Die große Chuzpe und andere unangenehme Begleiterscheinungen der Wahl

Von Klaus Bölling |
Wer eingeladen wird, seine höchst subjektive Meinung zu diesem auch von den Neunmalklugen nicht andeutungsweise vorhergesagten Wahlergebnis zu sagen, möchte nicht in den Verdacht geraten, dass er mit dem Alter etwas schrullig geworden ist. Man könnte es nämlich für schrullig halten, dass sich ein Beobachter der Berliner Szene darüber erregt, dass sich die politische Klasse, zu der ja auch die hochmögenden Kolumnisten und die weniger hochmögenden Boulevardjournalisten zählen, täglich aufs Neue des jiddisch-hebräischen Wortes „chuzpe“ bedient.
Da greifen wir eben mal zum Duden und lesen, dass dieses Wort im Deutschen mit Unverfrorenheit, mit unbekümmerter Dreistigkeit oder noch deutlicher, mit Unverschämtheit übersetzt wird. Warum nicht gleich so?

Dann ist doch die Entgleisung unseres Bundeskanzlers in der sehr albern so genannten „Elefantenrunde“ außerordentlich präzise beschrieben. Da müssen die vornehmen Leitartikler gar nicht erst das Wort „Endorphin“ bemühen, mit dem die Mediziner ein gelegentlich schmerzlinderndes körpereigenes Hormon beschreiben. So könnte es ja gewesen sein, dass Gerhard Schröder, der die Wahlen eher verloren als gewonnen hat, von diesem Eiweißstoff beflügelt, die Fernsehchefredakteure von ARD und ZDF als Bösewichter ausgemacht hat, die er als Spießgesellen von Angela Merkel entlarvt zu haben glaubte. Eine schöne Selbstauskunft war das jedenfalls nicht.

Wir wollen dann, weil es so ist, anmerken, dass das jiddisch-hebräische Wort für Dreistigkeit auch auf unsere heute schon eher Mitleid erregende, ins Kanzleramt drängende Frau Dr. Merkel aus dem stillen Städtchen Templin passt. Denn die Unionsvorsitzende will sich uns doch als klare Siegerin präsentieren, obwohl sie in der kalten, grausamen Wirklichkeit die Wahlen verloren hat. Man möchte nicht als philologischer Korinthenkacker erscheinen, wenn man nachgerade nicht mehr hören kann, dass CDU/CSU und FDP als die „bürgerlichen“ Parteien bezeichnet werden, die nun keine „bürgerliche“ Mehrheit erzielen konnten. Sehen wir mal von unserem aus bitterer Armut aufgestiegenen Kanzler ab, betrachten wir lieber den Bourgeois Otto Schily oder den getreuen Franz Müntefering, die doch keinen Deut weniger „bürgerlich“ sind als die Dame Merkel oder der Herr Westerwelle. Was soll der Unfug? Und dann Oskar Lafontaine und sein braver Sancho Pansa, der Dr. Juris Gregor Gysi. Sind die Wortführer der „Linkspartei“ nicht unverwechselbar „bürgerlich“? Was denn sonst? Oder, wenngleich nicht immer in seiner wunderbar bunten Biografie ganz überzeugend, unser einmaliger Außenminister? Na also!

Man wird, ohne den Zeigefinger zu benutzen, daran erinnern dürfen, dass wir in unserer zur Gleichmacherei aufgelegten Gesellschaft, unter „bürgerlich“ die Eigenschaft verstehen, sich in der Öffentlichkeit ordentlich aufzuführen. „Bürgerlich“, das meint ja auch, dass man seine Mitmenschen nicht vorsätzlich bemogelt. Wie schön klingt doch bei unseren westlichen Nachbarn das Wort „citoyen“. Willy Brandt hat es gern benutzt, um uns mitzuteilen, dass der Bürger auch hierzulande für Freiheit und für ein solidarisches Gemeinwesen, also für die berühmte res publica, einstehen soll. Keine Frage, würde der Kanzler sagen. Keine Frage leider auch, dass die gut erzogene Pastorentochter, die numerische Siegerin, die immerhin vier gestandene Männer aus dem Weg geräumt hat, sagen wir es doch diesmal, über eine beachtliche „chuzpe“ verfügt. Victoria, Fragezeichen, Victoria Ausrufungszeichen! Pustekuchen.

In Frankreich sehen wir mit etwas Neid, wie vornehm und elegant der Premierminister Villepin seines hohen Amtes waltet. Doch, wie betrüblich, der Frau Merkel gut befreundete Monsieur Sarkozy kann mit der Vornehmheit von Villepin nicht Schritt halten. Auch er sieht sich von der Pressemeute verkannt und verfolgt, weil die Medien nicht unterschlagen mochten, dass sich Madame Sarkozy unlängst von ihm abgesetzt hat. Da nimmt auch der oberste Gaullist schon mal die verbale Keule zur Hand. Mindestens in dieser Hinsicht hat unser Kanzler nichts zu befürchten.

Klaus Bölling, geboren 1928 in Potsdam, arbeitete für Presse und Fernsehen, war unter anderem NDR-Chefredakteur, Moderator des ‚Weltspiegel‘, USA-Korrespondent und Intendant von Radio Bremen. 1974 wurde er unter Helmut Schmidt zum Chef des Bundespresseamts berufen, 1981 übernahm er die Leitung der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin. Zu seinen Buchveröffentlichungen zählen „Die letzten 30 Tage des Kanzlers Helmut Schmidt“, „Die fernen Nachbarn – Erfahrungen in der DDR‘ und ‚Bonn von außen betrachtet“.