"Die größte medizinische Katastrophe der Neuzeit"
Vor 25 Jahren wurde im wissenschaftlichen Fachblatt "Science" erstmals über den HIV-Virus publiziert. Seitdem suchen Forscher weltweit nach einem Impfstoff. Bislang vergeblich, sagt der Virologe Robert Kurth: "Das Problem Aids kriegen wir nur aus der Welt durch eine konsequente, effektive, preiswerte Impfung, und die haben wir im Moment nicht."
Nana Brink: Vor 25 Jahren, am 20. Mai 1983, wurde im wissenschaftlichen Fachblatt "Science" erstmals über den HIV-Virus publiziert. Und die Krankheit hatte somit einen Namen, Aids. Plötzlich war die Immunschwächekrankheit in aller Munde. Und im Studio begrüße ich nun Prof. Reinhard Kurth. Er ist als Virologe von Anfang an mit dem Thema befasst, war damals, 1983, als zum ersten Mal darüber publiziert wurde, an der Abteilung Virologie des Paul-Ehrlich-Institutes in Frankfurt und dann bis 2008 Leiter des Berliner Robert-Koch-Institutes. Schönen guten Tag, Herr Prof. Kurth!
Prof. Reinhard Kurth: Schönen guten Morgen, Frau Brink!
Brink: Sie sind ja nun ein Mann der ersten Stunde. Wussten Sie denn, als Sie jene Publikation in der Fachzeitung "Science" lasen, wie bahnbrechend die ist?
Kurth: Zunächst hatten wir nur einen Verdacht, dass das, was in dieser Publikation aus Paris gezeigt wurde, richtig gezeigt wurde. Da wurde ein Virus gezeigt im Elektronenmikroskop. Aber ich muss auch gestehen, die Wissenschaftler waren skeptisch, ob wirklich das der Erreger ist. Wir wussten ja 1983 nur, dass seit Kurzem, seit 1980 etwa, eine neue Infektionskrankheit um die Welt ging, insbesondere bei schwulen Männern. Und kurz danach haben wir feststellen müssen auch bei Bluterkrankheiten und bei Bluterkranken. Wir wussten aber nicht, was dahintersteckt.
Und hektisch ging die Suche los, was es sein könnte: ein Bakterium, ein Pilz, ein Virus? Und Luc Montagnier, der Chef der Pariser Gruppe, hat dann diesen Stein ins Wasser geworfen und hat gesagt, ich glaube, das ist ein Virus, und ich glaube, das ist ein sogenanntes Retrovirus. Und im Nachhinein hat er recht gehabt. Aber 1983 war die wissenschaftliche Community, wie wir das salopp nennen, eher skeptisch. 1984 kamen dann weitere Publikationen, insbesondere aus den USA auf dem Markt, und dann wurde es doch überzeugend, dass ein sogenanntes HIV, ein Virus, hinter dieser fürchterlichen Krankheit steckt.
Brink: Was haben Sie denn vermutet?
Kurth: Wir haben genauso am Paul-Ehrlich-Institut in Frankfurt gesucht und in der Zeit nichts Richtiges gefunden, was uns überzeugt hätte. Dann, weil wir mit den Viren umgehen konnten, die gab es ja schon im Tier, haben wir sehr schnell innerhalb von Wochen doch gezeigt, dass die französische Gruppe recht hat oder sehr wahrscheinlich recht hat. Man kann ja keine Menschenversuche machen, irgendjemandem so einen Virus spritzen und gucken, ob er krank wird. Und vermutet wurde alles, es wurden auch Gifte, Poppers, Rauschgifte vermutet, bis dann doch geklärt wurde von der Gruppe von Herrn Gallo in Amerika und Luc Montagnier in Paris, dass HIV eben HIV ist, der Erreger von Aids.
Brink: Hatten Sie denn als Wissenschaftler überhaupt eine Vorstellung, wie man mit diesem Thema umgeht oder wie unheimlich das eigentlich wird?
Kurth: Es war natürlich ein bisschen riskant, dann mit dem Blut der erkrankten Menschen zu experimentieren. Wir hatten auch kein Tiermodell, wir haben bis heute kein Tiermodell dafür, und im Labor haben wir natürlich die höchsten Sicherheitsmaßnahmen ergriffen, die denkbar waren.
Brink: Ich kann mir vorstellen, das hätte auch Ängste bei Ihnen ausgelöst?
Kurth: Ja, nun gut. Als Wissenschaftler und als Virologe muss man schon ein paar Risiken in Kauf nehmen, sonst hat man seinen Beruf verfehlt. Und ich hab damals auch als Chef der Virologischen Abteilung nur ganz erfahrene Leute, handverlesen, damit arbeiten lassen. Und nach einiger Zeit wussten wir ja, wozu dieses Virus gehört, zu welcher Virusfamilie, den sogenannten Retroviren. Dann wussten wir auch, dass diese Viren zum Glück sehr labil sind. Die mögen keine hohe Temperatur und die mögen kein UV-Licht, auch nicht aus der Sonne. Trotzdem, bis heute gehen wir mit diesem Virus im Labor mit großem Respekt um. Denn man will sich natürlich nicht infizieren.
Brink: Das heißt, das war auch dann neben dem ganzen Schrecklichen, was in der Außenwahrnehmung war, auch als man diese Krankheitsbilder ja an den erkrankten Menschen sah, war es doch ein Thema, was Sie als Wissenschaftler fasziniert hat?
Kurth: Ja, natürlich. Und die Medien haben ja auch dieses Thema sehr eng begleitet. Es war für die hoch interessant. Es hat etwas zu tun mit Sexualität, mit Tod, mit Blut. Das ist, mit Verlaub zu sagen, für Medien immer interessant. Dann hat sich die Politik ja auch darum gekümmert. Und es gab auch aus Seiten der Wissenschaft Vorhersagen, wie sich die ganze Krankheit entwickeln würde, bis hin zu Katastrophenszenarien, die zum Glück in Deutschland und Europa nicht eingetreten sind, im Gegensatz zu anderen Ländern. Insofern war die Politik von Anfang an involviert.
Und dann möchte ich auch gerne gerade die jungen Zuhörer daran erinnern, dass es plötzlich so was wie ein Kulturkampf ausbrach. Nämlich die, jetzt mal ganz vereinfacht, die Konservativen, die mit dieser Krankheit anders umgehen wollten als die Liberalen, wie Frau Süßmuth, die die Krankheit bekämpfen wollte und nicht die Kranken, und dass sie das mit Erfolg getan hat, das wissen wir aus den heutigen Zahlen. Denn wir haben ja in Deutschland eine Insel der Seeligen, so schlimm jeder Einzelfall ist. Unsere Erkrankungsraten sind auch im westeuropäischen Vergleich relativ niedrig. Insgesamt, seit 1983, vielleicht 70.000 bis 80.000 Personen, was bei 80 Millionen Einwohnern wenig ist.
Brink: Ich erinnere mich nur damals an die Zeit in den 80er Jahren, als ja auch viel mit Diskriminierung gearbeitet worden ist. Sie haben es selbst schon angesprochen, und ich erinnere noch gut an diese Schlagzeilen in der "Bild-Zeitung", "Homoseuche". Das ging ja weiter, hat man vielleicht auch noch in Erinnerung, diesen Ausspruch von Gloria von Thurn und Taxis, da sterben die Leute an Aids, weil sie zu viel schnackseln, die Schwarzen. Es ist mit von unglaublichen Vorurteilen gegenüber Schwulen oder andersfarbigen Menschen eigentlich die Rede gewesen. Ist man da auf Sie als Virologe auch zugekommen und hat gefragt, was ist denn das eigentlich? Kann man da auch Klarheit reinbringen, in so eine Diskussion, als Wissenschaftler?
Kurth: Wir Wissenschaftler waren enorm gefragt, insbesondere die Wissenschaftler, die schwierige Sachverhalte, ohne sie zu verzerren, erklären können. Denn man wusste zum Beispiel ja gar nicht, wie das Virus übertragen wird. Durch Händeschütteln, durch Einatmen, durch Küssen, über die Toiletten oder sonst wie. Wir haben dann relativ schnell klarmachen können, das war so 84, 85, dass das Virus ja über Blut übertragen werden kann. Und wir mussten ja erst mal in Deutschland, wie in anderen Ländern, das Blutspendewesen sauber kriegen, dass keine Konserven mehr durchrutschen konnten, die HIV-positiv waren.
Und dann haben wir eindeutig doch klarmachen können, dass es "nur" sexuell übertragen wird, dass die übliche Kommunikation am Arbeitsplatz, in der Familie keine Gefährdung mit sich brachte. Nur, das den konservativen Kreisen klarzumachen, ich will jetzt keine Namen nennen, war gar nicht einfach. Es gab endlose Talkshows im Fernsehen, im Radio, wo wir Wissenschaftler gefragt waren. Und ich denke, wir Wissenschaftlicher haben in solchen Situationen auch eine enorme Bringschuld. Wir müssen das sagen, was wir wissen. Wir müssen es interpretieren, wir müssen allerdings auch sagen, was wir nicht wissen.
Brink: Wir sprechen mit Prof. Reinhard Kurth, er ist Virologe und bis 2007 Leiter des Berliner Robert-Koch-Institutes gewesen, anlässlich der ersten Publikation über das Aids-Virus vor 25 Jahren. Man sucht ja immer noch nach einem Impfstoff. Und Anfang der 80er Jahre, als das publiziert worden ist, kamen die ersten Schlagzeilen, die versprachen, alles kein Problem, in zwei Jahren haben wir einen.
Kurth: Auch die Wissenschaft ist voller Täuschung, insbesondere wenn Wissenschaftler als Propheten sich auf den Weg machen. 1984 wurde groß verkündet: 1986 haben wir einen Impfstoff. Und wir wissen vermutlich fast alle heute, dass wir im Jahre 2008 immer noch keinen Impfstoff haben. Und wir haben ihn nicht einmal so richtig in der Pipeline, wie wir das nennen.
Warum wir keinen Impfstoff haben? Ja, wenn ich da eine Antwort wüsste, dann wäre uns allen wohler. Wir wissen es nicht. Alle Kochrezepte, die für andere Viren oder für Bakterien zu guten Impfstoffentwicklungen geführt haben, haben bei HIV versagt. Und wir wissen nicht genau warum.
Wie geht es weiter? Geld spielt keine Rolle eigentlich auf diesem Forschungssektor. Sondern die Wissenschaftler stellen entweder die falschen Fragen, aber dann wissen wir alle nicht, wie die richtigen Fragen lauten. Oder wir müssen eines Tages, aber sicherlich noch nicht heute und morgen, konzedieren, dass gar gegen HIV kein Impfstoff möglich ist.
Noch gibt es, insbesondere in der Gentechnologie, Ansätze, die unbedingt ausprobiert werden sollten, ob sie zu einem Impfstoff führen. Das Geld dafür ist im Großen und Ganzen weltweit gesehen vorhanden. In wenigen Jahren werden wir wissen, ob einige dieser Ansätze zu einem Erfolg führen. Die Tatsache, dass wir bisher Misserfolg hatten, darf ja nicht zur Aufgabe verleiten. Wir haben auch gegen viele andere Erreger erst nach Jahrzehnten einen Impfstoff entwickeln können. Warum auch dann nicht gegen HIV?
Das Problem natürlich ist, dass Aids die größte medizinische Katastrophe der Neuzeit ist, das müssen wir uns immer wieder klarmachen. Nur vergleichbar mit dem Eindringen der Pest vor 650 Jahren nach Europa. Und schon aus diesem Grunde dürfen wir mit dem Versuch der Impfstoffentwicklung nicht aufhören.
Brink: Der Hamburger Aidsexperte Jan van Lunzen sagt, es wäre schon ein Erfolg, wenn wir die Wahrscheinlichkeit einer Infektion senken könnten. Wie ernüchternd sind denn solche Aussagen für Sie?
Kurth: Wir sind schon sehr bescheiden geworden im Laufe der letzten Jahre. Wenn wir zum Beispiel die Infektionsrate ungefähr um 50 Prozent senken könnten, dann wären wir sehr zufrieden. Die heutigen Impfstoffe verhindern Krankheit in 95 bis 98 Prozent. Wir wären mit 50 Prozent zufrieden.
Brink: Haben Sie denn dann eine Hoffnung, dass es einen Impfstoff geben wird? Oder warum ist es denn so unglaublich schwierig? Für Laien wahrscheinlich schwer zu verstehen.
Kurth: Wenn ich keine Hoffnung hätte, würde ich ja auch mit meinen Leuten aufhören, dran zu arbeiten. Wir arbeiten ja auch dran und haben auch neuartige gentechnische Ansätze, die wir unbedingt ausprobieren wollen in den nächsten Monaten und zwei, drei Jahren. Das heißt, die Hoffnung stirbt immer zuletzt, auch in der Wissenschaft. Und wir haben auch eine sittliche Verpflichtung, hier weiterzumachen.
Wir sollten aber mit einem Satz auch erwähnen, dass die Medikamentenforschung bei HIV einen einzigartigen Erfolg darstellt. Wir können diese Personen, die Infizierten, heute erfolgreich über viele Jahre, wahrscheinlich Jahrzehnte behandeln. Aber alle Experten sind sich einig. Das Problem Aids kriegen wir nur aus der Welt durch eine konsequente, effektive, preiswerte Impfung, und die haben wir im Moment nicht.
Brink: Vielen Dank, Prof. Reinhard Kurth! Er ist Virologe, bis 2008 Leiter des Berliner Robert-Koch-Instituts gewesen, und wir sprachen mit ihm über die erste Publikation, die das Aids-Virus bekannt gemacht hat, und zwar war das am 20. Mai 1983.
Prof. Reinhard Kurth: Schönen guten Morgen, Frau Brink!
Brink: Sie sind ja nun ein Mann der ersten Stunde. Wussten Sie denn, als Sie jene Publikation in der Fachzeitung "Science" lasen, wie bahnbrechend die ist?
Kurth: Zunächst hatten wir nur einen Verdacht, dass das, was in dieser Publikation aus Paris gezeigt wurde, richtig gezeigt wurde. Da wurde ein Virus gezeigt im Elektronenmikroskop. Aber ich muss auch gestehen, die Wissenschaftler waren skeptisch, ob wirklich das der Erreger ist. Wir wussten ja 1983 nur, dass seit Kurzem, seit 1980 etwa, eine neue Infektionskrankheit um die Welt ging, insbesondere bei schwulen Männern. Und kurz danach haben wir feststellen müssen auch bei Bluterkrankheiten und bei Bluterkranken. Wir wussten aber nicht, was dahintersteckt.
Und hektisch ging die Suche los, was es sein könnte: ein Bakterium, ein Pilz, ein Virus? Und Luc Montagnier, der Chef der Pariser Gruppe, hat dann diesen Stein ins Wasser geworfen und hat gesagt, ich glaube, das ist ein Virus, und ich glaube, das ist ein sogenanntes Retrovirus. Und im Nachhinein hat er recht gehabt. Aber 1983 war die wissenschaftliche Community, wie wir das salopp nennen, eher skeptisch. 1984 kamen dann weitere Publikationen, insbesondere aus den USA auf dem Markt, und dann wurde es doch überzeugend, dass ein sogenanntes HIV, ein Virus, hinter dieser fürchterlichen Krankheit steckt.
Brink: Was haben Sie denn vermutet?
Kurth: Wir haben genauso am Paul-Ehrlich-Institut in Frankfurt gesucht und in der Zeit nichts Richtiges gefunden, was uns überzeugt hätte. Dann, weil wir mit den Viren umgehen konnten, die gab es ja schon im Tier, haben wir sehr schnell innerhalb von Wochen doch gezeigt, dass die französische Gruppe recht hat oder sehr wahrscheinlich recht hat. Man kann ja keine Menschenversuche machen, irgendjemandem so einen Virus spritzen und gucken, ob er krank wird. Und vermutet wurde alles, es wurden auch Gifte, Poppers, Rauschgifte vermutet, bis dann doch geklärt wurde von der Gruppe von Herrn Gallo in Amerika und Luc Montagnier in Paris, dass HIV eben HIV ist, der Erreger von Aids.
Brink: Hatten Sie denn als Wissenschaftler überhaupt eine Vorstellung, wie man mit diesem Thema umgeht oder wie unheimlich das eigentlich wird?
Kurth: Es war natürlich ein bisschen riskant, dann mit dem Blut der erkrankten Menschen zu experimentieren. Wir hatten auch kein Tiermodell, wir haben bis heute kein Tiermodell dafür, und im Labor haben wir natürlich die höchsten Sicherheitsmaßnahmen ergriffen, die denkbar waren.
Brink: Ich kann mir vorstellen, das hätte auch Ängste bei Ihnen ausgelöst?
Kurth: Ja, nun gut. Als Wissenschaftler und als Virologe muss man schon ein paar Risiken in Kauf nehmen, sonst hat man seinen Beruf verfehlt. Und ich hab damals auch als Chef der Virologischen Abteilung nur ganz erfahrene Leute, handverlesen, damit arbeiten lassen. Und nach einiger Zeit wussten wir ja, wozu dieses Virus gehört, zu welcher Virusfamilie, den sogenannten Retroviren. Dann wussten wir auch, dass diese Viren zum Glück sehr labil sind. Die mögen keine hohe Temperatur und die mögen kein UV-Licht, auch nicht aus der Sonne. Trotzdem, bis heute gehen wir mit diesem Virus im Labor mit großem Respekt um. Denn man will sich natürlich nicht infizieren.
Brink: Das heißt, das war auch dann neben dem ganzen Schrecklichen, was in der Außenwahrnehmung war, auch als man diese Krankheitsbilder ja an den erkrankten Menschen sah, war es doch ein Thema, was Sie als Wissenschaftler fasziniert hat?
Kurth: Ja, natürlich. Und die Medien haben ja auch dieses Thema sehr eng begleitet. Es war für die hoch interessant. Es hat etwas zu tun mit Sexualität, mit Tod, mit Blut. Das ist, mit Verlaub zu sagen, für Medien immer interessant. Dann hat sich die Politik ja auch darum gekümmert. Und es gab auch aus Seiten der Wissenschaft Vorhersagen, wie sich die ganze Krankheit entwickeln würde, bis hin zu Katastrophenszenarien, die zum Glück in Deutschland und Europa nicht eingetreten sind, im Gegensatz zu anderen Ländern. Insofern war die Politik von Anfang an involviert.
Und dann möchte ich auch gerne gerade die jungen Zuhörer daran erinnern, dass es plötzlich so was wie ein Kulturkampf ausbrach. Nämlich die, jetzt mal ganz vereinfacht, die Konservativen, die mit dieser Krankheit anders umgehen wollten als die Liberalen, wie Frau Süßmuth, die die Krankheit bekämpfen wollte und nicht die Kranken, und dass sie das mit Erfolg getan hat, das wissen wir aus den heutigen Zahlen. Denn wir haben ja in Deutschland eine Insel der Seeligen, so schlimm jeder Einzelfall ist. Unsere Erkrankungsraten sind auch im westeuropäischen Vergleich relativ niedrig. Insgesamt, seit 1983, vielleicht 70.000 bis 80.000 Personen, was bei 80 Millionen Einwohnern wenig ist.
Brink: Ich erinnere mich nur damals an die Zeit in den 80er Jahren, als ja auch viel mit Diskriminierung gearbeitet worden ist. Sie haben es selbst schon angesprochen, und ich erinnere noch gut an diese Schlagzeilen in der "Bild-Zeitung", "Homoseuche". Das ging ja weiter, hat man vielleicht auch noch in Erinnerung, diesen Ausspruch von Gloria von Thurn und Taxis, da sterben die Leute an Aids, weil sie zu viel schnackseln, die Schwarzen. Es ist mit von unglaublichen Vorurteilen gegenüber Schwulen oder andersfarbigen Menschen eigentlich die Rede gewesen. Ist man da auf Sie als Virologe auch zugekommen und hat gefragt, was ist denn das eigentlich? Kann man da auch Klarheit reinbringen, in so eine Diskussion, als Wissenschaftler?
Kurth: Wir Wissenschaftler waren enorm gefragt, insbesondere die Wissenschaftler, die schwierige Sachverhalte, ohne sie zu verzerren, erklären können. Denn man wusste zum Beispiel ja gar nicht, wie das Virus übertragen wird. Durch Händeschütteln, durch Einatmen, durch Küssen, über die Toiletten oder sonst wie. Wir haben dann relativ schnell klarmachen können, das war so 84, 85, dass das Virus ja über Blut übertragen werden kann. Und wir mussten ja erst mal in Deutschland, wie in anderen Ländern, das Blutspendewesen sauber kriegen, dass keine Konserven mehr durchrutschen konnten, die HIV-positiv waren.
Und dann haben wir eindeutig doch klarmachen können, dass es "nur" sexuell übertragen wird, dass die übliche Kommunikation am Arbeitsplatz, in der Familie keine Gefährdung mit sich brachte. Nur, das den konservativen Kreisen klarzumachen, ich will jetzt keine Namen nennen, war gar nicht einfach. Es gab endlose Talkshows im Fernsehen, im Radio, wo wir Wissenschaftler gefragt waren. Und ich denke, wir Wissenschaftlicher haben in solchen Situationen auch eine enorme Bringschuld. Wir müssen das sagen, was wir wissen. Wir müssen es interpretieren, wir müssen allerdings auch sagen, was wir nicht wissen.
Brink: Wir sprechen mit Prof. Reinhard Kurth, er ist Virologe und bis 2007 Leiter des Berliner Robert-Koch-Institutes gewesen, anlässlich der ersten Publikation über das Aids-Virus vor 25 Jahren. Man sucht ja immer noch nach einem Impfstoff. Und Anfang der 80er Jahre, als das publiziert worden ist, kamen die ersten Schlagzeilen, die versprachen, alles kein Problem, in zwei Jahren haben wir einen.
Kurth: Auch die Wissenschaft ist voller Täuschung, insbesondere wenn Wissenschaftler als Propheten sich auf den Weg machen. 1984 wurde groß verkündet: 1986 haben wir einen Impfstoff. Und wir wissen vermutlich fast alle heute, dass wir im Jahre 2008 immer noch keinen Impfstoff haben. Und wir haben ihn nicht einmal so richtig in der Pipeline, wie wir das nennen.
Warum wir keinen Impfstoff haben? Ja, wenn ich da eine Antwort wüsste, dann wäre uns allen wohler. Wir wissen es nicht. Alle Kochrezepte, die für andere Viren oder für Bakterien zu guten Impfstoffentwicklungen geführt haben, haben bei HIV versagt. Und wir wissen nicht genau warum.
Wie geht es weiter? Geld spielt keine Rolle eigentlich auf diesem Forschungssektor. Sondern die Wissenschaftler stellen entweder die falschen Fragen, aber dann wissen wir alle nicht, wie die richtigen Fragen lauten. Oder wir müssen eines Tages, aber sicherlich noch nicht heute und morgen, konzedieren, dass gar gegen HIV kein Impfstoff möglich ist.
Noch gibt es, insbesondere in der Gentechnologie, Ansätze, die unbedingt ausprobiert werden sollten, ob sie zu einem Impfstoff führen. Das Geld dafür ist im Großen und Ganzen weltweit gesehen vorhanden. In wenigen Jahren werden wir wissen, ob einige dieser Ansätze zu einem Erfolg führen. Die Tatsache, dass wir bisher Misserfolg hatten, darf ja nicht zur Aufgabe verleiten. Wir haben auch gegen viele andere Erreger erst nach Jahrzehnten einen Impfstoff entwickeln können. Warum auch dann nicht gegen HIV?
Das Problem natürlich ist, dass Aids die größte medizinische Katastrophe der Neuzeit ist, das müssen wir uns immer wieder klarmachen. Nur vergleichbar mit dem Eindringen der Pest vor 650 Jahren nach Europa. Und schon aus diesem Grunde dürfen wir mit dem Versuch der Impfstoffentwicklung nicht aufhören.
Brink: Der Hamburger Aidsexperte Jan van Lunzen sagt, es wäre schon ein Erfolg, wenn wir die Wahrscheinlichkeit einer Infektion senken könnten. Wie ernüchternd sind denn solche Aussagen für Sie?
Kurth: Wir sind schon sehr bescheiden geworden im Laufe der letzten Jahre. Wenn wir zum Beispiel die Infektionsrate ungefähr um 50 Prozent senken könnten, dann wären wir sehr zufrieden. Die heutigen Impfstoffe verhindern Krankheit in 95 bis 98 Prozent. Wir wären mit 50 Prozent zufrieden.
Brink: Haben Sie denn dann eine Hoffnung, dass es einen Impfstoff geben wird? Oder warum ist es denn so unglaublich schwierig? Für Laien wahrscheinlich schwer zu verstehen.
Kurth: Wenn ich keine Hoffnung hätte, würde ich ja auch mit meinen Leuten aufhören, dran zu arbeiten. Wir arbeiten ja auch dran und haben auch neuartige gentechnische Ansätze, die wir unbedingt ausprobieren wollen in den nächsten Monaten und zwei, drei Jahren. Das heißt, die Hoffnung stirbt immer zuletzt, auch in der Wissenschaft. Und wir haben auch eine sittliche Verpflichtung, hier weiterzumachen.
Wir sollten aber mit einem Satz auch erwähnen, dass die Medikamentenforschung bei HIV einen einzigartigen Erfolg darstellt. Wir können diese Personen, die Infizierten, heute erfolgreich über viele Jahre, wahrscheinlich Jahrzehnte behandeln. Aber alle Experten sind sich einig. Das Problem Aids kriegen wir nur aus der Welt durch eine konsequente, effektive, preiswerte Impfung, und die haben wir im Moment nicht.
Brink: Vielen Dank, Prof. Reinhard Kurth! Er ist Virologe, bis 2008 Leiter des Berliner Robert-Koch-Instituts gewesen, und wir sprachen mit ihm über die erste Publikation, die das Aids-Virus bekannt gemacht hat, und zwar war das am 20. Mai 1983.