispielsweise schädliche Stoffe aus Speiseölen zu entfernen.

Irgendwie klingt der Verzehr von Erde schon komisch. Aber es ist ja auch eine Art von Medizin. Für uns mag die Geophagie etwas befremdlich wirken. In der Psychiatrie gilt sie sogar als behandlungsbedürftige Krankheit, die durch irgendwelche frühkindlichen Störungen hervorgerufen wird. Aber auf die Erdhäppchen haben diese Menschen genauso Appetit wie bei uns auf Pralinen oder eine Portion Vanilleeis. Teilweise wird die Erde vor dem Verzehr sogar extra gebacken und die "Sandkuchen" wie Kekse den Tag über genascht. Es schmeckt, einfach weil es dem Körper nutzt. Würde es ihm schaden, würde den Menschen der Appetit darauf von ganz allein vergehen. Und je mehr es nutzt, desto begieriger wird es verzehrt.

Literatur: Petkewich R: Healing clays. C&EN 2008, 28. April: 48-49
Haydel SE et al: Broad spectrum in vitro antibacterial activities of clay minerals against antibiotic-susceptible and antibiotic-resistant bacterial pathogens. Journal of Antimicrobial Chemotherapy 2008; 61: 353-361
Wiley AS, Katz SH: Geophagy in pregnancy. Current Anthropology 1998; 39: 532-545
Knecht T: Pica – eine qualitative Appetitstörung. Schweizer Medizinische Wochenschrift 1999; 129: 1287-1297
Diamond JM: Dirty eating for healthy living. Nature 1999; 400: 120-121