Die Grundlage aller Kulturen

Ideenwelt der Panbabylonisten

Ruinen der antiken Stadt Bablyon. Im Hintergrund sind die Mauern schon restauriert, vorne noch zerfallen.
Babylon - für die Panbabylonisten lag hier der Ursprung aller Kulturen. © Patrick Baz / AFP
Von Gunnar Lammert-Türk · 28.03.2018
Wissenschaftler im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert waren fasziniert von der hochentwickelten Kultur Mesopotamiens. Und sie vertraten die Ansicht, ihr Grundmuster habe sich vom Zweistromland aus über die gesamte Welt verbreitet.
"Die Grundthese des Panbabylonismus besteht eigentlich aus zwei Thesen, die miteinander kombiniert werden. Die erste besteht darin, dass es eine einzige ursprüngliche Kultur für die gesamte Menschheit gibt. Die zweite, dass man diese ursprüngliche und alle kulturellen Unterschiede umklammernde Kultur direkt aus dem Sternenhimmel ablesen kann."
Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts vertraten eine Handvoll deutscher Altorientalisten die Theorie, die der Wissenschaftshistoriker Michael Weichenhan knapp skizziert. Ausgehend von den Keilschriftfunden englischer und französischer Grabungen im heutigen Irak hatten sie sich mit der Kultur des Zweistromlandes befasst. Sie waren nicht nur wie viele andere beeindruckt von der Pracht und Organisation der alten Reiche in dieser Region, von ihren Bauten, ihrer Verwaltung, ihrer Rechtsordnung und ihrer Götterwelt. Darüber hinaus sahen sie in der Kultur Mesopotamiens ein "Grundmuster" aller Altertumskulturen, mehr noch aller Kulturen der Menschheit.

"Panbabylonisten" - eine Spottname

Die Basis für ihre Theorie fanden sie in der Beobachtung der Himmelskörper, wie sie im Zweistromland, bevorzugt in Babylon, mit bemerkenswerter Präzision betrieben worden war. Diese Erkenntnis und die Annahme, das kulturelle Grundmuster habe sich von Mesopotamien aus über die gesamte Welt ausgebreitet, brachte ihren Verfechtern den Spottnamen "Panbabylonisten" ein. Sie nahmen ihn an, überzeugt von der Richtigkeit und Tragweite ihrer Entdeckung.
"Es handelt sich um eine wirklich universalistische Theorie. Das heißt: Man behauptet etwas, was tatsächlich für alle Menschen ausnahmslos gilt, und zwar nicht nur auf der Ebene von Zuschreibungen, sondern im Sinne einer gemeinsamen nichtbiologischen Herkunft, und zwar eben einer gemeinsamen kulturellen Herkunft."
Dieser Ansatz stand im Gegensatz zu den Versuchen, Geschichte und Gesellschaft auf rassentheoretischer Basis zu betrachten – wie dies besonders prominent Houston Stewart Chamberlain mit seinem Buch "Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts" tat. Zugleich war die "altorientalische Weltanschauung", wie die Panbabylonisten ihre Entdeckung nannten, ein Konzept, das beanspruchte, gegen den Zerfall in wissenschaftliche Einzeldisziplinen und miteinander unverbundene Formen der Erkenntnis und Weltdeutung einen integrierenden Ansatz zu stellen.

Die Attraktivität einer universalistischen Theorie

In diesem Sinne schrieb der Altorientalist Hugo Winckler in seiner 1902 erschienenen Schrift "Die babylonische Kultur in ihren Beziehungen zur unsrigen":
"Das Gesamtbild unserer heutigen geistigen Bestrebungen ist zweifellos das der Zerfahrenheit. All unsere Wissenschaften gehen jede ihren eigenen Weg, keine bekümmert sich um die andere und selten ist sich eine bei ihrem Wirken des Endziels bewusst. Dies Endziel wäre aber die Erkenntnis des gemeinsamen Urgrundes der Dinge, die Erkenntnis vom Wesen alles Seienden und die Ableitung alles Geschehenen und Bestehenden aus dieser einen Wurzel. Wäre es erreichbar, so hätten wir den Einblick in das Wesen der Dinge, wir hätten eine gemeinsame Weltanschauung, die sich auf alle Fragen der materiellen und geistigen Welt erstreckte."
Mit seinem Anspruch, verschiedene Formen der Erkenntnis und der Wirklichkeitswahrnehmung zu vereinen, stieß der Panbabylonismus in die Lücke, die insbesondere das protestantische Christentum durch seinen Verzicht auf Weltdeutung und seinen Rückzug ins Private hinterlassen hatte. An die Stelle der Bibel setzten die Panbabylonisten jene Offenbarungsschrift, die allen Menschen offenbar ist: das Firmament.

Was war kennzeichnend für die altorientalischen Kulturen?
Die Beobachtung des Sternenhimmels und die Götterverehrung: beides war miteinander verbunden. Alles Wissen und alle Äußerungen der altorientalischen Kulturen basierten auf einer leistungsstarken Astronomie, in Verbindung mit einer hoch entwickelten Mathematik. Die gesellschaftliche Organisation stimmte mit den Gesetzen des Kosmos überein, Religion und Wissenschaft waren im Grunde identisch.
Blick auf die Ruinen des Südpalastes des ehemaligen Herrschers Nebukadnezar in Babylon. 
Blick auf die Ruinen des Südpalastes des ehemaligen Herrschers Nebukadnezar in Babylon. © dpa / picture alliance / Kurt Scholz

Faszinierendes Modell für eine enge Verbindung

Von dieser alle Bereiche umfassenden Einheit waren die Panbabylonisten fasziniert. Sie sahen darin ein Modell für die anzustrebende enge Verbindung von Wissenschaft, Religion und Philosophie in der Moderne, die sich von der traditionellen Vorherrschaft der christlichen Religion löste und sich öffnete für neue Ideen, die Welt zu erklären.
Geradezu schwärmerisch begann Ernst Weidner sein "Handbuch der babylonischen Astronomie" mit dem Hinweis auf die Einheitlichkeit von Astronomie, Astrologie und Religion:
"Astronomie und Astrologie – zwei untrennbare Begriffe im alten Babylonien. Niemals und nirgends ist auf ihrer Grundlage eine Weltanschauung von so großartiger Einheitlichkeit geschaffen worden wie hier. Weltenbild und Himmelsbild sind eins − keine Grundformel eines Systems kann klarer, keine zugleich umfassender sein. Der Priester, der zu den Astralgottheiten flehte, eignete sich eine genaue Kenntnis des gestirnten Himmels an; die Bewegungen der Himmelskörper und ihre Stellungen zueinander musste er erforschen, um den Willen der Gottheit zu erkunden."

Auf der Suche nach einer einheitlichen Weltanschauung

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wuchs das Bedürfnis nach einer einheitlichen Weltanschauung. Monistische Konzepte, die Phänomene der Welt auf ein gemeinsames Grundprinzip zurückzuführen, hatten Konjunktur. Auf der Grundlage der Biologie vertrat Ernst Haeckel eine materialistisch-atheistische, religionsfeindliche Variante des Monismus. Eine idealistische Variante entwickelte der Philosoph Eduard von Hartmann. Für ihn waren Religion und Wissenschaft keine Gegensätze, sondern Varianten der Erkenntnis, die in einem höheren Prinzip zusammenfinden. Wie die Panbabylonisten hatte er eine Art Universalreligion im Blick.
Die von Hartmann postulierte Religion der Zukunft sollte das Erbe westlicher Religiosität - aus Judentum, Christentum und Islam - mit dem Erbe östlicher Religiosität - aus indischen und chinesischen Weisheitslehren - in ein Gleichgewicht bringen. Wissenschaftshistoriker Michael Weichenhan folgert daraus:
"Der Quellpunkt dieser beiden Ströme, der eine, der nach Westen fließt und der andere, der nach Osten fließt, ist derjenige, der geografisch in der Mitte liegt. Und da kommt man interessanterweise tatsächlich in dieses mesopotamische Gebiet. Das ist es zwar bei Eduard von Hartmann nicht, aber man sieht so eine Vorstellung, alles, was wir denken, und zwar in wissenschaftlicher, philosophischer und religiöser Dimension, hat einen gemeinsamen Ursprung, der zwischen Ost und West liegt. Und das kann durchaus auch das Zweistromland sein. Und genau dahin wird es dann auch nach Entzifferung der Keilschrifttafeln gesetzt."
Der Panbabylonismus, der ein Grundmodell für alle Kulturen annahm, war Teil einer spezifisch deutschen Faszination vom Zweistromland. Einer der Gründe lag darin, dass das junge Deutsche Reich im babylonischen Reich und in der Stadt Babylon sein role model fand. Die mesopotamische Kultur lieferte das Leitbild für eine technische Zivilisation, für die angestrebte imperiale Ausrichtung des Staates und eine Hauptstadt mit metropolitanem Zuschnitt. Dafür stand unter anderem der vom deutschen Architekten Robert Koldewey nach Fundamentfunden am Standort des alten Babylon rekonstruierte legendäre Turm von Babel.

Von Babylon nach Berlin

Dieser Turm sah anders aus als die Vorstellung, die man lange Zeit von ihm hatte, erläutert Andrea Polaschegg, eine Literaturwissenschaftlerin, die die Babylon-Faszination erforscht hat:
"Man kennt das wahrscheinlich aus der Renaissance-Ikonographie, da sieht er so ein bisschen aus wie ein hochgeschraubtes Kolosseum, auf jeden Fall irgendwie rund. Das, was Koldewey da ausgräbt, hat die Abmessung 90 mal 90 Meter und ist wahrscheinlich auch noch 90 Meter hoch gewesen, und das Ganze in keiner Weise rund, sondern in Form der sogenannten Zikkurat, also einer hochgradig geometrisch gestuften Pyramide, die in der Tat so aussieht, als sei sie aus einem Berliner Architekturbüro der 1910er-Jahre entsprungen."
Für die stadtplanerischen Großprojekte der 1910er- und 20er-Jahre in der Metropole Berlin und für die entsprechenden Architekturentwürfe war der Turm von Babel sowohl hinsichtlich seiner enormen Größe als auch seines modernen Designs leitendes Vorbild, ein den Wolkenkratzern von New York und Chicago ebenbürtiges Modell.

Besonders eindrücklich für diese Turmarchitektur ist der Entwurf des sogenannten Reichszentralbürohauses von Otto Kohtz von 1920. Vorgesehen für den Königsplatz vor dem Reichstag sollte es in Form einer babylonischen Stufenpyramide mit einer Höhe von 200 Metern 50 Stockwerke enthalten. Wie ähnliche Entwürfe ist dieser Bau nicht realisiert worden. Es gibt aber in Berlin eine kleine Reminiszenz an die Turmhäuser: das 1929 von Hans Poelzig als letztes großes Stummfilmkino am heutigen Rosa-Luxemburg-Platz gebaute Kino Babylon.
"Babylonisch am Babylon ist außer dem Namen die Lichtreklame vorne in der Fassade, die Poelzig auch gestaltet hat. Und dort hat man, sehr reduziert, genau die Zikkurat-Form des babylonischen Turms in einem sehr eindrücklichen dunklen Rot, also das sind Postamente, die aufsteigen und wieder absteigen und auf die Postamente gestellt sind in einer serifenlosen, sehr modernen Großschrift die Buchstaben B-A-B-Y-L-O-N, auf und absteigend, wobei das Ypsilon eben an der Spitze steht und sich nach oben öffnet."
Das Kino Babylon in Berlin
Das Kino Babylon in Berlin© picture alliance / dpa / Paul Zinken

Anlehnung an babylonischen Bauten

Mit dem Film entstand vor den Augen der staunenden Zuschauer eine neue Welt, und wieder wurde diese mit der babylonischen Antike in Verbindung gebracht. Der Lichtbildvortrag und die Fotografie popularisierten die babylonischen Ideen. Und babylonische Motive fanden Verwendung im Zusammenhang mit Phänomenen zeitgemäßer technischer Zivilisation wie Verkehr und Infrastruktur. So griff der schwedische Architekt Alfred Grenander bei der Gestaltung vieler U-Bahnhöfe auf das Element lasierter Ziegel an babylonischen Bauten zurück.
Die Südhalle des 1913 eingeweihten Berliner U-Bahnhofs Klosterstraße ist ein Beispiel für das Spiel der Architekten mit babylonischen Motiven.
"Wenn man die Treppe runtergeht in diesen U-Bahnhof, fällt der Blick sofort auf eine Reihe von Volutenbäumen, die einen, wenn man schon mal im Pergamonmuseum war, sofort erinnern an die Volutenbäume, die da an der Palastfassade Nebukadnezars II. sind. Und in der Tat hat Grenander sie auch genau von dieser Palastfassade abgenommen. Bei jedem Blickwechsel, und davon gibt es drei, fällt jedes Mal der Blick auf eine neue Volutenbaumreihe. Das heißt: Diese Volutenbäume nehmen schon das Moment des Tempos auf, für das ja dann diese Verkehrsadern stehen, die Berlin allererst zu so etwas wie einer Großstadt und Metropole machen. Wir sind hier an diesem Beispiel U-Bahn genau an so einer Spur, an der man ablesen kann, dass Babylon nicht nur fasziniert hat als Antike, die älter war als alle anderen Altertumskulturen, die man kannte, sondern gleichzeitig als eine Antike, die sich bruchlos in die Moderne einfügen ließ."
Die Babylon-Faszination und die Verbreitung von Kenntnissen über die babylonische Kultur - auch von Abbildungen mesopotamischer Götterdarstellungen - waren in Deutschland so ausgeprägt, dass manche Motive auch in populären Karikaturen auftauchten – wie 1903 in den "Lustigen Blättern", gewissermaßen die "Titanic" des wilhelminischen Reiches.
Aus der Weltkugel, vor der der Himmelsgott Schamasch sitzt, wird die Lottotrommel, und der Gott wird zum Notar, der die Ziehung der Lottozahlen überwacht. Oben drüber steht in stilisierter Keilschrift "Ziehung der babylonisch-königlichen Klassenlotterie".
"Diese Karikaturenreihe spielt eben auch mit dieser insbesondere deutschen Obsession, in Babylon im Grunde genommen so etwas wie das Ebenbild der wilhelminischen Gesellschaft zu erkennen."

Auch Wilhelm II. ist vom Zweistromland fasziniert

Das traf auch auf den Kaiser zu. In altorientalischen Fragen ziemlich bewandert und ein Förderer der Assyriologie und der deutschen Ausgrabungen im Zweistromland, nahm sich Wilhelm II. babylonisch-assyrische Könige zum Leitbild seiner Herrschaft und der nationalen Identität. Vor allem den Gesetzgeber Hammurabi, in dem er auch einen Sozialpolitiker sah, dem er auf diesem Gebiet mit seinem Handeln entsprechen wollte.
In seinem im niederländischen Exil verfassten Buch "Das Königtum im alten Mesopotamien" schrieb Wilhelm über Hammurabi:
"Seine auf der berühmten Stele verzeichneten Gesetze erregen auch heute noch unsere Bewunderung; klar durchdacht und praktisch gefasst regeln sie bis in alle Einzelheiten das öffentliche und das private Leben. Eine auf uns gekommene umfassende amtliche Korrespondenz beweist, dass diese Gesetzesvorschriften nicht nur ‚auf dem Papier‘, das heißt auf Ton und Stein, standen, sondern dass der Herrscher persönlich mit strenger Energie auch für ihre strikte Durchführung sorgte! Ein babylonischer Vorgänger König Friedrich Wilhelms I., ‚des Baumeisters des preußischen Staates‘!"

Babylon war vor allem durch biblische Texte eng verbunden mit grandiosen Untergangsszenarien. Auch die inspirierten Wilhelm II., der einen solchen Untergang als Pantomime inszenieren ließ. Er griff zurück auf den legendären assyrischen König Sadarnapal, der, als seine Feinde sein Reich vernichten und sich seinem Palast nähern, unter Mitnahme all seiner Frauen und Pferde einen heroischen Selbstmord begeht.
Die Uraufführung der Pantomime, die bis 1910 etwa dreißigmal gezeigt wurde, fand 1908, am 2. September, statt, dem Jahrestag des deutschen Sieges über Frankreich. Zu diesem Zeitpunkt war ein Krieg mit England wegen des deutschen Flottenprogramms erstmals in greifbare Nähe gerückt. Der Kaiser brachte mit der Inszenierung seine Entschlossenheit gegenüber dem imperialen Konkurrenten zum Ausdruck. Sollte mein Reich untergehen, dann in einer Art Götterdämmerung: das scheint seine Botschaft gewesen zu sein. Aus dem theatralischen Spiel sollte bekanntermaßen bald blutiger Ernst werden.
Kaiser Wilhelm II. mit seinen Söhnen. L-r) Kaiser Wilhelm II., Kronprinz Wilhelm, Prinz Eitel Friedrich, Prinz Adalbert, Prinz August Wilhelm, Prinz Oskar und Prinz Joachim in Uniform. (Undatierte Aufnahme). Der letzte deutsche Kaiser wurde am 27. Januar 1859 in Berlin geboren und ist am 4. Juni 1941 in Haus Doorn gestorben.
Kaiser Wilhelm II. mit seinen Söhnen© picture alliance / dpa / Ullstein

Was bleibt von der Vision?

Was blieb von den kühnen Thesen der Panbabylonisten? Von der Entdeckung einer Universalkultur der Menschheit; von einer Weltanschauung, die wissenschaftliche Einzeldisziplinen, Wege der Erkenntnis und Weltdeutungen zusammenführt? Von der Vision einer rationalen Einheitsreligion, die anders als das ermattete Christentum den Bedingungen einer durch Technik und Wissenschaft geprägten globalisierten Welt entsprach?
Das panbabylonistische Projekt einer allumfassenden Zukunftsreligion war wohl zu abstrakt und artifiziell, um sich durchzusetzen. Das Pathos der Panbabylonisten erschien selbst Sympathisanten übertrieben. Und der Versuch, der altorientalischen hebräischen Religion und dem frühen Christentum jegliche Eigenwertigkeit und Historizität abzusprechen, oder Texte aus dem Alten und Neuen Testament als bloße Spielarten des sumerischen Gilgamesh-Epos zu deuten, erntete Kritik.
Die radikaleren Panbabylonisten wie der Assyriologe Friedrich Delitzsch und der Altorientalist Peter Jensen verschärften ihre Ansätze noch und wurden in der Folge zu unerbittlichen Gegnern der jüdischen und der christlichen Religion. Der Panbabylonismus hatte seine Anhänger, aber zum großen Siegeszug reichte es nicht.
Und was blieb im 20. Jahrhundert von der Babylon-Begeisterung, die die panbabylonische Bewegung begleitete? Babylon – der Name dieser vielsprachigen internationalen Metropole war nicht nur positiv besetzt. "Hure Babylon", heißt es im Alten Testament.

Von Fritz Lang und Alfred Döblin

In den 20er-Jahren, als die Ordnung des Kaiserreichs gesprengt war, als vor allem in Berlin das Leben ausschweifender war denn je, rückte diese Babylon-Assoziation in den Vordergrund: Babylon, Berlin, lasterhaftes Großstadtleben. So wurde Babylon in Film und Literatur der Weimarer Republik zum Sinnbild der Schattenseiten moderner Großstädte und einer technokratisch kalten Zivilisation. Im Roman "Metropolis" von Thea von Harbou wie im gleichnamigen Film von Fritz Lang, für den sie das Drehbuch schrieb, heißt die Machtzentrale, von der aus der Begründer und Alleinherrscher von Metropolis, Johann Fredersen, regiert, "der neue Turm Babel". Die Oberschicht lebt luxuriös in riesigen Wohntürmen, die an den babylonischen Turm erinnern. Die Masse der Arbeiter, die unterhalb der Stadt haust, schuftet an riesigen Maschinen, die die Stadt am Laufen halten:
"Der Mann vor der Maschine … war kein Mensch mehr. Nur noch ein triefendes Stück Erschöpfung, aus dessen Poren die letzte Willenskraft in großen Tropfen Schweißes wegtropfte. Die Hand hielt den Hebel nicht, - sie krallte sich an ihm fest als an dem letzten Halt, der das zerstampfte Mann-Geschöpf davor bewahrte, der Maschine in die zermalmenden Arme zu stürzen. Das Paternoster-Werk des Neuen Turms Babel drehte seine Schöpfeimer in gemächlichem Gleichmaß. Aber in dieser Sekunde hatte Joh Fredersen den Fingerdruck auf die kleine blaue Metallplatte gelegt, und die Stimme der großen Metropolis erhob ihren Behemot-Schrei, dass die Mauern bebten. Bis in den Grund seines Baues erbebte der Neue Turm Babel unter der Stimme der großen Metropolis."

Anders als "Metropolis" zeichnet Alfred Döblin in "Berlin Alexanderplatz" das Bild der modernen Großstadt nicht in einer abstrakten Fiktion, sondern romanhaft konkret: Rücksichtslosigkeit und lärmende Geschäftigkeit, soziale Verelendung und menschliche Vereinsamung, aber auch ungeheure Dynamik. So löst der Anblick einer Dampframme am Alexanderplatz ein Räsonieren über das stete Abreißen vertraut gewordener Gebäude und Ecken aus, und am Ende taucht das Bild der Hure Babylon auf:
"Da steht noch das Kaufhaus Hahn, leergemacht, ausgeräumt und ausgeweidet, dass nur die roten Fetzen noch an den Schaufenstern kleben. Ein Müllhaufen liegt vor uns. So ist kaputt Rom, Babylon, Ninive, Hannibal, Cäsar, alles kaputt, oh, denkt daran. Erstens habe ich dazu zu bemerken, dass man diese Städte jetzt wieder ausgräbt, wie die Abbildungen in der letzten Sonntagsausgabe zeigen, und zweitens haben diese Städte ihren Zweck erfüllt, und man kann nun wieder neue Städte bauen. Du jammerst doch nicht über deine alten Hosen, wenn sie morsch und kaputt sind, du kaufst neue, davon lebt die Welt. Und nun komm her, du, komm, ich will dir etwas zeigen. Die große Hure, die Hure Babylon, die da am Wasser sitzt. Und du siehst ein Weib sitzen auf einem scharlach-farbenen Tier. Und an ihrer Stirn ist geschrieben ein Name, ein Geheimnis: die große Babylon, die Mutter aller Greuel auf Erden."
Der Regisseur, Schriftsteller und Filmproduzent Fritz Lang (1890-1976) auf einem undatiertem Foto.
Der Regisseur, Schriftsteller und Filmproduzent Fritz Lang (1890-1976) auf einem undatiertem Foto.© dpa / picture alliance

Wenn Altertum und Gegenwart aufeinandertreffen

Alfred Döblin schrieb auch einen Roman, der die Babylon-Faszination und den Panbabylonismus ironisch wendet. In seiner "Babylonische[n] Wandrung", einer Reflexion der Flucht des Autors aus Deutschland und seines Exils während der Nazi-Herrschaft, wird der Gott Marduk aus dem Himmel verstoßen und als Mensch mit dem Namen Konrad zu einer Odyssee genötigt, die ihn von Babylon über Konstantinopel nach Paris führt. Der Roman führt auf satirische Weise vor, was geschieht, wenn das babylonische Altertum und die Gegenwart aufeinander treffen. Konrad, der als Marduk auch der Stadtgott Babylons war, landet unweit der Stelle, wo die herrliche Stadt einmal gestanden hat. Auf der Suche nach ihr trifft er auf das Trümmerfeld der Ausgrabungsstätte und findet sich nicht zurecht. Ratlos sinniert er:
"Ich hatte doch so viele Tore angegeben, damit alle hineinkonnten, die mir was bringen wollten, das Adadtor, das Enliltor, das Gissutor, das Istartor, das Samastor, das Sintor, das Urastor, Zababator. Wo ist bloß das Tor, zum Teufel, wo ist hier ein Tor? Es gibt doch so viele Tore, ich bitte um ein einziges Tor, man wird doch nicht auch die Tore abgebrochen haben. Ist denn kein Schild da, kein Wegweiser, wo ist hier Babylon, ich verlange eingelassen zu werden, sofort, im Augenblick. Und zitternd stand der große Konrad, bewegungslos, in dem Gemäuer, in schrecklicher Angst."

Aus dem Götterhimmel vertrieben wird Marduk im Roman durch einen Fluch des jüdischen Propheten Jeremias. Döblin spielt damit auf den Panbabylonisten Alfred Jeremias an, der wie seine geistigen Weggefährten heute weithin vergessen ist. Spuren hat er mittelbar in der Literatur von Thomas Mann hinterlassen, der sich für seine Romantetralogie "Joseph und seine Brüder" ausgiebig mit den Schriften des Leipziger Theologen und Religionswissenschaftlers zum alten Orient befasst hatte. Thomas Mann war angetan von Jeremias’ Behauptung, in der Astralkultur des Zweistromlandes finde sich eine universal gültige Weltanschauung, die eine Art geistiges Band der Menschheit bilde, so dass die einzelnen Kulturen quasi "Dialekte einer Geistessprache" seien.
Wissenschaftshistoriker Michael Weichenhan: "Insbesondere der erste Band seiner Josefs-Tetralogie spielt ja genau mit diesem panbabylonistischen Ansatz, dass die Altertümer aus Mesopotamien, aus der östlichen Levante und Ägypten im Grunde genommen ein Erzählzusammenhang sind, in dem man also durch Übersetzung beliebig changieren kann."
Der Schriftsteller und Arzt Alfred Döblin
Der Schriftsteller und Arzt Alfred Döblin© dpa picture alliance

"Alles ist in Babylon schon drin"

Den Panbabylonisten Alfred Jeremias und Hugo Winkler folgend sah Thomas Mann in Josef nicht nur den Lieblingssohn des Patriarchen Jakob, sondern zugleich die Verkörperung eines Sonnengottes, der, mit verschiedenen Namen bedacht, in die Unterwelt hinabsteigen muss, dessen Tod beklagt und der bei seiner Wiederauferstehung als Bringer von Reichtum und Überfluss gefeiert wird. Dies erinnert an den Umgang altorientalischer Gelehrter mit dem zentralen Epos des Zweistromlandes "Gilgamesh". Die Reise des gottmenschlichen Königshelden ist dem Lauf der Sonne durch den Tierkreis nachgebildet, und so wurde "Gilgamesh" aufgefasst als eine in Erzählform gebrachte astronomische Bewegung.
Wie die Literaturwissenschaftlerin Andrea Polaschegg erklärt, wurde daraus gefolgert, …
"… dass das ein Text ist, der dadurch, dass er eigentlich eine astronomische Bewegung ist, der Universaltext der Menschheit ist, also ein Text, der in seiner abstrakten Struktur universal ist, weil der Durchlauf der Sonne durch den Tierkreis universal ist. Und da koppeln sich dann die uns heute völlig entlegen wirkenden Theorien an, die tatsächlich die These vertreten, dass alle Kultur - und wirklich alle - aus Babylon sich herschreibt: alle Mythen, alle heiligen Schriften, alle Epen von Dante über Hamlet bis Jesus, bis Paulus - alles ist in Babylon schon drin."
Nicht alle Panbabylonisten gingen in ihren Theorien so weit. Aber auch ihre mitunter etwas überzogen anmutenden Ideen regten zu interessanten Überlegungen an. Im Falle des Gilgamesh-Epos führten sie zu der Annahme, dass es in den literarischen Werken universale Textbausteine und -strukturen gebe.
Die Bewegung lieferte wertvolle Impulse für Ethnologie, Anthropologie, Mythenforschung und Kulturphilosophie. Der Panbabylonismus war zwar nur eine vorübergehende Bewegung in den intellektuellen Diskursen in Deutschland, aber die Behauptung der Panbabylonisten, dass mesopotamische Denksysteme in der antiken Welt weit verbreitet waren, ist inzwischen belegt.
Und die These eines auf die Beobachtung der Gestirne gegründeten Grundmusters aller Kulturen bedeutet in der Konsequenz die Anerkennung ihrer grundlegenden Gleichwertigkeit. Das ist auch und gerade heute, in Zeiten grassierender Abwertung anderer Kulturen, bedeutsam.
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