Die Grenzen des Vertrauens

Reemtsma irritiert mit seiner Studie, weil er Gewalt und Vertrauen zusammendenkt. Er richtet seine Aufmerksamkeit nicht allein auf die Exzesse von Gewalt, sondern seine Untersuchung zum Phänomen von Gewalt basiert auf der Kategorie des Vertrauens. Wie viel Vertrauen darf, wie viel Skepsis muss sein? Diese Frage verliert er in seinem anregenden Buch nicht aus den Augen.
Am Beginn von Vertrauen und Gewalt steht ein Satz aus Walter Kempowskis Roman Tadellöser & Wolff: "Wie isses nun bloß möglich!". Der Satz bündelt in der zum Ausdruck gebrachten Verwunderung jenes fragende und zugleich fragwürdige Staunen, auf das der geschäftsführende Vorstand des Hamburger Instituts für Sozialforschung und Professor für neuere deutsche Literatur an der Universität Hamburg, Jan Philipp Reemtsma, in seinem Buch "Vertrauen und Gewalt" eine Antwort sucht.

Es muss etwas passiert sein, dass ganz normale Familienväter während der NS-Zeit zu Mördern werden konnten, ohne dass sie Schuldgefühle geplagt hätten – ganz selbstverständlich wendeten sie sich nach getaner "Arbeit" in liebevoller Zärtlichkeit familiären Belangen zu. Dass wir darüber heute schockiert sind und uns wundern, zeigt, dass eine Verschiebung in der Legitimation von Gewalt stattgefunden hat. Was damals in Deutschland sanktionierte Normalität war, unterliegt heute der staatlichen Ächtung. Das "Normale" ist nicht ein für alle Male definiert, sondern jede Gesellschaft formuliert, was sie darunter verstanden wissen will.

Die ganz "normalen" Familienväter haben darauf vertraut, im Recht zu sein, da sie sich in Übereinkunft mit der Rechtsordnung befanden. Wir wissen heute, dass Misstrauen das bessere Vertrauen gewesen wäre. Reemtsma macht deutlich, dass "Misstrauen nicht das Gegenteil von Vertrauen" ist, sondern Misstrauen und Vertrauen sind "komplementäre Modi […] unseres Befindens in der Welt, die demselben Ziel dienen: der Reduktion der Erwartungsunsicherheit." Es geht nicht ohne ein gewisses Grundvertrauen, aber blindes Vertrauen ist sträflich.

Jan Philipp Reemtsma hat eine beeindruckende, sehr anschaulich geschriebene Studie vorgelegt, von der etwas Irritierendes ausgeht, weil er Gewalt und Vertrauen zusammendenkt. Er richtet seine Aufmerksamkeit nicht allein auf die Exzesse von Gewalt, die es in der Geschichte gegeben hat und die er durch Beispiele belegt, sondern seine Untersuchung zum Phänomen von Gewalt basiert auf der Kategorie des Vertrauens.

Wie viel Vertrauen darf, wie viel Skepsis muss sein? Diese Frage verliert Reemtsma in seinem Buch nicht aus den Augen, wobei er Hobbes‘ Leviathan einen zentralen Stellenwert einräumt. Hobbes hat dem Gründungsdokument der modernen Staatstheorie die Überzeugung eingeschrieben, dass es notwendig ist, einen Staat zu schaffen, weil sonst das Morden und gegenseitige Übervorteilen kein Ende nimmt. Der Einzelne wird diszipliniert, indem er sich einem künstlichen Apparat anvertraut, der mit Gewalt droht, um noch größere Gewalt zu unterbinden.

Diese Drohung würde genügen, so Hobbes‘ Überzeugung, um den Einzelnen dazu zu bringen, auf willkürliche Gewaltanwendung gegenüber seinen Mitmenschen zu verzichten, da er in Frieden leben will. Frieden aber garantiert nur der Staat, weshalb es vernünftig ist, sich für ihn zu entscheiden. Hobbes fordert deshalb vom Einzelnen Vertrauen.

Reemtsma, der weiß, wie Vertrauen in den mehr als 350 Jahren seit dem Erscheinen von Hobbes Leviathan 1651 gerade durch staatliche Willkür missbraucht wurde, verweist auf die Notwendigkeit von Misstrauen. Äußerst überzeugend macht er deutlich, dass das Entgegenbringen von Vertrauen auf einer subjektiven Entscheidung basiert. Da aber Vertrauen missbraucht werden kann, ist es unabdingbar, Misstrauen wachzuhalten, um ausgesprochenes Vertrauen gegebenenfalls wieder zu entziehen.

Angesichts von Gulag, Auschwitz und Hiroshima ist das Staunen darüber, dass sich so "etwas" im 20. Jahrhundert ereignen konnte, kein philosophisches Staunen. Reemtsma erteilt in seinem äußerst anregenden, hochgradig aktuellen und sehr profunden Buch nicht dem Staunen eine Abfuhr, sondern er grundiert es – durchaus im Sinne Walter Benjamins – philosophisch. Besonders ist hervorzuheben, dass dieses Buch als unverzichtbare Basis ansehen muss, wer sich in den nächsten Jahren dem Phänomen des Vertrauens zuwendet.

Rezensiert von Michael Opitz

Jan Philipp Reemtsma, Vertrauen und Gewalt,
Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne,
Hamburg Edition, Hamburg 2008,
576 Seiten, 30 Euro.