Die große Wasser-Lüge

Von Hartwig Tegeler · 10.09.2013
Einer der größten Marketingtricks aller Zeiten redet uns ein, dass wir ohne ständig mitgeführte Wasserflasche in der Stadt verdursten müssen. Unsere Entfremdung von dem Grundnahrungsmittel Wasser beschert Konzernen ein Milliardengeschäft.
Ist Wasser Menschenrecht oder Wirtschaftsgut? Wird Wasser knapp? Eine abstrakte Frage für denjenigen, der sich gerade ein Glas sauberes Wasser aus dem Hahn hätte eingießen können – Konjunktiv –, aber dann doch zur vorgeblich gesünderen Variante im Regal gegriffen hat. Plastikflasche mit stillem Wasser. Quellwasser! Quellwasser? Sicher ja, steht ja drauf.

Dass das, was wir aus diesen Flaschen alltäglich trinken, uns gesünder erscheint als das Wasser aus der Leitung, dass wir das inzwischen bereitwillig auch in sauschweren Paketen die Treppe hoch schleppen, anstatt einfach den Hahn aufzudrehen, zeigt vor allem eins: den perfekten Sieg einer Marketingkampagne.

Urban, gesund, sportlich - undenkbar ohne Flasche
In den 1980er-Jahren war der Verkauf süßer Limonaden bei uns rückläufig. Plötzlich begannen in Kino- und TV-Spots Stars mit diesen kleinen Wasserflaschen durch die Metropolen zu laufen. Urbanität, Gesundheit, Sportlichkeit – von nun an undenkbar ohne Wasserflasche. Und, zweite Suggestion: Ohne ständig mitgeführtes Wasser – die Rede ist nicht von der Sahara oder der Kalahari, sondern von Berlin, London, New York –, ohne solch Wasserflasche drohte von nun an mitten in der Zivilisation das Verdursten.
In Urs Schnells Dokumentation "Bottled Life: Nestlés Geschäft mit Wasser" erzählt Maude Barlow, ehemalige UNO-Chefberaterin in Wasserfragen, von Jugendlichen, denen sie erklärt, wie viel Geld multinationale Konzerne wie Nestlé, Veolia, Ondeo oder Suez mit der – aus deren Sicht – letzten profitablen Ressource auf dem Planeten machen. Indem sie kommunale Wasservorkommen spottbillig ausbeuten und dann in diesen Plastikflaschen an uns zurück verkaufen. Und zwar mit gigantischem Gewinn.

Ja, gut, das mag ja alles stimmen, meinen die Jugendlichen, um dann verunsichert zu fragen: Wie aber komme ich ohne Wasserflasche von zu Hause in die Schule? Da zeigt sich, meint Wasser-Aktivistin Maude Barlow, die Wirkung eines der größten Marketingtricks aller Zeiten.

Unsere medial geschürte Entfremdung von diesem Grundnahrungsmittel Wasser beschert den Konzernen inzwischen ein Multimilliardengeschäft. Diese Entfremdung von dem uns in der Regel zugänglichen sauberen Wasser aus dem Hahn als Ergebnis einer medialen Inszenierung findet allerdings seine ironische Brechung darin, dass es ihrerseits mediale Produkte sind, die uns klar machen, welcher sinnlichen Wahrnehmungsstörung wir da aufgesessen sind.

Gute, alte Aufklärung eben. Irena Salinas "Flow – Wasser ist Leben", Stephanie Soechtigs und Jason Lindsays Dokumentation "Abgefüllt" und jetzt Urs Schnells "Bottled Life" beschreiben, wie das Geschäft mit der Plastikwasserflasche auf einer perfekten Lüge basiert.

Das "Blaue Gold" und die Armen
Diese Dokumentationen machen aber auch deutlich, dass in Ländern der Dritten Welt die Wassermultis mit dem "Blauen Gold" in der Flasche die Versorgung der Armen gefährden, während sie vollmundig das Gegenteil behaupten. Das Verfahren dabei ist das Gleiche wie damals bei in den 80ern: Das Angebot an vermögende Mittel- und Oberschichten, mit gesundem Wasser aus der Flasche Hipness, Modernität und Lifestyle mit zu erwerben, hat sich auch in Pakistan oder Nigeria durchgesetzt, aber im Kleingedruckten einen Strukturwandel verursacht, der im Endeffekt eine für die Gesellschaften fatale Privatisierung des Trinkwassers bedeutet.

Wasser ist in jenen Ländern weit entfernt davon, ein Grundrecht zu sein. Das Gegenteil ist der Fall: Es wird zu einem für die Armen unerschwinglich teurem Luxusgut. Das Grundwasser wird abgepumpt, an die urbanen Eliten verkauft, während die lokale Bevölkerung kein sauberes Trinkwasser hat. Das Wasser aus der Plastikflasche, von Nestlé beispielsweise weltweit als "Pure Life" vertrieben, hat in einem Land wie Pakistan die öffentliche Wasserversorgung weitgehend verdrängt.

900 Millionen Menschen, sagt die UNO, haben weltweit keinen Zugang zu sauberem Wasser. Menschen, die liebend gerne einen Wasserhahn hätten wie den unseren, aus dem ein sauberes Nahrungsmittel kommt. Menschen, für die die Wasserversorgung keine Frage des Lifestyles, sondern eine des Überlebens ist.

Hartwig Tegeler, geboren 1956 in Nordenham-Hoffe an der Unterweser, begann nach einem Studium der Germanistik und Politologie in Hamburg seine journalistische Arbeit bei einem Privatsender und arbeitet seit 1990 als Freier Hörfunkautor und -Regisseur in der ARD, schreibt Filmkritiken, Features und Reportagen.
Der Hörfunk-Journalist Hartwig Tegeler
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