"Die Gruppe der Nichtwähler ist die größte messbare Gruppe"
"Klar ist, dass die hohe Nichtwahlbeteiligung immer mehr infrage stellt, wie weit denn Wahlen noch geeignet sind, die politische Meinungsbildung oder die Willensbildung herbeizuführen" - sagt der Schriftsteller Thomas Brussig.
Wuttke: Nicht zu wählen bedeutet, Freiheit von der Politik auszudrücken, das ist etwas sehr, sehr Kostbares. Nicht wählen zu gehen, kann auch seine Ursache darin haben, dass ich als Wahlberechtigter glaube, dass es für meine Lebensrealität, meine materiellen und freiheitlichen Verhältnisse, mein Lebensglück und meine Geschichte nicht von Belang ist, wer an der Macht ist.
- Mit diesen Sätzen sorgte der Schriftsteller Thomas Brussig seit August für Aufsehen. Jetzt ist er am Telefon. Guten Morgen, Herr Brussig!
Thomas Brussig: Schönen guten Morgen!
Wuttke: Sind Sie das Ich, von dem Sie da gesprochen haben?
Brussig: Ja, schon. Also das sind Überlegungen, die mir auch durch den Kopf gegangen sind, also in diesem Wahlkampf. Wenn mich der Schuh drückt, dann wüsste ich, wen ich wählte, dann würde es mich auch drängen, jemandem an die Macht zu helfen beziehungsweise jemanden aus dem Amt zu jagen. Das war jetzt bei dieser Wahl nicht so.
Wuttke: Wie? Das heißt, Sie haben dann doch den Drang verspürt, gegen die Aufregung, die Sie mit Ihrem Artikel verursacht haben, doch in die Wahlkabine zu gehen?
Brussig: Das will ich damit nicht sagen. Ich habe mir einfach über das Nichtwählen Gedanken gemacht, und das gestrige Wahlergebnis, insbesondere also im Hinblick auf die Wahlbeteiligung, zeigt ja auch, dass bei dieser Wahl das Nichtwählertum wirklich ein Thema ist. Also die Nichtwähler, die Gruppe der Nichtwähler ist die größte messbare Gruppe. Sie ist größer als die Gruppe der CDU/CSU-Wähler.
Wuttke: Ja, quasi zweitstärkste Partei?
Brussig: Nee, stärkste. Wenn man das so sagen will ...
Wuttke: Die Union hat schon doch noch ein paar mehr%e als die "Partei der Nichtwähler", wenn ich es so sagen darf - es sind 29 Prozent.
Brussig: Die Nichtwähler sind 29 Prozent von Hundert, aber die CDU/CSU hat - ich weiß nicht - 34 von 72 oder von 71. Und dann in absoluten Zahlen ausgedrückt, würde man dann darauf kommen, dass die Nichtwähler ein paar Millionen mehr sind als die Wähler der stärksten Partei.
Wuttke: Was Sie also über die Ursachen für Wahlberechtigte geschrieben haben, warum Sie sich überlegen könnten, nicht zur Wahlkabine zu gehen, fühlen Sie sich in Ihren Überlegungen da bestätigt, wenn Sie sich die Wahlergebnisse ansehen?
Brussig: Ja, in gewisser Weise schon, es hat aber bei dieser Wahl sicherlich auch eine Ursache darin, dass nicht so richtig klar war, wen wähle ich dann, dass die Unterschiede zwischen den Parteien gar nicht so richtig klar waren. Also da hat's Profilprobleme gegeben. Und dann kann man ja auch also an dem - jetzt, wenn man das Wahlergebnis mal genau analysiert, wird man dann eben auch sehen, dass es viele taktische Wähler gegeben hat. Also so schlecht geredet wie die CDU wird, so schlecht sehe ich die gar nicht, weil einfach viele, die Schwarz-Gelb wollten, dann eben von der CDU, also der CDU-Stammwähler, dann zur FDP gegangen sind. Aber das war ein Wahlkampf, der hat diese schlechte Wahlbeteiligung eigentlich schon vorhersehen lassen.
Wuttke: Herr Brussig, ich bin ehrlich gesagt davon ausgegangen, wer so was schreibt, der geht auch nicht zur Wahl. Haben Sie mit all diesen Sätzen, mit diesen Überlegungen, die Sie sich gemacht haben, nichts anderes bezweckt, als Öl ins Feuer zu gießen?
Brussig: Was habe ich damit bezweckt? Also ...
Wuttke: Die Frage stellt sich.
Brussig: Ja, es geht mir oder es ging mir auch darum, dass wir uns überhaupt mal Gedanken darüber machen, wie eine Mehrheitsfindung in unserer Gesellschaft abläuft, ob denn Wahlen überhaupt noch geeignet sind, so was wie Mehrheiten herauszufinden. Denn wenn man sich überlegt, was denn so in Wahlkämpfen immer eine Rolle spielt - also ich gebe zu, in diesem Wahlkampf wurden verhältnismäßig wenig Kinder auf den Arm genommen oder Kinderköpfe getätschelt, aber es hat nun für die Zukunft einer Gesellschaft nun wirklich wenig oder keinen Belang, ob nun eine Ministerin ihren Dienstwagen privat genutzt hat oder nicht, aber so was spielt dann eben in Wahlkämpfen eine Riesenrolle.
Wuttke: Aber Pardon mal, Sie haben ja jetzt gerade gesagt, man sollte sich überlegen, ob Wahlen das richtige Mittel ist, bitte was denn sonst?
Brussig: Darüber können wir uns dann Gedanken machen. Wenn wir uns erst mal darüber einig sind, dass Wahlen nicht so unbedingt geeignet sind, dass es im 21. Jahrhundert da eben andere und bessere Methoden gibt ...
Wuttke: Herr Brussig, was meinen Sie?
Brussig: Ich weiß es auch noch nicht so richtig ...
Wuttke: Aha.
Brussig: ... aber ich finde, dass die Art und Weise, die Argumente, die in Wahlkämpfen vorgebracht werden ... Und für mich ist immer das Superbeispiel die Brille von Helmut Kohl. Also Helmut Kohl war kurzsichtig, aber je älter er wurde, desto - also da setzt dann immer so eine Altersweitsichtigkeit ein, die die Kurzsichtigkeit aufhebt, und er konnte dann auf die Brille verzichten. Nun haben ihm aber seine Berater gesagt, nachdem er ein paar mal ohne Brille aufgetreten ist, er möge doch bitte weiter mit Brille auftreten, das wirkt intellektueller und das bringt ihm paar Millionen. Und da sage ich nun, also was sind Wahlen wert, wenn die Entscheidung der Wähler davon abhängt, ob der Spitzenkandidat nun mit oder ohne Brille auftritt. Das ist jetzt ein Beispiel, das ist ein paar Jahre her. Aber wir haben doch heute ganz andere Methoden, um Kräfteverhältnisse zu ermitteln.
Wuttke: Dann sagen Sie sie mir doch!
Brussig: Ich weiß es nicht. Also es gibt so was wie den TED oder es gibt einfach Messungen, die sind viel genauer, die sind viel aktueller. Und wenn ich weiß, dass morgen eine Debatte ansteht, die meine Lebensrealität betreffen könnte, also zum Beispiel, wenn ich Berufspendler bin, das bin ich nicht, aber morgen steht eine Diskussion zur Pendlerpauschale an und ich habe eine Meinung dazu, dann sollte es doch möglich sein, dass ich ganz aktuell mich dazu positionieren kann. Oder wenn ich ein Vater von Kindern bin, die einen Kitaplatz brauchen und morgen wird im Bundestag dieses Thema diskutiert, dann sollte es mir vielleicht möglich gemacht werden, dass ich eben im Zuge von so aktuellen Ermittlungen des Kräfteverhältnisses eben dort mein Votum in die Waagschale werfen kann.
Das heißt nicht Volksabstimmung, sondern ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass man so ein Machtquantum am Anfang einer Legislaturperiode bekommt und dann eben diese - sagen wir mal, man hat 100 oder man hat 1000 Machtquanten ...
Wuttke: Herr Brussig, Sie müssen jetzt mal die Schlusskurve kriegen!
Brussig: Ja, Sie wollten es von mir wissen. Es ist eine komplizierte Frage, ich kann Ihnen hier nicht in anderthalb Minuten die Zukunft unserer Demokratie entwerfen!
Wuttke: Na ja, Sie haben mich einige Anläufe nehmen lassen, bis Sie überhaupt auf meine Frage geantwortet haben, wie genau Sie sich das vorstellen, glaube ich, müssen wir ...
Brussig: ... worauf es hinausläuft, dass das eben nicht eine Sache von so einem kurzen Gespräch ist. Klar ist, dass die hohe Nichtwahlbeteiligung immer mehr infrage stellt, wie weit denn Wahlen noch geeignet sind, die politische Meinungsbildung oder die Willensbildung herbeizuführen.
Wuttke: Meint der Schriftsteller Thomas Brussig. Ich danke Ihnen sehr, und wir schauen mal, was Sie jetzt eigentlich gemeint haben.
- Mit diesen Sätzen sorgte der Schriftsteller Thomas Brussig seit August für Aufsehen. Jetzt ist er am Telefon. Guten Morgen, Herr Brussig!
Thomas Brussig: Schönen guten Morgen!
Wuttke: Sind Sie das Ich, von dem Sie da gesprochen haben?
Brussig: Ja, schon. Also das sind Überlegungen, die mir auch durch den Kopf gegangen sind, also in diesem Wahlkampf. Wenn mich der Schuh drückt, dann wüsste ich, wen ich wählte, dann würde es mich auch drängen, jemandem an die Macht zu helfen beziehungsweise jemanden aus dem Amt zu jagen. Das war jetzt bei dieser Wahl nicht so.
Wuttke: Wie? Das heißt, Sie haben dann doch den Drang verspürt, gegen die Aufregung, die Sie mit Ihrem Artikel verursacht haben, doch in die Wahlkabine zu gehen?
Brussig: Das will ich damit nicht sagen. Ich habe mir einfach über das Nichtwählen Gedanken gemacht, und das gestrige Wahlergebnis, insbesondere also im Hinblick auf die Wahlbeteiligung, zeigt ja auch, dass bei dieser Wahl das Nichtwählertum wirklich ein Thema ist. Also die Nichtwähler, die Gruppe der Nichtwähler ist die größte messbare Gruppe. Sie ist größer als die Gruppe der CDU/CSU-Wähler.
Wuttke: Ja, quasi zweitstärkste Partei?
Brussig: Nee, stärkste. Wenn man das so sagen will ...
Wuttke: Die Union hat schon doch noch ein paar mehr%e als die "Partei der Nichtwähler", wenn ich es so sagen darf - es sind 29 Prozent.
Brussig: Die Nichtwähler sind 29 Prozent von Hundert, aber die CDU/CSU hat - ich weiß nicht - 34 von 72 oder von 71. Und dann in absoluten Zahlen ausgedrückt, würde man dann darauf kommen, dass die Nichtwähler ein paar Millionen mehr sind als die Wähler der stärksten Partei.
Wuttke: Was Sie also über die Ursachen für Wahlberechtigte geschrieben haben, warum Sie sich überlegen könnten, nicht zur Wahlkabine zu gehen, fühlen Sie sich in Ihren Überlegungen da bestätigt, wenn Sie sich die Wahlergebnisse ansehen?
Brussig: Ja, in gewisser Weise schon, es hat aber bei dieser Wahl sicherlich auch eine Ursache darin, dass nicht so richtig klar war, wen wähle ich dann, dass die Unterschiede zwischen den Parteien gar nicht so richtig klar waren. Also da hat's Profilprobleme gegeben. Und dann kann man ja auch also an dem - jetzt, wenn man das Wahlergebnis mal genau analysiert, wird man dann eben auch sehen, dass es viele taktische Wähler gegeben hat. Also so schlecht geredet wie die CDU wird, so schlecht sehe ich die gar nicht, weil einfach viele, die Schwarz-Gelb wollten, dann eben von der CDU, also der CDU-Stammwähler, dann zur FDP gegangen sind. Aber das war ein Wahlkampf, der hat diese schlechte Wahlbeteiligung eigentlich schon vorhersehen lassen.
Wuttke: Herr Brussig, ich bin ehrlich gesagt davon ausgegangen, wer so was schreibt, der geht auch nicht zur Wahl. Haben Sie mit all diesen Sätzen, mit diesen Überlegungen, die Sie sich gemacht haben, nichts anderes bezweckt, als Öl ins Feuer zu gießen?
Brussig: Was habe ich damit bezweckt? Also ...
Wuttke: Die Frage stellt sich.
Brussig: Ja, es geht mir oder es ging mir auch darum, dass wir uns überhaupt mal Gedanken darüber machen, wie eine Mehrheitsfindung in unserer Gesellschaft abläuft, ob denn Wahlen überhaupt noch geeignet sind, so was wie Mehrheiten herauszufinden. Denn wenn man sich überlegt, was denn so in Wahlkämpfen immer eine Rolle spielt - also ich gebe zu, in diesem Wahlkampf wurden verhältnismäßig wenig Kinder auf den Arm genommen oder Kinderköpfe getätschelt, aber es hat nun für die Zukunft einer Gesellschaft nun wirklich wenig oder keinen Belang, ob nun eine Ministerin ihren Dienstwagen privat genutzt hat oder nicht, aber so was spielt dann eben in Wahlkämpfen eine Riesenrolle.
Wuttke: Aber Pardon mal, Sie haben ja jetzt gerade gesagt, man sollte sich überlegen, ob Wahlen das richtige Mittel ist, bitte was denn sonst?
Brussig: Darüber können wir uns dann Gedanken machen. Wenn wir uns erst mal darüber einig sind, dass Wahlen nicht so unbedingt geeignet sind, dass es im 21. Jahrhundert da eben andere und bessere Methoden gibt ...
Wuttke: Herr Brussig, was meinen Sie?
Brussig: Ich weiß es auch noch nicht so richtig ...
Wuttke: Aha.
Brussig: ... aber ich finde, dass die Art und Weise, die Argumente, die in Wahlkämpfen vorgebracht werden ... Und für mich ist immer das Superbeispiel die Brille von Helmut Kohl. Also Helmut Kohl war kurzsichtig, aber je älter er wurde, desto - also da setzt dann immer so eine Altersweitsichtigkeit ein, die die Kurzsichtigkeit aufhebt, und er konnte dann auf die Brille verzichten. Nun haben ihm aber seine Berater gesagt, nachdem er ein paar mal ohne Brille aufgetreten ist, er möge doch bitte weiter mit Brille auftreten, das wirkt intellektueller und das bringt ihm paar Millionen. Und da sage ich nun, also was sind Wahlen wert, wenn die Entscheidung der Wähler davon abhängt, ob der Spitzenkandidat nun mit oder ohne Brille auftritt. Das ist jetzt ein Beispiel, das ist ein paar Jahre her. Aber wir haben doch heute ganz andere Methoden, um Kräfteverhältnisse zu ermitteln.
Wuttke: Dann sagen Sie sie mir doch!
Brussig: Ich weiß es nicht. Also es gibt so was wie den TED oder es gibt einfach Messungen, die sind viel genauer, die sind viel aktueller. Und wenn ich weiß, dass morgen eine Debatte ansteht, die meine Lebensrealität betreffen könnte, also zum Beispiel, wenn ich Berufspendler bin, das bin ich nicht, aber morgen steht eine Diskussion zur Pendlerpauschale an und ich habe eine Meinung dazu, dann sollte es doch möglich sein, dass ich ganz aktuell mich dazu positionieren kann. Oder wenn ich ein Vater von Kindern bin, die einen Kitaplatz brauchen und morgen wird im Bundestag dieses Thema diskutiert, dann sollte es mir vielleicht möglich gemacht werden, dass ich eben im Zuge von so aktuellen Ermittlungen des Kräfteverhältnisses eben dort mein Votum in die Waagschale werfen kann.
Das heißt nicht Volksabstimmung, sondern ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass man so ein Machtquantum am Anfang einer Legislaturperiode bekommt und dann eben diese - sagen wir mal, man hat 100 oder man hat 1000 Machtquanten ...
Wuttke: Herr Brussig, Sie müssen jetzt mal die Schlusskurve kriegen!
Brussig: Ja, Sie wollten es von mir wissen. Es ist eine komplizierte Frage, ich kann Ihnen hier nicht in anderthalb Minuten die Zukunft unserer Demokratie entwerfen!
Wuttke: Na ja, Sie haben mich einige Anläufe nehmen lassen, bis Sie überhaupt auf meine Frage geantwortet haben, wie genau Sie sich das vorstellen, glaube ich, müssen wir ...
Brussig: ... worauf es hinausläuft, dass das eben nicht eine Sache von so einem kurzen Gespräch ist. Klar ist, dass die hohe Nichtwahlbeteiligung immer mehr infrage stellt, wie weit denn Wahlen noch geeignet sind, die politische Meinungsbildung oder die Willensbildung herbeizuführen.
Wuttke: Meint der Schriftsteller Thomas Brussig. Ich danke Ihnen sehr, und wir schauen mal, was Sie jetzt eigentlich gemeint haben.